I Londrabar II Engel

(Die Performance findet statt …)

I

… diesmal, zum Beispiel, in Venedig. Mitte Dezember. Vierundzwanzig Stunden hier, um euch zu treffen. – Tote Saison. Naßkalter Wind. Schon am frühen Nachmittag beginnt es einzudunkeln, bald auch zu regnen. – Eben war ich drüben am Bootssteg, um mir die Abfahrtszeiten nach San Lazzaro zu notieren; für alle Fälle. Doch wozu? Was könnte schon der Fall sein? – Vorerst sitze ich, mit dem Rücken zum Kai, als einziger Gast in der Londrabar. – Labrador? – Rot gepolsterte, sehr niedrige Sitzbänke und Fauteuils. An der Wand links, in unregelmäßiger Anordnung, ein Dutzend vollbusiger, aus schwerem, fast schwarzem Holz geschnitzter Galionsfiguren. Rechts auf der Theke, weit größer dimensioniert, dieselbe weibliche Halbgestalt in weißem Porzellan; die vor dem nabellosen Bauch hängenden Hände sind zu einer Art Muschel gefaltet und dienen, so scheint’s, als Aschenbecher für zwei. – (Bin ich schon auf hoher See? Und zwischen welchen Kontinenten?) – Doch eigentlich sollte ich ja euch anrufen, hätte es schon gleich nach meiner Ankunft tun sollen. – »Wo, bitte, ist in diesem Haus das Telephon?« – Aber warten wir, trinken wir noch einen Tee mit klarem Rum, nicht? Wir? Wer denn wir? – Ich bestelle nach, und während der Keeper noch einmal das Wasser aufheizt und zum Zischen des Dampfs leis vor sich hin pfeift, sehe ich im breiten goldgerahmten Spiegel an der Wand mir gegenüber, wie draußen auf dem Kai der Schnee durch die bläulichen Lichtbahnen zwischen den Laternen treibt. Schnee! Hier! Aber wirklich, ich muß euch nun erreichen, sagen, daß ich da bin, anrufen sofort, erhebe mich also, will nur mal rasch drüben, wo das Telephon, ja, bei den Toiletten, die Zelle, ach so, da bemerke ich im Spiegel, der mich nun, da ich stehe, fast zur Hälfte enthält, wie auf der Höhe meiner Schultern, knapp darüber, wie etwas, wie jemand, ja vielleicht ein Mann vorbeihuscht, als fliege er, und schon ist die Erscheinung, eine auffallend helle, merkwürdig phosphoreszierende Gestalt aus dem Bild, das ich vor mir, aus der Wirklichkeit, die ich hinter mir habe, verschwunden. – Fort. – Ich halte, bereits im Weggehen, ein, werfe einen Blick hinüber zur Bar, wo noch immer der Keeper hantiert, sehe mich um und habe, wieder im Spiegel, dieselbe Szene vor mir, dieselbe weiße Gestalt, die jetzt, mit dem sanften Galopp eines Seepferds oder Joggers, in umgekehrter Richtung das Bild durchquert. – Was? – Wer kann das sein? Ich setze mich erneut, bekomme nun auch schon meinen Tee; und stelle bald fest, daß das Hin und Her sich wiederholt und wesentlich wird. Etwas scheint da vor sich zu gehen, etwas Bestimmtes, das aber erst in seiner Unbestimmtheit erkennbar ist, in seinem Werden. Ich wende mich nach hinten, um nach vorn aus dem Fenster zu schauen. Ohne daß ich es bemerkt hätte, sind inzwischen weitere Gäste eingetroffen; sie haben sich in ihren schweren Mänteln gleich beim Eingang aufgestellt und blicken nun angestrengt hinaus auf den schneeverwehten Kai, wo grade eben – wie denn? – für wen? – ein Feuer entfacht wird, nein, es flammt einfach auf, ist plötzlich da, lodert – hört man es sirren? – hoch, fällt aber sogleich in sich zusammen, mottet, wirft Funken, erholt sich wieder, verlöscht, wird vergessen. Denn in diesem Moment – einer der Zuschauer an meiner Seite läßt ein gepreßtes Lachen vernehmen, als wollte, als müßte er sich selbst am Stöhnen hindern – tritt von der Feuerstelle her erneut und viel eindeutiger die weiße Gestalt auf, die – oder – das – Weiße – (wer weiß?) – Schritt für Schritt, einen Fuß vor den andern setzend und jedesmal bis zu den Knöcheln im Schnee versinkend, nähert sie sich, den unbedeckten Kopf leicht zurückgeworfen, den Blick – durch uns hindurch – auf ein sehr fernes Ziel gerichtet, nähert es sich, kommt auf uns Wartende zu, tritt ganz nah an uns heran, bis uns nur mehr die Fensterscheibe von ihm trennt und ich, da sie mich nun mit weit aufgerissenen, vielleicht noch staunenden, vielleicht schon entsetzten Augen fixiert, nicht mehr zu sagen wüßte, wer von uns beiden – wer von uns allen – draußen, wer drinnen ist und ob und wodurch ich, von ihm unterschieden, bin. Ich kann mir nicht denken, was mir da geschieht, was das – was es – bedeutet; sagen wir, es ist inwendig, besonders und allgemein zugleich. – »Sie sind«, schreit plötzlich, neben mir, der graue Herr: »Sie sind sehr schön! Diese Augen! Ich brauche sie! Sie reichen soviel weiter als alles Sichtbare! Aber«, sagt er noch, »man weiß ja nie, ob ihnen (Ihnen?) je etwas entgeht! Oder ob nicht im Gegenteil die ganze Welt – für sie, für ihn – nur eine Einzelheit all dessen ist, was sie (Sie?) in sich aufnehmen?« – Ja, wie soll denn ich diesen Augenblick ertragen, der so wahr ist, daß er mich erledigt, daß er uns alle erlegt und Licht macht inmitten unserer Dummheit, um uns – für immer – gründlich zu ertappen als das, was wir sind, weil wir so sein wollen, wie wir sind, jeder in seiner Stupidität und Sinnlosigkeit wie der Fisch im Aquarium, wir, da, mit der plattgedrückten Nase am Glas, nicht wissend oder einfach vergessend, daß eben das, was wir, während dieser Blick auf uns ruht und uns ruft, denken, uns daran hindert, jetzt – endlich – zu werden, was wir, ohne es zu ahnen, schon immer gewesen sind. Doch nun hebt sie die Arme … – die weiten weißen Ärmel gleiten über ihre Ellenbogen zurück und bauschen sich um die Schultern, als wüchsen ihnen Flügel. Die nackten schmalen Arme bleiben eine Weile ausgestreckt wie Fühler, aber sie empfangen nichts, der Engel läßt sie, während er sich, rückwärts gehend, auf die eine Seite aus dem Bild, auf die andere aus der Wirklichkeit entfernt und verschwindet, sehr allmählich sinken …

II

… und träte er dann in mein Zimmer oder sprengte drüben durch dein Beet, wir würden Angst empfinden; empfinden wir Angst aber im Traum, so schaffen wir uns den Engel, von dem wir, einmal aufgesessen, nicht mehr abzuspringen wagen. Der Traum erklärt’s – die Angst ist das Gefühl von »Angst«; ein richtiges Gefühl für das, was wir vor der Angst befürchten müssen. Denn die Angst kommt dann erst, wenn wir uns – wovor? vor wem? – gefürchtet haben …

… lasse ich auf das bereits Berichtete eine knappe Beschreibung jener theoretischen Emotionen folgen, die mir kamen und die ich hatte, als ich mich erstmals eingehender mit Klees »Engel bringt das Gewünschte« befaßte …

… stellten sich fast gleichzeitig zwei ganz verschiedene, jedoch eng miteinander verwandte Gefühle ein: zunächst das metaphysische Gefühl, wonach sich keine kontrafaktische Situation korrekt als eine Situation beschreiben läßt, in der es Engel gegeben hätte; dann das erkenntnistheoretische Gefühl, wonach eine archäologische Entdeckung, die den Nachweis erbrächte, daß es Menschen – oder Tiere – mit genau jenen Eigenschaften gegeben hat, welche den Engeln in der Angelologie zugeschrieben werden nicht an sich schon als Beweis dafür genügen könnte, daß es Engel wirklich gegeben hat …
… das metaphysische Gefühl betrifft, wäre dazu etwa Folgendes zu sagen …
… wie der Künstler, welcher bald in der Gestalt des Affen, bald in der des Hunds auftritt, einer wirklichen Spezies – derjenigen der Autoren – angehört, bilden die Engel insgesamt eine mythische Spezies. Nun lassen sich aber Autoren nicht einfach in Begriffen ihrer Erscheinungsweise definieren; es ist denkbar, daß es eine andere Spezies mit genau der äußeren Erscheinung von Hunden – oder Affen – hätte geben können, die jedoch eine andere innere Struktur gehabt hätten und daher als Autorenspezies zwar anzusehen, nicht aber zu bestimmen gewesen wären. Man könnte zu der falschen (gegenteiligen) Meinung durch die Tatsache veranlaßt werden, daß es in Wirklichkeit keine derartigen Tiere-als-Künstler gibt, so daß in der Praxis das durchaus wandelbare äußere Erscheinungsbild – hier: des Verbrechers – für die Identifikation der Spezies genügt …
… gibt es also keine wirkliche Spezies von Engeln, und mit Bezug auf die diversen hypothetischen Spezies mit unterschiedlichen inneren Strukturen (… teils der Struktur von Menschen-Männchen, teils von Vogel-Weibchen …),1 welche das Aussehen hätten, das nach der Angelologie für Engel gefordert ist, kann nicht gesagt werden, welche dieser verschiedenen mythischen Spezies die Engel gewesen wären …
… wenn man vorerst annimmt, daß die Engel eine bestimmte Spezies verbrecherischer, nämlich in sich gebrochener Mischwesen sein sollten, daß die Angelologie jedoch zu wenig Information über deren innere Struktur gibt, als daß dadurch eine einzige Spezies eindeutig bestimmt oder bestimmbar würde, dann gibt es keine wirkliche oder mögliche Spezies der Engel, von der man sagen kann, daß sie die Spezies der Engel gewesen wäre …
… ließe sich eher das erkenntnistheoretische Gefühl durch Argumente stützen. Liegt uns zum Beispiel eine Geschichte vor, die eine Person mit der physischen Erscheinungsweise eines Engels beschreibt, dann kann man aufgrund dessen nicht schließen, daß in der betreffenden Geschichte von Engels die Rede ist; es könnte sein, daß von Haupt oder von mir berichtet wird. Von welcher Person die Rede ist, muß bestimmt werden durch die historische Verknüpfung der »Geschichte« mit einer bestimmten Person. Wenn die Verknüpfung verfolgt wird, könnte sich durchaus der Schluß ergeben, daß die Person, von der die Rede war, Monsieur Teste, ich oder jemand anderes gewesen ist. Und ebenso würde die bloße Entdeckung von Verbrechern, welche die Eigenschaften haben, die gewöhnlich den Engeln zugeschrieben werden, keineswegs zeigen, daß gerade dies die Mischwesen waren, von denen die Angelologie handelt – vielleicht war die Angelologie selbst ein bloßes Phantasieprodukt, und das Indiz, daß Verbrecher mit derselben äußeren Erscheinung wirklich – das heißt: tätlich, sächlich – existierten, hatte rein zufälligen Charakter. Also können wir auch nicht sagen, daß die Engel tatsächlich existiert haben; wir müssen außerdem eine historische Verknüpfung herstellen, die beweist, ja – zeigt, daß die Angelologie von jenen Mischwesen handelt …
… lassen sich, was fiktive Eigennamen betrifft, ähnliche Auffassungen vertreten. Die schlichte Entdeckung, daß es einen Autor, welcher ein Werk wie dasjenige von Engels geschaffen und mit dem Leben seiner Nächsten abgegolten hat, wirklich gab, wäre noch lange kein Beweis dafür, daß Valéry über diesen Verbrecher geschrieben oder von ihm gehandelt hat; es ist theoretisch möglich, wenn auch praktisch von geradezu phantastischer Unwahrscheinlichkeit, daß Valéry eine reine Fiktion mit bloß zufälliger Ähnlichkeit zu dem – einen – wirklichen Menschen hat verfassen können …
»… sämtliche Personen in diesem Buch frei erfunden und jedwede Ähnlichkeit, sei es mit Lebenden oder Toten, rein zufällig …«
… vertrete ich überdies die metaphysische Auffassung, daß man, gesetzt es gebe keine Engel, nicht von irgendeiner möglichen Person sagen kann, daß sie Engels gewesen wäre, wenn er – wenn sie – existiert hätte. Es hätte ja doch sein können, daß verschiedene denkbare – und vielleicht sogar die wirklichen – Verbrecher, zum Beispiel Oscar Wilde oder Jack the Ripper, das Engelssche Werk geschaffen hätten; aber von keinem ließe sich behaupten, daß er Engels gewesen wäre, wenn er jenes Werk vollbracht hätte. Denn welcher wäre es gewesen? Wer?
… so daß ich nicht mehr, wie ich es einst im Anschluß an Kripke getan habe, ohne weiteres versichern könnte …
»… jener Engel existiert nicht, aber unter anderen Umständen – in andern Sachlagen – hätte er existiert …«2
… vermittelt doch die zitierte Behauptung den irrigen Eindruck, eine fiktionale Bezeichnung wie »Engel« benenne ein bestimmtes mögliches-aber-nicht-wirkliches Individuum. Die wichtigste Feststellung aber, die ich machen wollte, bleibt bestehen und ist von jeder sprachlichen Theorie des Status von Namen in der fiktiven Rede unabhängig. Die Feststellung war die, daß die andern denkbaren oder in denkbar andern Welten »möglicherweise einige in der Wirklichkeit existierende Individuen fehlen, während anderseits aber auch neue, niedagewesene Individuen auftreten könnten …«
… und daß, wenn …
aaaaaaaaaaaaaaaaaa… Logik) der Formel in Welten …
… zuzuordnen ist, in denen das betreffende Individuum nicht

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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