Blut

»An welchem bevorzugten Ort der Erde und des Geistes?« (E. J.) 

Ende September … Nochmals für ein paar Tage nach C …
… ist wie immer um diese Jahreszeit an den öffentlichen Gebäuden des Dorfs in Dutzenden von Exemplaren der Aufruf des Präfekten zum »Tag des Bluts« ausgehängt, JOURNEE DU SANG, in großen Lettern rot auf weiß gedruckt. Spendet Blut! Wie üblich. Doch was? Die Leute scheinen mich nicht mehr zu kennen, sie grüßen kaum. Die meisten Ladengeschäfte sind ohne Angabe von Gründen geschlossen oder werden bloß am frühen Vormittag, für jeweils zwei Stunden, geöffnet. Da ich erst gegen zwölf Uhr angekommen bin, muß ich wohl, um einzukaufen, hinüber ins Nachbardorf fahren. Zurück also zum Parkplatz. Doch wie? Statt der unermüdlichen Petanque-Spieler, welche hier, auf dem schmalen Sandstreifen zwischen den kreuz und quer abgestellten Wagen, nach undurchschaubaren Regeln ihre Stahlkugeln zu schieben oder in flachem Bogen zu schleudern pflegen …
… stehen mir plötzlich ein paar Dutzend Dorfbewohner gegenüber und fixieren mich mit schlimmem Blick. Doch sogleich beugen sie sich wieder über die wohl eigens herbeigeschafften riesigen Blechnäpfe, aus denen sie mit hohler Hand die Asche scheffeln, welche sie einander – oder auch sich selbst – auf die Schultern streuen. Ja! Ich erinnere mich jetzt. Sie alle wollen sich der freiwilligen Marter unterwerfen, sich in Gruppen umbringen und auf jede erdenkliche Weise verstümmeln. Schon setzt sich die Springprozession in Bewegung; Kinder und ihre Mütter, Bauern und Handwerker aus dem Dorf,ja sogar Nonnen aus dem nahegelegenen Kloster von Notre-Dame-de-Vie schließen sich ihr an hüpfen schweigend mit, und bereits scheinen sie der Wirklichkeit nicht mehr anzugehören. Immer mehr Menschen, zumeist Männer in langen weißen Hemden, gliedern sich in den Umzug ein; ihre grob geschnittene Verkleidung läßt nur Hals und Hände frei. Henker? Nein, es sind ihrer schon zuviele. Opfer vielleicht? Doch wer hätte sie angeklagt – wofür? – und verurteilt – wozu? Unter aufmunternden Zurufen händigen ihnen nun, da die Prozession wieder ins Dorf einschwenkt, die wartenden Frauen Messer und Sicheln aus. Die Männer beginnen sich tänzelnd um sich selber zu drehen und schwingen die Werkzeuge (die Waffen?), die man ihnen zugesteckt hat, über ihrem Kopf. Bereits übertönen ihre Schreie die der Masse. Sie wollen, sie müssen jetzt in einen Zustand von Katalepsie geraten. Mit den mechanischen, eher wippenden als stapfenden Schritten von Marionetten oder Automaten gehen sie vor, treten zurück, springen zur Seite, und offenbar folgen sie dabei gewissen Regeln, die aber für den Außenstehenden – für mich – undurchschaubar bleiben. Bei jedem Schritt, im Takt, stechen und schlagen sie sich mit ihren Klingen. Das Blut fließt ihnen ins Gesicht, schießt ihnen aus dem Maul. Die Hemden färben sich rot. Schon brechen einige dieser freiwilligen Opfer – was hat dieses Blutvergießen mit jener Blutspendeaktion zu schaffen? – tot zusammen. In ihrer Raserei trennen sie sich Venen und Arterien durch, bevor die nun plötzlich aus allen Gassen herbeieilenden bewaffneten Ordnungskräfte eingreifen können. Erst jetzt fällt mir übrigens auf, daß in mehreren Läden, hinter den herabgelassenen Staren, ambulante Pflegestationen für die erste medizinische Hilfeleistung bereitgestellt sind. Die Masse aber, unempfindlich geworden für die Schläge der Jäger und Hüter, schließt sich über den Uniformierten zusammen, nimmt sie in sich auf und schleppt sie in einen andern Teil des Dorfs wo sich das Blutbad fortsetzt. Nicht ein Mensch – ausgenommen, vielleicht, jener Ausländer – bleibt bei klarem Bewußtsein. Wer für sich selbst nicht den Mut hat, sein oder mein Blut zu vergießen, bietet den andern Kola zur Stärkung an und reizt sie zugleich mit unartikulierten Schreien weiter auf. Hin und wieder entsteht im Umzug eine Lücke, noch ein Exaltierter fällt erschöpft zu Boden. Die Lücke schließt sich sofort, die Menge steigt über den Verlorenen hinweg, tritt ihn mit Füßen und hat ihn auch schon vergessen. Milizionäre und Sanitäter, die sich der Verletzten annehmen und die öffentliche Ordnung aufrechterhalten sollen, werden von der Erregung der Masse gepackt und mitgerissen. Sie entledigen sich ihrer Dienstverkleidungen, stürzen sich selber ins Blutbad …
… und so weiter: fort von hier!  

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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