Für einen erweiterten Übersetzungsbegriff – Vorschläge, Beispiele, Fragen (4)

Ich führe ein weiteres Textbeispiel an. Es handelt sich dabei um ein übersetzerisches Kondensat, das ich anhand des zwölfteiligen Gedichts „Post aetatem nostram“ (1970) von Joseph Brodsky durch diverse Kürzungen und eine gänzlich neue strophische Anordnung hergestellt habe. Die Nachdichtung aus dem Russischen beruht auf den unterschiedlich langen und unterschiedlich ausgearbeiteten Sektionen I bis V, die im Original 14 Strophen umfassen; von den insgesamt 107 ungereimten Verszeilen sind deren 20 erhalten geblieben, mithin rund ein Fünftel des ursprünglichen Gesamtbestands. Allen Verlusten zum Trotz ergibt sich in der Zielsprache ein, wie ich finde, starkes Gedicht, das einerseits künstlerische Eigenständigkeit beanspruchen kann und das anderseits den unverkennbaren Sound von Brodskys lyrischer Rhetorik bewahrt:

Post aetatem nostram

Ein Land für Narren – das Imperium. Zwei
marmorne Figuren – Satyr, Nymphe – fixieren
mit dem Blick den Grund des Teichs,
auf dessen Oberfläche Rosenblüten schwimmen.

Die Statuen, die Teiche werden rarer,
je mehr man sich vom Schloss entfernt. Fassaden
verlieren ihren Putz und Balkontüren
– sofern vorhanden – bleiben zu. Den Mauern

ist nachts der Schutz der Ruhe vorbehalten.
Die Bahn des Mondes strömt, verströmt sich,
wird von einem schwarzen Kahn geschnitten,
der katzengleich vorübergleitet und

sich auflöst in der Nacht – mit dem Signal:
es lohne nicht, sich weiter vorzuwagen.

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(Die Eigenart der Poesie ist die,
dass es für sie keine Begrenzung gibt.)

(nach Joseph Brodsky)

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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