Metaphorologie

Hohl tönt es – nach Lichtenberg – allemal dann, wenn von zwei Köpfen, welche aufeinanderstoßen, der eine ein Buch ist. In aphoristischer Raffung wird hier die alte Konkurrenz zwischen Buch und Wirklichkeit, zwischen Kultur und Natur, zwischen Lektüre und Experiment, kurz – zwischen Bucherfahrung und Wirklichkeitserfahrung zur Metapher verdichtet. Wir haben es dabei mit einer Metaphernbildung zu tun, deren Genealogie über das Buch der Geschichte und das Buch der Natur zurückreicht bis zum Buch der Bücher, dem einen Buch, das schließlich seinerseits, als Inbegriff von Lesbarkeit und Sinnbesitz, durch das von Mallarmé imaginierte, später von Valéry propagierte leere Weltbuch – durch die Idee des absoluten, des sinnleeren Buchs – abgelöst, dem kantischen »gestirnten Himmel« gleichgesetzt und somit definitiv vernichtigt werden sollte.

Hans Blumenberg hat es im Rahmen einer großangelegten Metaphorologie unternommen, das wechselhafte Verhältnis zwischen den beiden rivalisierenden »Köpfen«, von denen der eine – gewiß nicht der hohle! oder doch? – bei Lichtenberg als Buch gedacht ist, in historischer Perspektive – von Platon und Aristoteles über Augustinus und Bacon, Descartes und Leibniz, die Humboldts, Goethe und Novalis bis hin zur Freudschen Traumdeutung und zu den jüngsten naturwissenschaftlichen Entzifferungs- und Leseversuchen an biologischen Codes – aufzuzeigen; abzuhandeln; auszudeuten. 1

Entstanden ist aus diesem philosophiegeschichtlichen Unterfangen nicht nur ein enzyklopädisches Haupt-, oder eben: Kopf-Werk zur Inventarisierung der abendländischen Buchmetaphorik, vielmehr eine zusammenfassende Nachlese, eine abschließende Nacherzählung der Geschichte europäischen Denkens im Spannungsfeld zwischen Sinnproduktion und Sinnlosigkeitsverdacht am Leitfaden der Frage nach dem, was wir je wissen wollten und was wir je erhoffen durften. Blumenbergs Diskurs über die Lesbarkeit der Welt-Bücher und die Welthaltigkeit der Bücher-Welt gerät letztlich (trotz klar artikulierten Vorbehalten gegenüber der »Surrogatfunktion« und »Unnatur« der Bibliotheken) zu einer wortmächtigen Apologie der westlichen linearen Schriftkultur (und also des Vernunftdenkens) – Blumenbergs Buch ist Hervorbringung einer kulturellen Spätzeit, die sich primär an Bildern, nicht mehr an Texten orientiert und deren Literaturfeindlichkeit vorerst noch in der inflationären Flut literarischer Erzeugnisse ihren paradoxalen Ausdruck findet, obwohl (oder weil) sie den Weg zu einem neuen Mittelalter – zum postmodernen Analphabetismus – bereits unverkennbar (und unaufhaltsam) eingeschlagen hat. Wo der gesunde Menschenverstand zur Ketzerei, die Beschwörung des Irrtums zur Faszination durch die Stupidität, das Klare und Deutliche zum deutlich Unklaren und das Denken – nach Foucault – »zur Tat, zum Sprung, zum Tanz, zum äußersten Abseits, zur gespanntesten Dunkelheit« wird, ist auch »das Ende der Philosophie der Repräsentation« erreicht. Incipit philosophia differentiae: »Es kommt der Augenblick des Irrens…«

Mit Bezug auf den »Irrsinn Elbehnons«, wie er bei Mallarmé (in »Igitur«) vorgezeichnet ist, heißt es bei Blumenberg: »Das Buch ist der Antipode der Idee. Deshalb ist es wieder eine Apokalypse, in der ein Buch geschlossen wird, zum Ende und Untergang des Geschlechts der Elbehnon. – Anfang ihrer Geschichte war gewesen, daß sie durch einen Schiffbruch, durch das nackte Faktum des verfehlten Ziels, an Land gegangen waren und das Schloß errichtet hatten für diese Geschichte. An deren Ende erlischt die Kerze, die das Buch beleuchtet, das nun geschlossen werden kann, keine Prophezeiung, aber auch keine Historie mehr preisgibt. Das Buch ist die Realität der Geschichte: keine Zukunft zu haben, ist im Zuschlagen des Buches blanke Wirklichkeit, das Ende aller Lesbarkeit, das es nur gibt, wenn es sie gegeben hat.« – Was Blumenberg hier souverän referiert, liest sich bei Foucault, in pathetischem Brustton, wie folgt: »Machen wir uns frei, um denken und lieben zu können, was sich in unserem Universum seit Nietzsche mit Donnergrollen ankündigt – ungebändigte Differenzen und ursprungslose Wiederholungen, die unseren alten erloschenen Vulkan erschüttern; die seit Mallarmé die Literatur gesprengt haben; die den Raum der Malerei zerklüftet und vervielfacht haben; die seit Webern die feste Linie der Musik endgültig gebrochen haben; die alle Zeitenbrüche unserer Welt ankünden.«

Demgegenüber wirkt Blumenbergs gepflegte Rhetorik wie ein nostalgischer Abgesang auf die »verbuchte« Welt, die wir zwar noch bewohnen, die aber – vielleicht – schon heute »von gestern« ist.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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