Zeitunruh

Mit seinen Geschichten reagiert Haupt auf die Zeit – also dagegen; und doch vergehen sie wie diese, wie Träume. Träumt Haupt davon, die Zeit mit der Zeit zu vergessen? Wenn der Papagei jedoch am Fuß seiner geknickten Säule hockt, hat er neun oder zehn Uhr ohne Zeiger um sich geschart. So hockt er und hockt und bleibt, was er ist. Nein, denkt Haupt, man kann die Zeit weder messen noch vergessen, und wie sollte man auch, da die Unruh fehlt und »ich« alle historischen Namen übereinander trägt? die Klamotten! Er träumt also immerhin davon eine Epoche für die andere zu nehmen. Mit der ganzen Zärtlichkeit, die seinem Werk innewohnt, mit einer Art von furchtsamer Aufmerksamkeit läßt er einen minderen Medici im vorchristlichen Rom ein Spielpferd aus dem neunzehnten Jahrhundert bewegen. Die darauffolgende Geschichte wiederum trägt die Überschrift »Fräulein Klios ägyptische Merode«; sie vermengt Geologisches und Pharaonisches zu einem Gesellschaftstanz der zwanziger Jahre. Selbst Kleopatra ist vor Klio nicht sicher, da ihr diese zum Verwechseln ähnlich sieht. Ohne sich in seinen Geschichten im geringsten um die Geschichte zu kümmern, ist Haupt, so scheint es jedenfalls, bemüht, zu retten, was vom Untergang bedroht ist; das Schwindende festzuhalten indem er es benennt. So stellt er, außerhalb der Zeit Gegenwart her perfektes Präsens. Deshalb ist es wohl auch so gemütlich in diesen Geschichten; eine wird von der andern, die andere von dieser warmgehalten wie die Puppe in der Puppe in der Puppe. Ein kaum zerstörbares, aus Wörtern gemachtes, mit Phantasie verstrebtes Museum, in welchem das Hinfälligste gehütet wird; der Augenblick. So die eben erst einer Schauspielerin zugeworfene, jetzt auf der leeren, vom Leuchtwort NOTAUSGANG spärlich erhellten Bühne liegende Rose. So der zerrinnende, fast schon zerronnene Rest eines Eiswürfels im Whiskyglas. So ein fast gleichzeitig mit dem Feuerbefehl in die Knie sinkender Kurde. So ein Spion, der sich im Transitraum unversehens (unerwartet für sich selbst) zum Überlaufen entschließt. So eine vom kreischenden Vorderrad erfaßte Taube. Und so – für den Bruchteil einer Sekunde im Raum über dem Orchestergraben schwebend – der dem Dirigenten entglittene Taktstock.
Haupt pflegt für seine Geschichten eher einfache, bisweilen fragile Konstruktionen zu verwenden, nicht selten auch unvollständige oder defekte Elemente, als wollte er auf solche Weise die Schönheit des Verschwindenden und die Schönheit des Verschwindens zugleich bezeugen. Ein Widerspruch, gewiß. Keine Unruh, aber auch nichts Beunruhigendes. Manche mögen es – sie werden es – vielleicht bedauern. Es fehlt Haupt, sobald er erzählt, an Schärfe, an Schwärze, das heißt: an Humor. Denn dort, wo in seinen Geschichten das Treibholz fault, wo Schlittenkufen oder Büroklammern rosten, geschieht es, könnte man meinen, bewußt; mit Stil. Und doch sind die Dinge, die er für uns vorm Verschwinden bewahrt, mehr als bescheiden. Sie sind banal, sie sind unersetzbar wie jene schrundige Murmel, in der sich damals plötzlich der Nachthimmel spiegelte, das Große im Kleinsten, das Ganze im Vereinzelten. Aber Haupt übersieht die Geraden, er zieht Kreise und Spiralen nach, sucht einfach zu merkende Namen für die seltensten Farben, behaucht dann und wann einen halb blinden Spiegel, beobachtet, wie seine flüchtige Unterschrift entsteht und vergeht. Und nun will ich Ihnen, fährt Haupt flüsternd fort, ein Geheimnis verraten: nein, es war kein Traum! …

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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