Dichters Anfang

(»Dieser Mensch ist noch nicht gewesen!«)

Und so stelle man sich Dichters Anfang vor:
Den Nachmittag des 29. August verbrachte die Familie gemeinsam – mit Ausnahme des Vaters, der als Genieoffizier Dienst tat – auf der Spielwiese (jener Wiese, die das eine Dorf vom andern trennte). Es war schwül, der weiße Himmel bewölkte sich. Ein Gewitter schien sich zusammenzuziehn. Man war besorgt; besorgt auch wegen der schlechten Nachrichten, die von der Front kamen.
Besonders der junge Dichter, der abwechselnd rot, dann wieder blaß wurde, verriet seine Unruhe und Erregung. Er wolle, sagte er plötzlich, nach Hause gehen; sofort.
Warum?
Er müsse ein Buch holen.
Und so ging er, kam aber nicht wieder zurück.
Umsonst kehrte auch seine Mutter, die nicht länger auf ihn warten mochte, mit den Töchtern nach Hause zurück, um ihn dort zu finden; umsonst fragte sie in der ganzen Nachbarschaft nach ihrem Sohn, der den Schlüssel in der Tür hatte stecken lassen; umsonst eilte sie überall dorthin, wo er zu verkehren pflegte.
Niemand hatte ihn gesehen; keiner wußte Bescheid. Bei Einbruch der Dunkelheit war der Junge noch immer nicht heimgekehrt. Frau Dichters Unruhe verwandelte sich in Angst. Ihre kleinen Töchter mit sich ziehend, verbrachte sie einen großen Teil der Nacht in den Gassen und Straßen des einen, dann des andern Dorfes. Sie fragte in den Wirtshäusern nach und erkundigte sich bei den jugendlichen Kriegsfreiwilligen, die sich am Bahnhof zusammenfanden, während gleichzeitig in den Straßen die neuesten Meldungen von den Siegen der Preußen und dem Heranrücken ihrer Armee einander jagten. Und auch als Frau Dichter mit den verstörten und völlig erschöpften Mädchen nach Hause kam, war ihr Sohn noch nicht zurückgekehrt.
Er hatte, wie sich am nächsten oder übernächsten Tag herausstellte, seine Bücher verkauft und war in die Stadt gefahren. Dichters Leben konnte nun beginnen; und begann.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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