Die Notizen

Ja, man sollte eher viel als vieles lesen; dasselbe immer wieder neu.

Zu sehr ist man abhängig von den Umständen, unter denen man liest; von den Licht- und Lebensverhältnissen. Was erschreckend deutlich wird, wenn man beim Wiederlesen auf seine eigenen Unterstreichungen oder Randnotizen stößt und sie – und sich selber – nicht mehr erkennt.

(So erging es mir mit Hohl, der mich, als ich achtzehn war, ausschließlich durch sein konsequentes Neinsagen faszinierte, durch seinen aggressiven Welt-Schmerz, seinen pathetischen Zynismus. Damals las ich »Die Notizen« mit raffendem Schwung, fand auf jeder Seite Bestätigung für Eigenes, noch Unartikuliertes, fühlte mich, entgegen aller Evidenz, als »Meister« und lieh Hohl, wie ich glauben mochte, »meine« Stimme. Ich fand ihn herrlich, diesen Mann – einen Schweizer! – ohne Eigenschaften; diesen Autor, der Autorität nur für sein Werk, nie für sich selber beanspruchte; diesen unbegabten Schriftsteller, der fehlendes Talent durch heroischen Krampf wettzumachen suchte, wobei er bis zur Lächerlichkeit, immer strebend und doch ohne Ziel, sich abmühte … Naja, ein Irrtum, grobe Verkennung war’s, wenn ich, Hohl heute lesend, daran zurückdenke; und doch war es damals die wahre Empfindung dessen, der »ich« gewesen ist. Gewiß, ich lese Hohl jetzt anders; ich lese ihn anders, weil ich ihn anders lesen kann. Denn ich habe, mühsam genug, gelernt, zwischen Erfahrungen und Leseerfahrungen einen Unterschied zu machen; so daß ich bei Hohl nicht mehr nach Geistes- und Gefühlsverwandtschaft suchen muß, um ihm näherzukommen, ganz im Gegenteil – als Autor ist er mir dort am nächsten, wo er mir als Person am fremdesten ist. Auch brauche ich seinen Text nicht mehr als Armatur der Selbstbestätigung, vielmehr als Anleitung zur Selbstbefragung. Jedenfalls kenne ich kaum ein neueres und schon gar kein zeitgenössisches literarisches Werk, das soviele Antworten auf soviele Probleme bereithält wie »Die Notizen« – Antworten, die nichts anderes sind als richtig gestellte Fragen.)

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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