Ostergruss

Aus dem 3. oder 4. nachchristlichen Jahrhundert stammt eine jetzt publizierte Papyrushandschrift, die in koptischer Übersetzung aus dem Griechischen einen Text enthält, in dem Spezialisten verschiedener Disziplinen das Evangelium des Judas zu erkennen glauben. Die als Sensation gerade rechtzeitig zu Ostern kolportierte Entdeckung lässt Judas in völlig neuem Licht erscheinen, nicht als Verräter nämlich, sondern als erster und letzter Vertrauter Jesu, der als einziger Jünger das Heilsgeschehn begreift. Judas wird demnach keineswegs durch Bestechung zum Verräter, vielmehr handelt er in Jesu Auftrag, der den Verrat und dann auch das mörderische Martyrium braucht, um seine Gottwerdung zu vollenden – nur als Toter wird er auferstehn können, nur als Opfer kann er seine Göttlichkeit bezeugen.
Diese Lesart der Passionsgeschichte kommt mir durchaus plausibel vor. Nie hat mir einleuchten wollen, dass Judas nach langem treuem Jüngertum den Meister für ein paar Silberlinge verraten und verkauft habe, und schon gar nicht, dass Jesus, der doch auch Petrus, den mürben Fels, durchschaut hat, sich von Judas hätte täuschen lassen.
Alles muss allen klar gewesen sein. Deshalb konnten die Jünger im Garten Gethsemane den Schlaf der Gerechten wie auch der Ungerächten schlafen und den Dingen ihren vorbestimmten Lauf lassen.
Nur Petrus hat mit seinem unbedarften dreimaligen Lügen das Setting gestört, hat mit seiner Furcht, seinem Zittern die Passionsgeschichte vermenschlicht und entsprechend banalisiert. Dennoch – vielleicht deshalb? – durfte er zum Grundstein der christlichen Kirche werden.
Dass anderseits Judas als Verräter, und nicht als Vollstrecker des göttlichen Plans in Erinnerung geblieben ist, hat die bekannten fatalen Folgen gehabt. Parasitentum, Verrat, Geldgier, Eigennutz sind – weit über die damalige Denunziation hinaus – zu Stereotypien des Antisemitismus geworden und haben als solche die göttliche Heilsgeschichte durch eine allzu menschliche Unheilsgeschichte verschattet.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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