Sprachlautkunst

Zu den radikalsten poetologischen Statements der europäischen Moderne gehört ein noch kaum rezipierter Text Über Dichtung, den der Bildkünstler Kasimir Malewitsch, Begründer und Propagator des russischen Suprematismus, kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Sankt Petersburg hat erscheinen lassen. Für Malewitsch steht fest, dass die «wahre», die «reine» Poesie sich als Klangereignis – befreit von der Konventionalität des Bedeutens – vollziehen muss und dass folglich allein der «Rhythmus», das «Tempo», die «Lautlichkeit» für die dichterische Rede konstitutiv sind. Nicht an der literarischen Überlieferung, auch nicht an ausserliterarischen Problemen und Sujets habe der Dichter sich zu orientieren, vielmehr sollten für ihn alltägliche Lautgebärden wie der Schrei oder der Seufzer vorbildhaft sein, spontane menschliche Kundgaben mithin, bei denen Ausdruck und Bedeutung ineins fallen, so dass jegliche interpretative Bemühung – der Übertragungsvorgang des Verstehens – sich erübrigt.
Malewitsch hat seine Thesen zur Wiedergewinnung eines urtümlichen poetischen Sprechens durch eigene lautpoetische Versuche exemplifiziert, unter anderm durch ein Kurzgedicht wie dieses:

Kor re resh shi kon
ikanon si re dual
milo.

Zu verstehen, zu übersetzen ist dieses Gedicht nicht – der Verzicht auf gebräuchliche Wörter und allgemein verständliche Sätze, über deren Bedeutung man sich einigen könnte, ist Voraussetzung dafür, dass das verwendete Sprachmaterial in seiner ausschliesslich ästhetischen, mithin sinnlichen Qualität – visuell als Schriftbild, auditiv als Klangphänomen – wahrgenommen werden kann. Diese doppelte Qualität bewirkt auch, dass Lautpoesie und visuelle Dichtung trotz ihrer phänomenalen Unterschiedlichkeit einander oftmals nicht nur ergänzen, sondern geradezu bedingen. Der gedruckte, als Sprechvorlage konzipierte Text hat die Funktion einer Partitur zu erfüllen und wird dementsprechend typographisch eingerichtet, so dass (beispielsweise) betonte Silben in Grossbuchstaben oder Fettsatz erscheinen, dass Tonhöhen oder Pausen mit Sonderzeichen markiert werden o.ä.m.
Nicht selten werden onomatopoetische Lautgedichte, die z.B. mechanische Geräusche oder Tierstimmen vergegenwärtigen sollen, zu eigentlichen Textbildern ausgestaltet, in denen schriftsprachliche Versatzstücke (Einzelbuchstaben oder Buchstabengruppen) etwa eine explodierende Bombe oder ein gackerndes Huhn analog vor Augen führen.
Der russische Dichter Konstantin Waginow hat die Austreibung des Sinns aus der Sphäre des Klangs als eine Chance zu neuer Sinnbildung – «Sinngebung des Sinnlosen» – begriffen. Der hauptsächliche kritische Vorbehalt gegenüber lautpoetischen Texten bezieht sich bekanntlich noch heute auf deren «Sinnleere» oder den «Bedeutungsentzug», der die Sprache zum schieren «Wortgeklingel» verkommen lasse. In seinem absurdistischen Künstlerroman Bocksgesang von 1928 schreibt Waginow: «Der Mensch ist allseits von Sinnlosigkeit umzingelt. Man hat eine bestimmte Kombination von Wörtern aufgezeichnet, ein sinnloses 
Wortgeklingel, rhythmisch geordnet, man muss es genau betrachten, muss sich hineinfühlen in dieses Wortgeklingel; lässt sich aus ihm nicht ein neues Bewusstsein der Welt heraushören?..»
Dass Lautgedichte von Chlebnikow oder Marinetti, von Isidor Isou oder Ernst Jandl gleichrangig und gleichartig neben vorliterarischen Zaubersprüchen und Gebeten, aber auch neben einschlägigen Texten von Rabelais, Matthias Claudius oder Friedrich Nietzsche stehen können, erklärt sich aus dem ihnen zugrunde liegenden gemeinsamen Sprachverständnis: Lautpoesie ist Sprachkunst pur, folgt und unterliegt – ob in Latein, in Althochdeutsch, in Portugiesisch oder Russisch – stets den gleichen Gesetzmässigkeiten und Verfahren, erbringt demzufolge auch immer wieder, bei aller formalen Diversität, ähnliche klangliche Konstellationen. Homophonien, Anagramme, Onomatopoesien sowie kombinatorische oder permutative Lautbildungsverfahren jeglicher Art sind in noch so unterschiedlichen Sprachen gleichermassen möglich und lassen sich inner- wie zwischensprachlich auch gleichermassen realisieren. Dort allerdings, wo die Lautdichtung – sei’s durch unwillkürliche Assoziation, sei’s mit willkürlichem Bedacht – die Bedeutungsebene ins Spiel bringt und also mit Signifikanten operiert, ist man sogleich auf den Wortbestand (und das Wörterbuch) einer bestimmten Einzelsprache verwiesen und hat sich der Herausforderung eines Verstehens zu stellen, das nicht mehr das Sagen, sondern das Gesagte zum Gegenstand hat.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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