Olympia

(… auf nach Olympia!) 

Was kann, was soll Literatur in einer Welt, für die »das Maschinengewehr einen weit höheren Symbolwert besitzt als die Feder, der Pinsel oder die Schere«? Und wie, worüber, wozu wäre heute, falls überhaupt, noch zu schreiben? 

Mit solchen Fragen setzt sich der jetzt einundachtzigjährige Michel Leiris in seinem jüngsten Buch – »Das Band am Hals Olympias« – auseinander, wobei es ihm freilich nicht (jedenfalls nicht nur) darum geht, richtige Antworten zu finden, vielmehr darum, die Fragen richtig zu stellen; sie richtigzustellen. Das Buch enthält denn auch keine Antwort; es ist die Antwort.1 

(Auf rund dreihundert Seiten entfaltet Leiris fächerartig – und das heißt: stets von denselben Fragen ausgehend, sie bald an diesem nächsten, bald an jenem fernsten Gegenstand erprobend – einen vielschichtigen und entsprechend vieldeutigen Text, dessen gattungspoetische und thematische Uneinheitlichkeit durch die Luzidität des Stils wie auch der Gesamtkonzeption zugleich akzentuiert und harmonisiert wird. Aus verschiedensten, scheinbar zufällig aneinandergereihten Texttypen – Essays von einer halben bis zu zehn Seilen Umfang, Beschreibungs- und Erinnerungsprosa, Traumprotokollen und Erzählstücken, Tagebuchexzerpten, Glossaren und Gedichten, einem poetologischen »Telegramm« und einem dreiaktigen Minidrama – baut sich allmählich ein geschlossenes Gebilde auf, genauer: eine streng strukturierte Szenerie, in die sich der Leser jäh versetzt sieht, wenn er feststellt, daß, wie der Autor die im Titel genannte Olympia auf der Bühne, die den Text bedeutet, als stumme Referenzfigur in Erscheinung treten und durch sie sein eigenes Anliegen – diskret, unmißverständlich – vorführen läßt.) 

An die dreißigmal ist in Leiris’ Text von »Olympia« – von einem Bild also – die Rede. Der berühmte, 1863 entstandene Akt Edouard Manets (seinerzeit ein Skandalon) wird, gewissermaßen von den Rändern her, in immer neuen Annäherungsversuchen beschworen, verbal eingekreist, als Inkarnat jedoch unberührt, unbesprochen gelassen. Indem Leiris den Bildraum, mit dem der Künstler sein Modell umstellt, ja »eingekleidet« hat, szenographisch (der Bewegung des Blicks folgend) wie ein blinder Seher abtastet und beschreibt, bringt er die Peripherie zum Einsturz läßt sie über das ausgesparte Zentrum – den nackten Körper der Frau – hereinbrechen. Die Nacktheit selber scheint den Körper zu verbergen; sie wird sinnlich wahrnehmbar gemacht durch eine Reihe von Requisiten, die (wie Fetische) die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen, ihn also von dem, was sie bedeuten, ablenken: Blumen und Schuhe; Arm- und Ohrenschmuck – die fleischfarbene Blüte im Haar, welche das von der fächerförmig gespreizten Hand kaschierte Geschlecht in bildhafter Übertragung anschaulich macht; das schwarze Band (Schlinge? Schlange?) am Hals Olympias und die schwarze Katze (deren Schwanz wie ein umgekehrtes Fragezeichen im Raum steht) zu ihren Füßen … 

Manets »Olympia« – das Bild, nicht die Person – dient Leiris als Bezugssystem für das, was er in seinem Buch auf wechselnden Schauplätzen sich ereignen, sich abspielen läßt. Alle diese Schauplätze – das Theater und das Kabarett, die Stierkampfarena und der Pferdesportplatz, Zirkus und Zoo, Klinik und Atelier, aber auch das Gedächtnis und die Sprache – zeichnen sich dadurch aus daß sie als Innenwelt der Außenwelt funktionieren können; daß Exzentrizität hier zur Norm wird; daß Peripherie und Zentrum zusammenfallen: 

»Ein solcher Zustand entspricht weniger der Zerstreuung des Ich in der äußern Welt als vielmehr der Verdichtung der äußern Welt im Ich. Jedenfalls hat man es – statt mit einer Rückkehr von den Rändern zur Mitte hin (als Einkehr in sich selbst, nachdem man sich hat gefangen nehmen lassen) – eher mit einem Zusammenfallen von Peripherie und Zentrum zu tun, mit einer Identität ohne jede Bewegung in irgendeiner Richtung (keine Schranke mehr zwischen diesem »Ich«, das da spricht, und jenem Zirkus der erfahrbaren Wirklichkeiten, von deren Fernen und Vorposten es umstellt ist).«
Die Verschränkung der Außen- mit der Innenwelt wird nach Leiris, am ehesten (und auf immer wieder neue Weise) im Drogen- oder Alkoholrausch, in der Erfahrung des Schmerzes und in der Arbeit am Mythos, in der Sexualität und, letztlich, im Tod erreicht. Die rhetorische und metaphorische Grundoperation, welche diesem Vorgang (der immer nur als eine Abfolge von unterschiedlichen Zuständen manifest wird) allein gerecht zu werden vermag, ist die Analogiebildung. Leiris bedient sich dieses Verfahrens auf sämtlichen Textebenen und in jeder nur denkbaren Art; er schafft Anagramme und fiktive Etymologien, er verdinglicht die Sprache und versprachlicht die Dinge, er setzt das Sandkorn zum Kosmos, die Prostituierte zum Engel, ein Tapetenmuster zu einer Wüstenlandschaft, einen Krankenhausaufenthalt zu einer ethnologischen Expedition, modernité zu éternité in Beziehung, doch ist er dabei weniger um die Feststellung, vielmehr um die Herstellung von Ähnlichkeiten zwischen dem Unähnlichen bemüht. Die dichterische Einbildungskraft selbst scheint alle andern intellektuellen Energien zu übertreffen und zu verdrängen; ihre Wirkung besteht, wiederum nach Leiris, vorab darin, daß sie den Autor dazu befähigt, aus dem schlichtesten Alltagsmotiv ein poetisches Juwel zu gewinnen: gerade das, was gemeinhin als nicht der Rede wert erachtet wird, sollte folglich Inhalt und Gegenstand der Schrift, der Literatur sein. Jedes Ereignis, auch das trivialste, ist literarisch relevant Literatur auch die höchste, müßte, um glaubhaft zu sein, Ereignischarakter haben. 

»… dem Wirklichen das Imaginäre abgewinnen, welches mir das Gefühl gäbe, lebend an ein anderes Leben angeschlossen zu sein, an eines, das mehr Fülle hat als das erste – das gewöhnliche Leben; dem Imaginären soviel Wirklichkeit einflößen, daß seine Schwere zumindest dem Gewicht entspricht, welches für manche unter uns der Traum hat?«
In solchem Verständnis ist das Band am Hals Olympias »weder Ariadnefaden noch schmückendes Beiwerk, sondern eine Kordel, an der jederzeit gezogen werden kann, damit sich ein Vorhang öffne und Klarheit sich einstelle …« – Vielleicht ist es das, was Literatur – sie allein? – auch heute noch vermag: am Leitfaden der Sprache hinzuführen zu dem, was noch nicht geworden, aber im Werden ist. Literatur als utopische Permanentszene: Rêver – Unique Balise Au Néant! Endlosschleife 

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00