Traum neu

EISENBAHNREISE. Rasche Fahrt auf unterirdischer Strecke. Komfortabel, mit wechselndem Nachdruck in die gepolsterte Ecke gepreßt, durch hell erleuchtete Tunnels und Galerien. Plötzlicher Halt dann auf weitläufiger Sandbank, wo wir – »wir« sind mehrere, mir unbekannte Personen – von all unsern noch lebenden, ganz schön sonntäglich gekleideten Verwandten erwartet werden.

EHER ZUFÄLLIG treffe ich, im Beton mühsam watend, auf Frau Babler, die jetzt die füllige Gestalt ihres Mannes angenommen, an Gewicht aber offenbar nicht zugenommen hat, denn sie eilt mit gerafften Röcken ins Meer hinaus, während ich – eben erst standen wir einander Aug in Aug gegenüber – langsam, den Blick auf ihre schrundigen, im Abendlicht blinkenden Fersen geheftet, versinke und grade noch spüre, wie der Betonbrei über meinen Schultern träg zusammenschlägt und mir den Hals für immer umschließt.

IN DER STADT dann plötzlich auf Brodsky gestoßen, worauf der mich umarmen will (»dreimal«, schreit er: trojekratno!), jedoch zurückfährt und seinen Schreibarm schwer auf meine linke Schulter fallen läßt. Und schon entfernt er sich in großen Sprüngen, verschwindet um die nächste Ecke in einen andern Traum, den – wie sich auch sofort zeigt – Susan in der Art eines Indianerzelts liebevoll aufgebaut und ausgestattet hat. Jetzt aber läßt Brodsky sein angestrengtes Miauen hören, klagend und geil lädt er uns ein nach New York, Morgue Street, ach ja, kennen wir doch, da waren wir schon, da wollen wir hin, da sind wir nun auch, vor uns ein langer Korridor, der sich, wenngleich auf merkwürdige Weise, schlicht erstreckt, nach hinten sich weitend, immer sich weitend, wie ein großes V, bis die Perspektive aufgehoben ist. So daß wir also gleich schon da sind, immer schon dagewesen. Und am andern Ende – dort, wo wir in Gedanken gerade eben uns aufgehalten haben – die Tür mit der kaum sichtbaren, eilig hingekritzelten Aufschrift ALL WERE TÓT, von Brodsky, der rücklings unter der Zeltbahn hervorkriecht, mit hohem Lob bedacht: TÓT WAS HERE, SO HE’S DEAD.

JETZT BIN ICH – es muß vor zehn, zwölf Jahren gewesen sein – mit Konrad von Lichtsignal zu Lichtsignal gegangen. Nichts als Querstraßen, nichts wie los. Er hält mich an der Hand, zieht mich, vorsichtig springend, hinter sich her, mit sich fort. Ich fliege. Da, sagt er, das bin ich, und er zeigt, nach einem allzu abrupten Schwenker plötzlich tieftraurig geworden, auf ein Plakat, auf eine lange Reihe von Plakaten in Weltformat, die – so präzisiert er nun – meine Mitte darstellen: ein Herrenslip der Marke Jumbo, von Konrad souverän überm fülligen Geschlechtszeug getragen, auf vielleicht zweimal drei Meter vergrößert und von Plakat zu Plakat sich wiederholend in der nicht ganz perfekten, in der gleichwohl unabsehbaren Perspektive unter den Linden. Ja, wüßte ich den Bayer! Hätte ich ihn doch! Ich wollte schon als Junge Konrad heißen. Aber da steht nun, auf die Betonwand gesprayt: FUCK THE FUTURE, und wir fallen unversehens – Karl! schreit Konrad: Karl! – aus der Geschichte.

SODANN DAS MÄDCHEN (und wie oft wir, an sie denkend, ihr begegnen!), das uns heute in der Forchbahn gegenübersaß so frech, daß du eigentlich fast sicher warst, sie sitze uns entgegen, unverschämt mit ihren neunzehn, zwanzig Jahren. Und so legt es denn, nunmehr als Frau erkennbar geworden und auch bereits erkannt, die leicht gespreizten Beine quer durchs Abteil auf unsere Sitzbank. Lachend nimmt das Kind uns in die Zange, ja, wir spüren links und rechts an unsern Hüften den sanften Druck seiner Knöchel. Da! es hat uns wieder. Und der Rückfall ist dramatisch. Plötzlich rutscht die Frau in halb liegende Stellung, nur den Kopf hat sie noch, vom Rumpf stark abgewinkelt, angelehnt, das Gesäß läßt sie – und muß deshalb die Beine etwas hochziehen – über den Rand ihrer Sitzbank nach vorn gleiten. Und wirklich, sie beginnt zu rauchen, ja, sie raucht, fast gierig – laut schlürfend und schmatzend – raucht sie im grünen Teil des Waggons, über dessen Schiebetür, in regelmäßigen Abständen rot aufflackernd, KEIN BRAUCH geschrieben steht. So ist es auch kein Wunder (uns jedenfalls, nicht wahr, überrascht es kaum?), daß in ihrer rechten, leicht geröteten Wange nun allmählich diese kleine trichterförmige Vertiefung sich bildet und bald schon ein etwas größeres Loch mit feuchtem schwarzem Wundrand, aus dem sie nun zischend ihren Atem schießen läßt, bis wir, inzwischen völlig eingenebelt, unsre Mutter nicht mehr sehen, sie nur noch vermuten können – und erwachen. Du! Und ich?

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00