Begriffsbildung als Übersetzungsverfahren – Jacques Derridas poetische Rhetorik (2)

Tatsächlich war Derrida, nach der enthusiastischen Rezeption seines Frühwerks in den 1970er Jahren, bis zuletzt weithin umstritten, dennoch galt er (und gilt er, in geringerem Ausmaß, noch heute) als einer der stärksten und einflussreichsten Denker seit Heidegger. Viele schätzen ihn, andere beargwöhnen ihn als einen philosophischen Generalisten, der sich in weit auseinander liegenden Bereichen − Ethik, Ästhetik, Kunst, Literatur, Linguistik, Architektur usf. − zu behaupten wusste und sich mit innovativen Begriffs- und Theoriebildungen als Diskursbegründer hervortat. Als solcher ist er vorübergehend schulbildend geworden, galt als Vorbild und Anreger zahlreicher Denkpartner, die sich zu einem international agierenden Konsortium von „Derridisten“ vernetzten.
Nicht nur philosophische beziehungsweise philosophierende Autoren wie Deleuze, Lacoue-Labarthe, Nancy, Kofman, Schestag, Hamacher oder de Man, auch Erzähl- und Wortkünstler wie Edmond Jabès und Hélène Cixous waren dem Derridismus verpflichtet und haben ihm zugedient. Von Derridas Denk- und Schreibweise waren sie alle so weitgehend imprägniert, dass man von einem „derridistischen“ Kollektivstil reden könnte – eine diesbezügliche Charakterisierung des Meisters müsste demnach ebenso auf dessen Kollegen und Adepten zutreffen; darauf jedenfalls sind die nachfolgenden Beobachtungen, Überlegungen und Textbeispiele angelegt.
Seinen Innovationsanspruch hat Jacques Derrida auf formaler Ebene durch eine Reihe von Neologismen bekräftigt, die er eigens einführte, um die Spezifika und Topoi seines Denkens auf den Begriff zu bringen. Entsprechende Termini − Logozentrismus, Phallogozentrismus, Dekonstruktion, Dissemination, Differänz (für „différance“, statt différence), Verabgründung (für „mise en abyme“, statt abîme), Zirkumfession (kontaminiert aus aus „Zirkumzision“ und „Konfession“) u.a.m. – wurden, ihrer fachsprachlichen Komplexität zum Trotz, weltweit erstaunlich bereitwillig übernommen und sind derweil in alle einschlägigen Handbücher zur Philosophie der Postmoderne eingegangen.

Über Bedeutung und Funktion dieser und anderer Begriffsbildungen ist viel debattiert worden, auch Derrida selbst hat sich dazu vernehmen lassen − sein eigener Name bezeichnet nicht mehr nur ihn selbst als Person oder als Autor seiner Texte, vielmehr steht er für eine neue unverwechselbare Rhetorik philosophischer Rede, die man auch schon mal als „Derridada“ ironisiert und als ludistisch, spekulativ, ambivalent, subjektivistisch, weitschweifig oder pleonastisch abgefertigt hat. Das Ungenügen an der Sprache als Medium der Welterfassung, der Weltbeschreibung und Welterklärung sollte nicht nur durch reichlichen Metapherneinsatz ausgeglichen werden, mithin durch ein primär poetisches Verfahren, sondern auch dadurch, dass man viele vorhandene, angeblich defizitäre Begriffe kraft eigenwilliger Vergleiche oder Analogiebildungen bedeutungsmäßig erweiterte, variierte, verfremdete und auf diese Weise neu fassbar machte.
Dafür kamen in aller Regel lautgleiche oder lautähnliche Wörter zum Einsatz, aber auch willkürliche etymologische Herleitungen und Neologismen unterschiedlicher Bauart. Die meisten dieser erneuerten oder neu geschaffenen Begriffe funktionierten als sogenannte Kofferwörter, die jeweils ein anderes oder mehrere andere Wörter in sich tragen sollten. Um diese Funktion zu bewerkstelligen, genügt es, einen vorgegebenen Begriff lautlich oder buchstäblich entsprechend zu manipulieren. Allein schon die unkonventionelle („falsche“) Worttrennung kann ungeahnte Bedeutungen freisetzen, etwa wenn „Staatsexamen“ in Staat / Sex / Amen aufgeteilt wird, oder „unsicher“ in uns / ich / er, wie der Wortkünstler Beat Gloor es in seinen poetischen Lexika vorgemacht hat. In derridistischen Schriften finden sich für solche Wortfügungen beliebig viele Beispiele, ingeniöse und triviale gleichermaßen, die freilich alle, linguistisch wie philosophisch, als obsolet gelten müssen.

Als Muster kann das Wort – der Name – (für) „Gott“ dienen. „Gott“ bezieht sich auf jemanden oder auf etwas, das in der Realität nicht fassbar ist, das es, den es womöglich gar nicht gibt. Das Wort, der Name dafür ist also reine Fiktion oder reine Poesie, da es auf nichts Bekanntes, Konkretes zu beziehen ist. Wenn für „Gott“ ähnlich lautende Begriffe wie theos, deus, dio, dieu geschaffen wurden, aber auch völlig anders geartete wie god (engl.) oder bog (slaw.), so ist allein dies ein Indiz dafür, dass der Wortlaut mit der Wortbedeutung nicht harmoniert. Geht man nun weiter und permutiert beispielsweise das englische „god“ (Gott) in umgekehrter Lautfolge (Palindrom) zu „dog“ (Hund), stellt sich klar heraus, dass derselbe Letternbestand etwas gänzlich anderes benennt.
Das ist satirisch und polemisch ausgiebig genutzt worden, hat aber keinerlei rationale Grundlage – so wenig wie die Tatsache, dass das russische Wort für „Gott“ (bog) im Englischen für „Sumpf“, „Morast“ steht. Ähnlich prekär ist die poetische Analogiebildung von französisch „dieu“ (Gott) zum gleichlautenden „d’yeux“ (von Augen) oder, noch frappierender, von „naître“ (geboren werden) und „n’être“ (nicht sein).
Doch ebensolche Manipulationen liegen den Begriffsbildungen Derridas und seiner Anhänger zu Grunde: phonologische und etymologische Phantasielösungen sollen rationale Argumente ersetzen, aber sie sollen auch traditionelles, eingeübtes Denken von seiner begrifflichen Gebundenheit und Vorbestimmung befreien. „Man geht zu Grunde, wenn man immer zu den Gründen geht.“ Friedrich Nietzsches wortspielerisches Votum aus den „Dionysos-Diythyramben“ hält dies nicht nur kurz und bündig fest, es verwendet dazu auch genau das assonantische Verfahren („Grund“ physisch vs. „Grund“ logisch), das es verwirft. Nietzsches meistzitiertes Diktum – „Gott ist tot!“ – gewinnt seine rhetorische Prägnanz im Übrigen gerade aus der Klangähnlichkeit von „-ott“ / „-ot“, die gleichzeitig für die Unvereinbarkeit von Unsterblichkeit und Tod einsteht, eine Wirkung, die ausgeblieben wäre, wenn Nietzsche „Gott“ nicht für „tot“ erklärt, sondern als gestorben, gestürzt, verschwunden o.ä. bezeichnet hätte.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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