Begriffsbildung als Übersetzungsverfahren – Jacques Derridas poetische Rhetorik (7)

Zweifellos hat Jacques Derrida mit seinen ingeniösen Sprachspielen den philosophischen Diskurs bereichert, gleichzeitig hat er ihn allerdings verunklärt durch die Auflösung und Neuaufmischung der einschlägigen Begrifflichkeit. Begriffsform und Begriffsinhalt sind davon gleichermaßen betroffen, auch dann, wenn die Wortspielerei darauf beschränkt bleibt, einen Begriff nicht nur in seiner konventionellen Bedeutung einzusetzen, sondern möglichst viele, auch widersprüchliche Bedeutungen zur Geltung zu bringen − ein Verfahren, das Derrida auf die alten Sophisten zurückführt und das er kritisch als „Manipulation von leeren Zeichen“ beschreibt. Um nicht seinerseits in den Verdacht der Sophisterei − des Spiels mit der trügerischen Identität der Signifikanten − zu geraten, schlägt er sich auf die Seite der Dichter, die gerade umgekehrt „mit der Vielzahl der Signifikate“ operieren, „jedoch um zur Sinnidentität zurückzugehen“. Mit diesem Vorsatz hat Derrida seine eigene, bisweilen befremdliche Redeweise entwickelt, die ihm unter Literaten und Künstlern aller Disziplinen viel Bewunderung eingebracht hat, während er, eben deshalb, in akademischen Kreisen vielfach auf Skepsis und Kritik stieß.
Doch an wissenschaftlicher Stringenz und Überprüfbarkeit ist Derrida weit weniger gelegen als an sprachlicher, ja poetischer Einprägsamkeit − begriffslogischer Argumentation zieht er allemal die assoziative Improvisation vor. Nicht zuletzt von daher erklären sich wohl seine höchst produktive Denkpartnerschaft mit Martin Heidegger und seine nicht minder produktive Zuwendung zu literarischen Autoren wie Michel Leiris, Francis Ponge, Edmond Jabès oder zu dem „sprachverrückten“ Autodidakten Jean-Pierre Brisset, die allesamt davon ausgingen, dass die textbildende Initiative den Wörtern als solchen zu überlassen sei, die sich durch lautliche Assoziationen zu Sätzen beziehungsweise Versen fügen sollten, und nicht durch auktoriale Disziplinierung. „Der Wahnsinn“, stellte Derrida einst nüchtern fest, „muss über das Denken wachen.“

[Der vorliegende Essay basiert hauptsächlich auf den folgenden Texten von Jacques Derrida: L’Écriture et la différence (1967), Glas (1974), La Carte postale (1980), Signéponge (1988), Donner la mort (1992), Fichus (2002), L’Animal que donc je suis (2006), Pardonner (2012) usf. – Émile Littré, Pathologie verbale, Paris 1986; Jean Paulhan, La Preuve par l’étymologie, Cognac 1988; Eckhard Schumacher, Die Ironie der Unverständlichkeit, Frankfurt a.M. 2000. – Die wohl umfangreichste Sammlung von „Derridismen“ (wortspielerische Begriffsbildungen) findet sich im Apparat zur deutschsprachigen Ausgabe des Buchwerks Glas (2006), S. 293-320.] 

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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