Beim Übersetzen von Übersetzungen. Fünf Sonette nach Shakespeare aus russischen Übersetzungen ins Deutsche gebracht (4)

Vorbemerkung. – Am Beispiel von einigen mehr oder minder zufällig ausgewählten Sonetten William Shakespeares soll nachfolgend aufgezeigt werden, in wie weit und in welcher Weise der Inhalt, also die Aussage, die Mitteilung eines poetischen Texts durch dessen Übersetzung in eine andere Sprache verändert, allenfalls angereichert oder auch verfälscht wird.
Die hier gewählte Versuchsanordnung besteht darin, die Shakespeare’schen Sonette anhand diverser russischer Übersetzungen in einem zweiten Übertragungsschritt – als Übersetzung der jeweiligen Übersetzungen – ins Deutsche zu bringen. Die deutschsprachige Fassung der einzelnen Sonette wird also auf dem Umweg über eine dazwischen geschaltete Fremdsprache, in diesem Fall das Russische, erarbeitet.
Formale Experimente, wie man sie, in unterschiedlicher Durchführung, von manchen zeitgenössischen Nachdichtern kennt, werden im vorliegenden Projektzusammenhang nicht nur nicht angestrebt, sondern konsequent vermieden. Damit der zweistufige Übertragungsvorgang (englisch > russisch > deutsch) die dabei eintretenden semantischen Verschiebungen – egal, ob diese nun als Bedeutungsverlust oder als Bedeutungsgewinn zu registrieren sind – tatsächlich erkennbar machen kann, muss die jeweilige strukturelle Anlage der Texte genau eingehalten beziehungsweise nachgebaut werden. Nur so wird sich einschätzen lassen, wie die formalen Prämissen (Metrum, Reim usw.) und deren Realisierung die Aussage der Gedichte einschränken oder auch, indem sie immer wieder neue Phantasielösungen erzwingen, produktiv erweitern.
Die als Vorlagen verwendeten russischen Übersetzungen aus Shakespeares Sonetten halten sich allesamt streng an eine bestimmte Vers- und Strophenform, sind auch in jedem Fall gereimt, dies jedoch nicht immer in exakter Übereinstimmung mit dem Original. Mehrere russische Nachdichtungen weisen Abweichungen in Bezug auf das Reimschema, die Reimqualität (männlich/weiblich) auf, gelegentlich erhält der Shakespeare’sche fünfhebige Jambus im Russischen sechs Versfüße, während anderseits die deutschen Nachübersetzungen sämtliche strukturellen Eigenschaften der russischen Textvorlagen unverändert beibehalten. Dies ist denn auch der Grund dafür, dass es – bedingt durch den größeren Formzwang – zwischen den deutschen und russischen Fassungen mehr semantische Differenzen gibt als zwischen den russischen und englischen.
Um alle Textstufen der Übersetzungsreihe in Evidenz zu halten, wird dem englischen Originalsonett sowie der entsprechenden russischen Übersetzung jeweils eine deutsche Interlinearversion beigegeben, die den Textvergleich auf der Aussageebene ermöglicht und die außerdem die inhaltlichen Abweichungen verdeutlichen kann, die sich bei der formstrengen Übersetzung englisch > russisch und russisch > deutsch ergeben. Bei den russischen Texten, die auf verschiedene Urheber aus dem 20. Jahrhundert zurückgehen, differiert der Abweichungsgrad erheblich, je nachdem, durch welchen Zeit- und Personalstil die Übersetzungen geprägt sind. Um dies zumindest punktuell zu dokumentieren, wurden von einem der Sonette (LXVI), zwei russische Fassungen berücksichtigt.
Oft ging die „Freiheit“ beziehungsweise der Eigenwille der „Übersetzer“ (bei denen es sich mehrheitlich um praktizierende Dichter handelt) so weit, dass sie unter ihrem eigenen Namen Gedichte als „Übertragungen“ oder „Nachahmungen“ fremdsprachiger Vorlagen im Druck erscheinen ließen. Der Übersetzer maßte sich also mit großer Selbstverständlichkeit die Rolle eines Autors an, während der Originalverfasser, falls überhaupt, lediglich als Quelle vermerkt wurde, aus der man geschöpft hatte – „aus Goethe“, „aus Heine“ oder eben „aus Shakespeare“.
Hinzuweisen ist hier – nebenbei – auf die Tatsache, dass im zaristischen Russland wie auch in der UdSSR das Geschäft des Übersetzens oftmals, aus Zensurgründen, als eine spezifische Art äsopischer Rede praktiziert wurde. Was offen nicht gesagt, nicht publiziert werden konnte, ließ sich in vielen Fällen unter dem Namen unverdächtiger ausländischer Autoren in Form von mehr oder weniger „freien“ Übersetzungen in Umlauf bringen. Die hier versammelten Beispieltexte belegen, wie frei – man könnte auch sagen: wie willkürlich – gewisse Autoren sich die Shakespeareschen Sonette zu eigen machen. Schon die unterschiedliche Adaptation der Sonettstruktur (Aufteilung der Strophen, Versmetrum, Reimschema usw.) ist ein Anzeichen dafür.
Bei den Rohübersetzungen der englischen wie der russischen Vorlagen wurde darauf geachtet, nicht nur die Aussage der Texte möglichst adäquat wiederzugeben, sondern auch die Syntax, die Wortfolge, die Zeilensprünge sowie Besonderheiten der Interpunktion. Doch auch bei der noch so textnahen Wort-für-Wort-Übersetzung gehen naturgemäß sämtliche Lautqualitäten, vorab die Endreime, aber auch manche Wortspiele, bildhafte Ausdrücke, Redensarten und nicht zuletzt die zitathaften (intertextuellen) Anspielungen verloren. Solche Verluste werden in den poetisch instrumentierten, semantisch offeneren Zweitübersetzungen aus dem Russischen zumindest teilweise kompensiert durch analoge deutschsprachige Strukturbildungen, die neu erarbeitet werden mussten und deren Einbringung ins Gedicht die Textbedeutung – nach dem ersten Transfer vom Englischen ins Russische – ein weiteres Mal erheblich modifiziert hat.

[Zu den vorliegenden Originaltexten und für die Übersetzungen wurden folgende Buchausgaben verwendet: William Shakespeare, The Sonnets and A Lover’s Complaint, edited by John Kerrigan, Penguin Books, Harmondsworth 1986. – Vladimir Nabokov, Krug, Izd-stvo Chudožestvennaja literatura: Leningrad 1990 (Nabokov XXVII); U[il’jam] Šekspir, Sonety, Izd-stvo Detskaja literatura: Moskva 1988 (Marschak XXVIII); Uil’jam Šekspir, Sonety, TOO Letopis: Moskva 1997 (Brjussow LX, Tschajkowskij LXVI); Boris Pasternak, Sinij cvet (Izbrannye stichotvorenija poėtov Vostoka i Zapada), Izd-stvo Sovetskaja Rossija: Moskva 1990 (Pasternak LXXIII); Vjačeslav Kuprijanov, Ėcho (Stichotvorenija), Izd-stvo Sovremennik: Moskva 1988 (Kuprijanow LXVI).]

 

4

William Shakespeare: [LX]

Like as the waves make towards the pebbled shore,
So do our minutes hasten to their end;
Each changing place with that which goes before,
In sequent toil all forwards do contend.
Nativity, once in the main of light,
Crawls to maturity, wherewith being crown’d,
Crooked elipses ’gainst his glory fight,
And Time that gave doth now his gift confound.
Time doth transfix the flourish set on youth
And delves the parallels in beauty’s brow,
Feeds on the rarities of nature’s truth,
And nothing stands but for his scythe to mow:

And yet to times in hope my verse shall stand,
Praising thy worth, despite his cruel hand.

LX (Interlinear E>D) – Wie die Wellen zurollen auf den Kieselstrand, / So hasten unsere Minuten zu auf ihr Ende; / Jede ihren Platz wechselnd mit der, die ihr vorangeht, / Mit der Mühe des Folgenden doch jedes Vorwärts sich abkämpft. / Geburt, sobald inmitten Lichts, / Kriecht hin zur Reife, damit gekrönt zu werden, / Schlimme Finsternisse kämpfen gegen den Ruhm, / Und Zeit, die gab, jetzt das Geschenk zerstört. / Die Zeit durchsticht die Blüte aufgesetzt der Jugend, / Und höhlt die Parallelen in der Schönheit Braue, / Ernährt sich von den Seltenheiten der Wahrheit der Natur, / Und nichts steht, außer für die Mahd der Sichel. // Und doch, in alle Zukunft soll mein Gedicht stehen, / Preisend deinen Wert, trotz ihrer grausamen Hand.

Walerij Brjussow

Как волны набегают на каменья
И каждая там гибнет в свой черед,
Так к своему концу спешат мгновенья,
В стремленьи неизменном – все вперед!
Родимся мы в огне лучей без тени
И к зрелости бежим; но с той поры
Должны бороться против злых затмений,
И Время требует назад дары.
Ты, Время, юность губишь беспощадно,
В морщинах искажаешь блеск красы!
Все, что прекрасно, пожираешь жадно,
Ничто не свято для твоей косы.
И все ж мой стих переживет столетья:
Так славы стоит, что хочу воспеть я!

LX (Brjussow, interlinear R>D) – Wie die Wellen auflaufen auf die Steine / Und jede dort zu Grunde geht in ihrer Reihenfolge, / So hasten auf ihr Ende zu die Augenblicke, / In unverwandtem Streben – stets voran! / Geboren werden wir in einem Feuer von Strahlen ohne Schatten / Und zur Reife eilen wir; doch seit der Weile / Messen wir kämpfen gegen schlimme Eindunkelungen, / Und die Zeit verlangt zurück die Gaben. / Du, Zeit, verdirbst erbarmungslos die Jugend, / In Runzeln entstellst du den Glanz der Schönheit, / Alles, was herrlich ist, verschlingst du gierig, / Nichts ist heilig für deine Sense. / Und gleichwohl überlebt mein Vers Jahrhunderte: / So lohnt den Ruhm, was ich besingen will!

Felix Philipp Ingold 

So wie die Wogen auf die Klippen prallen
Und eine wie die andre untergeht,
So hasten unsre Stunden in die Fallen
Der Zeit, zum Ende hin – voran! Verweht!
Wir kommen aus dem fahlen Meer der Strahlen
Und wollen – mehr ! Wir reifen im Vergehn,
Bekämpfen wüste Schatten – ob sie fallen?
Was wir vertun, die Zeit will’s wieder sehn.
Du, Zeit, machst Jugend gnadenlos zunichte,
Versenkst die Anmut bald im Runzelgrund,
Verzehrst, was uns gefällt – das Schöne, Schlichte.
Wo deine Sense geht, ist alles wund.
Doch mein Gedicht besteht, trotzt allen Zeiten:
Ruhm wird, was ich besinge, stets begleiten.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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