Mein Mann

Die Fahrt führte durch manch ein flaches Dorf, der Schwarzwald blieb Gerücht, bis endlich das Schild in Sicht kam, TODTHEIM oder TRONDHEIM, dann nochmals lange nichts, schließlich der DORFPLATZ, leicht schwankend wie ein Flugzeugträger, wie die Plattform eines Ölbohrturms, der rostige Bodenbelag war sauber vernietet, die Platzmitte aber etwas bombiert von der Hitze, das gewöhnlich für Spitäler, Kliniken und Sanatorien verwendete H-Zeichen stand hier weiß auf schwarz und war durch einen Pfeil ergänzt, der hinauswies zur PERIPHERIE, dort stieß ich denn auch gleich auf das HAUS, das heißt, ich befand mich nun eigentlich schon in der Wohnung, die mir nach einem ersten ungestörten Augenschein durch ihre relative Weitläufigkeit auffiel, auffiel, weil die Innenausstattung einheitlich aus den fünfziger Jahren zu stammen schien und offenbar nie ergänzt oder erneuert worden war, alle Anstriche gehörten derselben Klasse von GRAU an, mehrfach gestrichenes Holz, wie ich noch sehen konnte, Eisenbetonimitation von täuschender Ähnlichkeit, bevor dann Frau Heidegger eintrat und sofort die Hände zu ringen oder jedenfalls sie zu reiben begann und zunächst nichts anderes sagte (und beharrlich wiederholte, als hätte ich nach IHM gefragt) denn MEIN MANN, MEIN MANN, der dann aus unbestimmter Richtung auch wirklich kam, eher wohl von hinten als von oben, MEIN MANN, ein kleiner farbloser Greis mit ziemlich verschmitztem Lächeln und leicht geröteten Augen, der nun, wie zuvor schon Frau Heidegger selbst, seine Hände kreuzweise übereinanderlegte und deren Innenflächen zu frottieren begann und sie solange knetend und pressend rieb, bis sie feucht waren und quietschten wie Fürze und Frau Heideggers MEIN MANN und sogar der Anfang einer längeren Improvisation des Alterchens von diesem Quietschen und Schmatzen übertönt wurden, während in der Wohnlandschaft, als hätte MEIN MANN sie herbeizitiert, diverse Leute mit blinkenden Namensschildchen herumstanden, die uns wie Bücher den Rücken zukehrten, und dieweil der Alte weitersprach und weitersprach, trug Frau Heidegger den Kuchen auf, bot dazu aber keinerlei Säfte an, legte die verbrauchten Hände in den Schoß, wiederholte noch mehrmals MEIN MANN MEIN MANN, um sich gegen fünf Uhr, als sie die gelehrte, wiewohl etwas sprunghafte Rede im Kopf hatte, recht brüsk zu erheben und sich in die tiefste der Ecken abzusetzen, wo sie nun, mit gereckten Armen und unversehens jugendlich geworden, an einem Vorhangzug (oder Glockenseil) Stück für Stück die sehnigen, stramm ausgewringten und daher leicht verlängerten Körperteile ihres Söhnchens durch einen Schacht nach oben ins Freie hißte, wobei sie erneut MEIN MANN und MEIN MANN vor sich hinsang, während gleichzeitig der Alte, ohne sich von der philosophischen Szene abzuwenden, jambisch skandierend MEIN GEIST und MEIN GEIST – warum hast du mich verlassen? – in den Diskurs einfließen ließ, der nun ohnehin, genauso wie die Zeit, die uns noch blieb, dahinfloß oder schon verflossen war.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00