Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.18 )

Wenn im Russischen das Wort für „Stimme“ – golos – in seiner buchstäblichen Zusammensetzung mit dem griechischen Wort für „Wort“ – logos – exakt übereinstimmt, kann dies … mag dies Anlass zu mancherlei Spekulationen geben. Doch beweisen lässt sich damit nichts, und die Übereinstimmung hat auch nichts zu bedeuten. Tatsächlich wird sie hinfällig, sobald man die beiden Wortbedeutungen in andern Sprachen begrifflich festhält – im Deutschen haben „Stimme“ und „Wort“ weder lautlich noch buchstäblich etwas miteinander zu schaffen; ebenso wenig „voix“ und „parole“ (oder „mot“ bzw. „vocable“) im Französischen, „voice“ und „word“ im Englischen. Fasst man allerdings die Sprachen in vorbabelschem Verständnis als die Sprache auf, ausgehend davon, dass alles Gesprochene – gleich, in welchem Idiom – Sprache ist, dann hätte die anagrammatische Übereinstimmung von „golos“ und „logos“ womöglich doch einen vernünftigen Sinn; und …
… oder was wäre zu schließen aus der buchstäblichen Übereinstimmung von „Gras“ und „Sarg“ oder „arg“ und „gar“ im Deutschen? Für Kinder ist klar … für Kinder ist es jedenfalls nicht überraschend, dass sich im umgekehrten „Regen“ immer ein „Neger“ versteckt hält und dass der „Nebel“ selbstverständlich zum „Leben“ gehört, denn sie können … sie wollen das Palindrom nicht für einen Zufall halten, für sie steht fest, dass solche Wortkonstrukte auf einen unbekannten Wortkonstrukteur zurückgehen.
Man mag den Konstrukteur als Gott bezeichnen oder die Konstruktion als numerisches Kombinationsspiel ausweisen, am magischen Zauber ändert es nichts. Auch liegt es nah (und ist überdies bequem), offenkundigen Unsinn in kindlichem Sprachvertrauen mit Sinn zu erfüllen. Was hätte denn – im Französischen – die lautliche Identität von „Stimme“ (voix), „Weg“ (voie) und „sieh“ oder „sehe“ (vois) zu bedeuten? Dass man den Weg der Stimme sehen kann? Sollte also, was buchstäblich oder lautlich exakt übereinstimmt, nicht auch der Bedeutung nach übereinstimmen? Das ist offenkundig nur ganz selten der Fall oder, anders gesagt, es ist ein seltener Zufall.
Merkwürdig doch, dass demgegenüber die Nichtübereinstimmung von Wortlaut und Wortbedeutung in und zwischen allen Sprachen der Normalfall ist.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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