Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.2 )

Bei Arno Borst lese ich … aus dem Babelbuch von Arno Borst erfahre ich, dass Fremdsprachen in manchen archaischen Hochkulturen als Tiersprachen verunglimpft, die sogenannten Barbaren also dem Tierreich zugerechnet wurden. Zum Vergleich verwies man häufig auf die Sprache der Vögel – wer eine andere Sprache als „wir“ verwendete, der kam über ein unverständliches Tschilpen oder Zwitschern oder Gackern nicht hinaus.
Was mich an eine Episode erinnert, die einst Fjodor Dostojewskij in einem kritischen (von der Zensur unterdrückten) Pressebericht festhielt: Demnach rügte Zar Alexander II. anlässlich einer Audienz den Sprecher einer kirgisischen Delegation, weil er ihr Anliegen nicht in korrekter Amts- beziehungsweise Nationalsprache vorzutragen vermochte – wer als Bittsteller am Hof akzeptiert werden wollte, musste sich der großrussischen Sprache bedienen, sie also erlernt und sich zu eigen gemacht haben.
Ähnlich wird heute, anderthalb Jahrhunderte danach, in Ländern der EU mit Immigranten verfahren, die der jeweiligen Landessprache nicht mächtig sind. Hier geschieht es, selbstredend, aus praktischen und integrationstechnischen Gründen, unterschwellig hält sich aber wohl noch immer die Vorstellung einer dominanten Nationalsprache und einer nationalen Leitkultur, die sich alles Fremde durch die Forderung nach Anpassung unterwirft und solche Unterwerfung als gelungene Integration begreift.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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