Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.15 )

Heinrich von Kleist hat die Frage nach der existentiellen Bedeutung und der lettristischen Manipulierbarkeit des Eigennamens in seiner Novelle „Der Findling“ beispielhaft abgehandelt, indem er den Protagonisten, Nicolo, mit einem Doppelgänger konfrontierte, dessen Name – Colino – aus denselben, wenn auch anagrammatisch versetzten Schriftzeichen besteht. Nicolo selbst findet die gleichsam magische Übereinstimmung heraus und glaubt darin eine höhere Fügung zu erkennen: Was buchstäblich übereinstimmt, müsste auch in der Wirklichkeit … müsste auch im Leben mehr als bloßer Zufall sein.
Das Französische … nur das Französische hält für diese Übereinstimmung eine exakte klangliche Entsprechung bereit – die Homophonie von „lettre“ (Buchstabe, auch: Brief) und „l’être“ (das Sein). Der Glaube … die Hoffnung, dass der Name buchstäblich „Schicksal“ spielt und die Richtigkeit der Doppelgängerei bestätigt, ist bei Kleists Nicolo/Colino ebenso akut wie der Zweifel daran.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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