Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.3 )

Rainer Maria Rilke hat die Sehnsucht des Dichters nach einer Sprache, die nichts als ein großer Laut wäre, in seinen „Improvisationen aus dem Capreser Winter“ namhaft gemacht. Als die reine … als die eine Sprache gilt auch hier die unartikulierte Kundgabe des Tiers, das dem Göttlichen näher steht als dem Menschlichen: „Mein Dunkel, mein Dunkel, da steh ich mit dir, | und alles geht draußen vorbei; | und ich wollte, mir wüchse, wie einem Tier, | eine Stimme, ein einziger Schrei | für alles –. Denn was soll mir die Zahl | der Worte, die kommen und fliehn, | wenn ein Vogellaut, vieltausendmal, | geschrien und wieder geschrien, | ein winziges Herz so weit macht und eins | mit dem Herzen der Luft, mit dem Herzen des Hains | und so hell und so hörbar für Ihn …“

In vorsprachlichen Urworten, in klingenden Wortkernen und Wortsamen hätte Rilke, der Wortgewaltige, reden wollen, um mit der Natur, und mehr als dies – mit dem göttlichen Kosmos ins Gespräch zu kommen. Der Schrei einerseits, das Schweigen anderseits hätte ein solches Idiom sein können, dessen einzige Verlautbarung das Verlauten gewesen wäre. Für Rilke scheint diese elementarste, auch Tieren erreichbare Art der Verlautbarung die höchste Form des Gebets gewesen zu sein.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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