Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.21 )

Die Achmatowa war sich der Zitathaftigkeit ihres „Poems ohne Held“ durchaus bewusst; ohnehin war sie überzeugt davon, dass alle Literatur als ein „grandioses Zitat“ zu lesen sei und dass jeder neue Text … wie auf einem Palimpsest … einem alten Text nachgeschrieben werden müsse.
Nachschreiben, überschreiben … auch eine Art von Übersetzung. Der Akt des Schreibens, so verstanden, kann immer nur ein Schattenwurf, ein Spiegeleffekt, ein „zweiter Schritt“ sein, so etwas wie „ein Echo, das sich für den Ursprung hält, das selber spricht und Fremdes nicht bloß wiederholt“. In einer unadressierten Widmung zum „Poem ohne Held“ heißt es dazu:

und weil ich kein Papier mehr habe, schreibe
ich dies auf deinem Manuskript, und sieh:
ein fremdes Wort erscheint, das längst verblich,
und taut, wie damals jene Flocke Schnee
auf deiner Hand …

Hier wird noch einmal deutlich gemacht, dass der eigene Text stets einem fremden Text nachgeordnet ist; dass folglich jeder Text die Erinnerung an andere, frühere Texte wachzuhalten vermag. Literarische Traditionszusammenhänge werden dadurch nicht nur bewahrt, sondern auch permanent erneuert, denn … so liest man im ersten Teil des „Poems ohne Held“ … „wie im Vergangnen das Künftige reift, / so glimmt im Künftigen noch das Vergangne …“

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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