Der Tangute

Da der Tangute – wie schon Sokrates und wie noch Kant – keinerlei Bedürfnis nach Ortsveränderung hatte, ging er in sich; ins Exil.

»… die affirmative Rolle des Negativen …«

Der Punkt, auf den er sich zurückzog, bildete das Zentrum eines quadratischen Palastgevierts von 450 Meter Seitenlänge, welches seinerseits, auf 41° 45′ 4′′ nördlicher Breite und 101° 5′ 15′′ östlicher Länge, inmitten der Wüste Ghobi – nicht weit vom Edsinghol – lag.

»… gibt es in der Wüste so etwas wie einen verwandelnden Blick, von dem zweifelhaft bleibt, ob man ihn besser als einen magischen oder als einen utopischen Blick bezeichnen sollte. Dieser Blick vermag alles – auch die Ghobi – von einem Punkt aus zu enthüllen, vorausgesetzt, man tritt am Ort. So brauche ich denn nicht nach dem zu fragen oder gar zu suchen, was ›unten‹, was ›hinten‹ sei. Es genügt, daß ich, um da zu sein, mit jenem Blick zwischen meinen stampfenden Füßen den Punkt fixiere, mit dem ich bald vollends zusammenfallen werde.«

Fünfhundert Jahre danach kamen zwischen den Eselsohren über den Sanddünen die Ruinen der Tangutenstadt in Sicht, die, wie sich nun herausstellte, auf einer niedrigen Terrasse aus grobkörnigem Sandstein lag. Rechtwinklig angelegte Straßen zerteilten den Baugrund in mehrere quadratische Felder. Die Tempel und viele andere Bauten waren bis auf die Fundamente zerstört. In den Schuttmassen fand man Mühlsteine, Reste von Kanalisationsanlagen, Scherben von Ton- und Porzellangeschirr, aber auch metallene, meist gußeiserne Gebrauchsgegenstände sowie ein angesengtes Stück Birkenhaut, welches später im Völkerkundemuseum zu Petrograd als Fragment eines chinesisch-tangutischen Wörterbuchs identifiziert wurde; das aus dem 14. Jahrhundert stammende Schriftstück kann seit kurzem im Winterpalast eingesehen werden.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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