Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.8 )

Ich lese Marina Zwetajewas Requiem auf Rainer Maria Rilke gern, wenn ich entsprechenden Besuch habe, in meiner Übersetzung vor; war auch unlängst wieder – beim Lesen und durch das Lesen – hingerissen und erschüttert von der Gewalt … von der Gewalthaftigkeit einer Liebes- und Abschiedserklärung, die den Tod dichterisch zu überbieten sucht:

Schreibst Du weiter –
Dort ? Du bist – ist Vers: bist selber beides
– Vers und Du ! Wie schreibt es sich am hohen
Ort ? Kein Tisch für Deinen Arm. Die hohle
Hand – und keine Stirn.
Für mich – Kassiber !
Neue Reime, Rainer, magst Du lieber ?
Reim – das heißt nichts anderes als – wenn nicht
Neue Reime – Tod !
Die Sprache: Kenn ich !
Neu der Wohlklang, die Bedeutung – anders.
– Nun, auf Wiedersehn ! Ob wir einander
Treffen, weiß ich nicht, jedoch zusammen
Singen – ja ! Mit der mir fremden Erde,
Rainer, mit dem Meer – ich: werde ! –

Die Dichterin tritt hier in der Rolle … sie maßt sich hier die Rolle des Sängers Orpheus an, der die tote Geliebte ins Leben, in die Wirklichkeit zurückruft und sie, eben deshalb, endgültig verliert.
Doch Marina Zwetajewa behauptet sich in ihrer Hosenrolle siegreich – in ihrem Abgesang bleibt der Verschiedene für immer präsent.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00