Pseudonym – Die Namensänderung als Übersetzungsverfahren (1)

Bei zwischensprachlichen Übersetzungen wird in der Regel als einzige Wortart der Name – ob Personenname oder Ortsbezeichnung – unverändert aus dem Originaltext in die Zielsprache übernommen. Grund dafür ist die Tatsache, dass der Name vorrangig Identitäten festzuhalten und nicht Bedeutungen wiederzugeben hat. Lediglich Herrscher- und Heiligennamen sowie gewisse geographische Bezeichnungen werden gemeinhin übersetzt, was jedoch nicht zwingend ist und größtenteils auf die lautliche Adaptation beschränkt bleibt. Frz. Louis kann dt. als Ludwig wiedergegeben werden, russ. Pjotr wird frz. zu Pierre, dt. zu Peter, und it. Venezia wird dt. mit Venedig, engl. mit Venice wiedergegeben; dt. Mainz ist frz. Mayence, russ. Moskwa wird dt. zu Moskau, frz. zu Moscou, engl. zu Moscow. – In umgangssprachlichem Gebrauch können auch gängige Eigennamen (Vornamen) adaptiert werden; dt. Friedrich oder Fritz ist dann, zum Beispiel, russ. Fjodor oder Fedja, russ. Iwan wird frz. zu Jean, engl. zu John, it. zu Giovanni, sp. zu Juan, tsch. zu Jan, dt. zu Hans.
Um eigentliche Übersetzungen handelt es sich in all diesen Fällen aber nicht, da bei der lautlichen Angleichung die semantische Dimension des jeweiligen Namens ausgeblendet und also unberührt bleibt. Diese kommt nur dort zur Geltung, wo ein Name mit einem erklärenden oder umschreibenden Zusatz verwendet wird (z.B. frz. Charles le Téméraire als dt. Karl der Kühne, engl. King Lear als dt. König Lear oder dt. Klein Zaches als russ. Kroschka Zaches). – Insgesamt scheint aber doch zu gelten, dass der solcherart übersetzte Eigenname, auch wenn seine Lautgestalt noch so sehr abgewandelt wird, strukturell unangetastet, mithin in allen Sprachen gleichermaßen erhalten bleibt.
Spekulative Sprachtheorien, wie man sie aus mystischen und magischen Zusammenhängen kennt, gestehen den Eigennamen die Qualität von Urworten zu, die im Unterschied zum ansonsten gebräuchlichen Wortmaterial die babelsche Sprachverwirrung schadlos überstanden hätten. Namen sind demnach menschheitlicher Gemeinbesitz und gehören, zumindest in ihrem Grundbestand, dem Fundus der Weltkultur an.

Problematisch ist die Übersetzung von Eigennamen, wenn man von deren allgemeiner Geltung absieht und ihren individuellen Gebrauch berücksichtigt, vorab deshalb, weil der jeweils gegebene, übernommene, verwendete Name (der im Übrigen als einzige Wortart in den meisten alphabetischen Schriftsystemen mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben oder auf andere Weise vom Text abgehoben wird) wesentlich an der Identitätsbildung seines Trägers beteiligt ist.
„Durch den Namen“, so heißt es in einer einschlägigen Abhandlung von Pawel Florenskij, „entdeckt das Ich sich als Du und wird sich daher seiner selbst bewusst.“ – Dem ist aber sogleich beizufügen, dass dennoch kein Eigenname tatsächlich eigen, also einzigartig ist; dass vielmehr jeder Name mehrdeutig ist insofern, als er stets für mehrere, oft für unabsehbar viele Träger gleichermaßen Geltung hat. Einen Sonderfall bieten die Götternamen, vorab die Namen der monotheistischen Gottheiten, die als eine Vielzahl von Namen, wenn nicht gar als die Gesamtheit aller Namen gedacht werden können.

Doch vorab noch einmal zurück zum Eigennamen. Dieser ist, zumal im Hinblick auf seinen Träger, gekennzeichnet durch eine auffallende Ambivalenz, und zwar insofern, als er einerseits Identität zu stiften, Individualität zu beglaubigen hat, anderseits jedoch, für sich allein genommen, bedeutungsleer ist. „Der Name kommt uns bald als eine Fülle, bald als eine Leere vor, bald scheint er sich zu höchster existentieller Verdichtung aufzuladen, bald reduziert zu sein auf eine oberflächliche und nichtssagende verbale Konvention. Ein ganzes Leben konzentriert sich in ihm, indem es sich auf ein Zeichen beschränkt, dieses Zeichen jedoch ist bloß ein Zeichen; es hat uns nichts mitzuteilen.“ Eigennamen sind ohne Bedeutung (wenn auch keineswegs ohne Sinn), weil sie ja nicht durch bereits vorhandene Eigenschaften oder besondere Merkmale eines jeweils individuellen Trägers bestimmt sind – wer „Felix“ (der Glückliche) oder „Philipp“ (der Pferdefreund) heißt, braucht deshalb weder glücklich noch Pferdeliebhaber zu sein: Die Namen können zwar diese oder jene Bedeutung mit sich führen, finden dafür aber in den meisten Fällen keinen adäquaten Träger. Als Signifikant verfehlt dann der Eigenname in semantischer Hinsicht sein Signifikat; er ist so etwas wie ein Etikett, das unmittelbar auf den Namensträger bezogen wird, ohne dass dessen individuelle Eigenart oder Eigenschaften mitgemeint sind.
Auch der russisch-französische Romancier Romain Gary, der eigentlich Roman Kazew hieß, war es irgendwann einmal „müde, bloß ich selbst zu sein“, und fühlte sich „zutiefst angerührt von der proteischen Versuchung des Menschen: der der Multiplizität“. Gary gab dieser Versuchung nach und ging dabei noch über die hysterische Heteronymie eines Fernando Pessoa hinaus, indem er sein Lebensdrama nicht allein mit fremden Namen und fiktiven Biographien inszenierte, sondern es eigenmächtig mit einem realen Doppelgänger namens Paul Pawlowitch besetzte, den er unter dem Pseudonym „Émile Ajar“ zum fiktiven Autor mehrerer seiner (eigenen) Romane machte, die mittlerweile als „Gesammelte Werke“ vorliegen. – Auf sehr subtile Weise hat Gary im Übrigen den Lautwert seines französischen Pseudonyms zum Kunstnamen seines Doppelgängers in Beziehung gebracht: „Gary“ entspricht exakt dem russischen Wortlaut von gori (gesprochen „garí“, als Imperativ zu goret’, gesprochen „garét“, heißt brennen), während „Ajar“ – gesprochen „ashar“ – als Anagramm zum russischen Wort shará (Glut, Hitze, russ. gesprochen wie frz. „jará“) zu lesen ist…

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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