SMS

«Essemesseln» hat sich rasch als eine neue Geste des Schreibens etabliert, ist weltweit zu einer alltäglichen Kommunikationsform geworden und wird bereits auch – was mehrere einschlägige Anthologien in diversen Sprachen belegen – von literarisch ambitionierten Autoren zur Textproduktion eingesetzt. Nicht durch neue Möglichkeiten und Freiheiten von Kundgabe oder Verständigung erweist sich SMS für die Dichtung als attraktiv, vielmehr, umgekehrt, durch die massive umfangmässige Einschränkung der übermittelbaren Nachricht. Ein ins Short Message System eingespeister Text darf bekanntlich nicht mehr als 160 Zeichen umfassen, und wer «essemesselt», ist deshalb bemüht, sich kurzzufassen beziehungsweise möglichst viele Abkürzungen zu verwenden. Aus solchem Bemühn hat sich inzwischen ein spezifisches SMS-Idiom entwickelt, zu dessen Charakteristika die radikale Wort- und Satzfragmentierung gehört.
Bezieht man den zugelassnen Höchstumfang einer SMS-Nachricht auf die anerkannten Textsorten der sogenannten schönen Literatur, so kommen dafür – ausser lyrischen Miniaturen aller Art – Distichen und Epigramme, Tankas und Haikus in Frage, aber auch versifizierte Merk- oder Grabsprüche und sprachkünstlerische Spielformen wie das Anagramm, das Palindrom, der Kalauer.
Nicht anders als der gewöhnliche SMS-User hat der SMS-Dichter das Bestreben (oder auch bloss die Tendenz), mit möglichst wenig Wortaufwand möglichst viel zu «sagen» – anzusprechen, anzudeuten, anzuregen. Dass die Würze am besten in der Kürze zur Wirkung kommt, weiss der Volksmund ebenso wie der Aphoristiker oder der Werbetexter.
In poetologischem Verständnis ist Kürze – je klarer sie vorgegeben wird – ein Zwang, eine formale Disziplinierung, die freilich nicht nur einschränkt, sondern auch, wie Paul Valéry einst festhielt, «das gute Gelingen der Absicht des Dichters begünstigt». Die Einschränkung der dichterischen Freiheiten aktiviert demnach die Einbildungskraft, Formzwang soll die Erkundung und Erschliessung neuer, noch ungenutzter Freiräume fördern.
Wenn nun ein Text, ob blosse Nachricht oder lyrisches Gedicht, umfangmässig auf eine relativ geringe Zeichenzahl beschränkt wird, wie es beim SMS der Fall ist, wirkt sich der Zwang, im Un
terschied etwa zum präzisen Regelwerk eines klassischen Sonetts, bloss auf die Textmenge, mithin rein quantitativ aus.
Doch naturgemäss schliesst das Postulat der Kürze, gerade wegen seiner allgemeinen Geltung, zahlreiche Strophen- oder Gedichtformen grundsätzlich aus, und es steht auch einem Grossteil heutiger Lyrik entgegen, die bekanntlich stark zum Narrativen, Deskriptiven, Reflexiven und damit eher zum Langgedicht neigt. Ein Blick zurück in die Dichtungsgeschichte macht aber deutlich, dass mit dem SMS-Format ein guter Teil deutschsprachiger Poesie aus den vergangenen zwei Jahrhunderten kompatibel ist, sich also per Handy integral versenden und empfangen liesse. Darunter finden sich Kurzgedichte von Eichendorff und Greta Granderath, von Mörike und Uwe Tellkamp, von Hofmannsthal und Walle Sayer, von Brecht und Gabriele Trinckler, von Artmann und Augusta Laar, von Heissenbüttel und Thomas Klees …
In zeitgenössischen SMS-Gedichten wird, soweit sich dies bisher übersehn lässt, dem Zwang zur Kürze nicht eben viel an poetischem Kapital abgewonnen. Blödelei und Spielerei überwiegen deutlich den Willen zur Recherche oder zum Experiment mit dem vorgegebenen Format. Die Thematik bleibt, wo eine solche überhaupt zu erkennen ist, mehrheitlich ebenso konventionell wie die Metaphorik, unterscheidet sich jedenfalls kaum von herkömmlicher Lyrik.
Hauptsächlicher Impuls und Gegenstand des Dichtens ist auch im Sendebereich von 160 Zeichen die Liebe, als deren häufigste Kulisse nach wie vor der Himmel figuriert und die auch weiterhin reflexartig assoziiert wird mit Herz und Schmerz, mit Haut und Haar, «mit Brüsten und Beinen / und drum und dran». Oder, fröhlich kalauernd, so: «Er sie / Es lenzt / Alle / Vögeln / Sind schon da / Alle / Vögeln / Alle.» – Auch Abschied und Trennung lassen sich SMS-kompatibel festhalten: «Minusgrade und / dein Schweigen. Bald führt kein Weg / mehr von Mund zu Mund.»
Nicht nur Gefühliges, auch Gedankliches vermag das Kurzgedicht in komprimierter Form zu vergegenwärtigen, wobei es sich 
bald dem Aphorismus, bald dem Epigramm annähert. Auf spruchhafte SMS-Texte, changierend zwischen gut gemeintem Rat, unbedarfter Vertraulichkeit und dreister Behauptung, trifft man zuhauf; nebst viel Banalem («Osterhasen her! / es ostert sehr», «Tote Hose / im toten Hemd», «freude ist ein boot / mit einem loch / in einem meer / aus höflichkeit» usf.) gibt es auch jäh Aufblitzendes und Einleuchtendes: «Schön auch nackte Nächte / nicht immer wollen Sterne Menschen sehn.» Oder: «Einsamkeit / ist nur wo nicht / nichts ist. Sondern mehr als / ich.»
Dass einige der vollkommensten Gedichte deutscher Sprache, von Walther von der Vogelweide über Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Nietzsche bis hin zu Ernst Jandl, dem miniaturisierten elektronischen Format zwanglos gerecht werden, sollte für heutige SMS-Dichter gleichermassen anregend und abschreckend sein.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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