Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.9 )

Aus verschiedensten Sprachen – vom Polnischen über das Englische bis zum Litauischen – hat der Dichter Joseph Brodsky seit seiner Jugend in großem Umfang Lyrik übersetzt. Um so auffallender bleibt, dass er nur einen einzigen Text aus dem Deutschen ins Russische gebracht hat – Hans Leips populären Songtext „Lili Marleen“.
Von manchen seiner Freunde und Kollegen weiß man, wie schwer sich Brodsky mit dem Deutschen getan hat. Zu Deutschland und den Deutschen blieb er stets auf Distanz, deutsche Motive begegnen in seinem essayistischen und lyrischen Werk nur ausnahmsweise. Eine solche Ausnahme ist sein großer Aufsatz über Rainer Maria Rilkes Langgedicht „Orpheus. Eurydike. Hermes“, das Brodsky nur in englischer Übersetzung zugänglich war und dessen Lektüre ihm gleichwohl zu einem Meisterstück einfühlender Interpretation geriet.
Es ist tatsächlich staunenswert, wie hier ohne Zugriff auf den Originaltext ein komplexes sprachkünstlerisches Gebilde erschlossen und neu zum Sprechen gebracht wird. Dass es sich bei der Vorlage um einen Text deutscher Sprache handelt, scheint für Brodsky weniger relevant zu sein als dessen mythologischer Gehalt und die poetische Rede schlechthin, die für ihn an sich so etwas wie eine Fremdsprache ist – oder deren Übersetzung; gemeint ist damit eine „übersprachliche Erhabenheit“, wo „die Liebe des Klangs zum Sinn“ bestimmend ist und nicht die außerliterarische Bedeutung.

Nun ist es aber keineswegs der elitäre Rilke, sondern der volkstümliche Hans Leip, der dem russischen Jungdichter den Zugang zur deutschen Kultur verschafft hat. „Lili Marleen“, Brodskys Lieblingslied, steht für die Glitzerwelt des deutschen Films, des deutschen Schlagers, der deutschen – weiblichen – Stars, von denen Zarah Leander den stärksten Eindruck hinterließ, so stark und so nachhaltig, dass sie viel später als moderne Referenzgestalt in die „Zwanzig Sonette an Mary Stuart“ einging.
In einem autobiografischen Versuch über seine Kindheit und Jugend („Kriegsbeute“) hat Joseph Brodsky die Begeisterung zu vergegenwärtigen und zu erklären versucht, in die er durch die desolate Hinterlassenschaft des „faschistischen Erzfeinds“ nach dem Großen Vaterländischen Krieg versetzt wurde. Allein schon deutsche Marken- und Firmennamen wie „Junkers“ oder „Focke-Wulf“, „Krupp“ oder „IG Farben“ waren für ihn wegen ihres ungewöhnlichen Klangs eine akustische Sensation, und Fundstücke aller Art aus der Okkupationszeit, aber auch Trophäen aus Gedenkstätten und Kriegsmuseen führten dem neugierigen Schüler Dinge vor Augen, die an Qualität und Design alles übertrafen, was die siegreiche Sowjetunion zu bieten hatte – perfekt verfertigte militärische Utensilien wie etwa ein deutsches Marinefernglas (Zeiss !), eine Offiziersmütze mit blitzendem Abzeichen oder ein Kurzwellenradio (Philips !) regten die Fantasie und heimliche Bewunderung für den einstigen Kriegsgegner ebenso nachhaltig an wie „die schwarz lackierten Kotflügel der überlebenden deutschen BMW-und Opel-Limousinen“. – Und alles war durchwirkt und getragen von der erotischen Aura „germanischer“ Frauen vom Typ der Marlene Dietrich oder Ingrid Bergman, die den pubertierenden Jungen – Brodsky selbst bekennt es – für immer auf das Ideal der platinblonden nordischen Schönheit festgelegt haben.

Doch in der Folge verblasste für Brodsky das frühe deutsche Faszinosum in dem Maß, wie er späterhin zu erkennen glaubte, dass die offizielle Sowjetrhetorik durch den Jargon marxistischer Traktate „stark germanisiert“ und zutiefst „verdorben“ war. – In einem seiner letzten Interviews verwies er auf die Herkunft Lenins, der familiäre Rückverbindungen nach Deutschland hatte und für den das Deutsche gewissermaßen die Vatersprache war.
„Wenn also Lenin seinen Marx liest, dann liest er das, was ihm ohnehin nahe ist. Er liest etwas Eigenes“, meint Brodsky. „Dazu kommt der russische Minderwertigkeitskomplex. Wir hatten ja nie eine eigene politische Philosophie. Niemand bei uns hat ein ›Kapital‹ verfasst. Das ›Kapital‹ ist deutsch geschrieben. Für Lenin also in seiner eigenen Sprache.“ Und diese germanisch imprägnierte Sprache wurde nach der Machtergreifung der Bolschewiki zum Newspeak des Sowjetregimes und zum Jargon der marxistisch-leninistischen Staatsideologie.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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