Übersetzung, Erinnerung, Wiederkehr

Es war einmal… es war im Sommer sechsundneunzig, genauer – am 25. Juli, als ich, nach einem kurzen Zwischenhalt in Kijew, wo ich Ilya Kutik zu einem guten Gespräch getroffen und auf dem Krestschatik, eher zufällig, im Bauchladen eines fliegenden Buchhändlers die äußerst seltene Erstausgabe von Ossip Mandelstams Gedichtband Stein („Kamen“, Sankt Petersburg 1913) entdeckt und nach einigem Hin und Her für fünfundsiebzig US$ plus meine Lieblingsuhr, eine Swatch von 1987 mit schwarzem Zifferblatt und schwarzen Zeigern, auch erworben hatte, im Zug in Richtung Lwiw unterwegs war, um dort, profitierend von der noch unter Gorbatschow, zu Sowjetzeiten, angesagten „neuen Transparenz“ im städtischen Archiv – meine Groß- und Urgroßeltern mütterlicherseits waren in Lwiw beheimatet gewesen – nach Familiendokumenten zu suchen.
Es war, gewissermaßen, eine Reise zu den Quellen; und tatsächlich bin ich denn auch, gebeugt über unerwartet ergiebige und schicksalsträchtige Funde, meinen Vorfahren um vieles näher gekommen. Doch nicht davon ist die Rede hier. Ich will bloß auf einen ziemlich trivialen Begleitumstand jener Reise verweisen… darauf nämlich, dass – und wie – ich in einem Augenblick der Selbstvergessenheit an mich erinnert wurde; und welchen Weg es brauchte, um in solcher Ferne – also bei mir selbst – anzukommen. Ich berichte, wie unerheblich das Geschehene auch sein mag, kurz das Wichtigste.
Klopapier gibt es, soweit ich beobachten konnte, in den Toiletten der Ukrainischen Staatsbahnen ebenso wenig wie in öffentlichen Bedürfnisanstalten; statt dessen werden für den fraglichen Zweck weithin, wie eh und je, alte Zeitungen verwendet, die gewöhnlich blattweise oder in Fetzen in einem an der Wand befestigten Blechbehälter stecken, oft auch einfach auf dem Boden liegen. So. Und auch ich, man wird’s vermuten, suchte diesen Ort… diesen Abort während meiner Reise irgendwann mal auf, es war, wenn ich mich korrekt erinnere, nur wenige Minuten vor der Ankunft in Lwiw. Beim Verrichten des Geschäfts fiel mir unter den herumliegenden, teilweise mit Urin-, mit Blutspritzern oder mit bräunlichen Schuhtrittspuren beschmutzten Papieren eine angerissene Zeitungsseite mit Gedichten auf.
Auf Gedichte zu treten, mit Gedichten sich den Hintern zu wischen, war mir… ist mir – schon in der Vorstellung, geschweige denn in der realen Situation der Notdurft, wo ganz andere, nämlich menschliche „Bedürfnisse“ dominieren – zuwider. Also hob ich, wie um es vor weiterer Beschmutzung zu bewahren, jenes zerschlissene, halbwegs zerknitterte Blatt vom Boden auf, strich’s auf dem rechten Oberschenkel glatt, faltete es, steckte es ein.
Erst viel später, als ich mich umzog im Hotel und meine Ausweise und Fahrscheine aus der inneren Jackentasche holte, um sie beim Safe in der Reception zu deponieren, kam mir der Ausriss wieder in die Hand. Ich stand vor der offenen, mit einem großen Spiegel versehenen Schranktür, sah, wie ich den mehrfach gefalteten Zeitungsausriss wieder aufschlug… ich begann zu lesen.
Die Gedichte, russisch gedruckt, nahmen ungefähr ein Drittel der schräg von oben rechts nach unten links zerrissenen Seite ein; teilweise waren die Texte angerissen, der Name des Autors fehlte, auch war nicht auszumachen, welcher Zeitung das Blatt entstammte, da der Lauftitel oben links, vermutlich mit dem Erscheinungsdatum, ebenfalls abgerissen worden war.
Die Gedichte mussten also, da ihre Herkunft unbestimmt und – was mich anging – unbestimmbar war, für sich selbst sprechen. Immerhin kamen sie mir schon beim ersten Durchlesen merkwürdig vertraut vor; ich betone – merkwürdig, und doch auch vertraut. Und nun kürze ich ab… ich sage nur, dass ich die Texte, soweit sie erhalten geblieben waren, auf dem Rückflug von Kijew über Wien nach Zürich probeweise ein erstes Mal übersetzte, wobei der gleichzeitige Eindruck der Vertrautheit und Merkwürdigkeit sich noch einmal verstärkte, mich nun aber eher unangenehm berührte; zumindest wurde mir, im Vergleich mit andern russischen Autoren, die ich gelesen, zum Teil auch übersetzt hatte, klar, dass hier eine neue, eine befremdliche Stimme vernehmbar wurde, zu der es in der zeitgenössischen Dichtung Russlands, soweit sie mir vertraut war, keine Entsprechung gab und der ich folglich auch keinen Urheber zuordnen konnte. Momentweise stellte ich mir sogar die Frage, ob es sich bei den Texten vielleicht um Nachdrucke aus den zwanziger Jahren (Olejnikow? Wwedenskij? Charms?) handle.
Ein paar Wochen später, als ich bei einem Nachtessen im engen Freundeskreis von meiner Reise nach Lwïw erzählte und zu vorgerückter Stunde auch das eine oder andere jener Gedichte in meiner Rohübersetzung vorlas, wurde zu meinem Erstaunen sofort die Vermutung geäußert, die Texte könnten doch eigentlich nur von mir („von dir“) selbst geschrieben worden sein, und im selben Moment erkannte ich in meiner Übersetzung was?
Ich erkannte endlich den Urtext, und das heißt – ich erinnerte mich an das, was ich selbst einst geschrieben und dann, wie es bei mir üblich und auch notwendig ist, vergessen hatte. Hier… jetzt lege ich diese Texte, aus gegebenem Anlass im Druck vor – zuerst jeweils meine Übersetzung der Fragmente ins Deutsche, die nunmehr als Rückübersetzung zu gelten hat, und dann die ursprüngliche Fassung der Gedichte, die der unbekannte russische Übersetzer – was sich problemlos rekonstruieren ließ – dem Band „Restnatur“, erschienen 1994 bei Kleinheinrich in Münster, entnommen hat. Man nehme und lese sie als das, was Gedichte gemeinhin sind – Übersetzungen, deren Urtext wir nicht kennen.

1

[Titel und Textanfang (?) fehlen]

[…] wer
Welt aus Mir
schafft. Bleibt
Sonne
trotzdem drin.
Doch
nicht die Spur…

Gau

Und wer
die Welt aus der Welt
schafft. Bleibt
die Sonne
dennoch innen. Aber
keine Spur.

2

[Titel und Anfangszeile teilweise abgerissen]

[…ina] 

[…] enden. Ich lieb’s
dich sagen. Auch zu nächtigen
mit einem warmen Knochen.
Heißt Wort für Wort:

Ich lebe
in der Übersetzung fort und gut
genug. Leicht ist mir
dein Meer. Und also bodige
mich. Ich
tu dich vermehren. Dort
nämlich
wo

[Ende fehlt; Titel und Anfangszeile teilweise abgerissen] 

Marina

Hören auf. Ich liebe
dich zu sagen. Nur die Sprache
weiß. Mit
einem warmen Knochen
schlafen. Wörtlich heißt
„ich lebe“
in der Übersetzung
bon qu’á ça. Leicht ist mir
dein Meer. Und
also erde
mich. Ich mehre dich. Nur
aber wo
beginnt die Zeit
.

3

Sah Beet
An der Stirn prangt noch das Zeichen
Nein. Sowjet
für Zweie. Die strotzenden
Augen sind zugefallen
über einem Stein. Das Wollen
blind. Das Lächeln weiß.
Hast du
das Geschlecht
zu Fall gebracht.

Sabeth (I)

Auf der Stirn steht noch
das Nein. Rat
für gestern. Hellwach die Augen
zugeschlagen
überm Stein. Der Wunsch
ist blind. Das Lächeln weiß.
Du hast den Boden fallen
lassen.

4

Deutscher

Schwärzer schimmert
der Frühling wenn er jäh
aufspringt – doch Rosiges währt
innen. In etwa
wäre die Gesamtzahl der
Knospen – die Wahrheit. Und Zufall
das was bleibt. Und Love
einführen als Valuta – für
die Ewigkeit (heißt
danach). 

In allen Sprachen
ist Deutschland zu hören
als Fremdwort. Wie
Chor [?]. Kein Lied. Gott
schwarz. Und Rot-und-Gold bringt
das Heil oder
Nein. Das heißt von neuem
von vorn die Geschichte beginnen. „Wir“
sagen statt

[Ende fehlt]

Deutsch

Schwärzer Frühling
wie er aufspringt plötzlich
klafft und innen rosig
währt. Wär’s
der Holocaust der Knospen
also wahr. Der Zufall
ist was bleibt. Und Love
als Währung einzuführen für die
Ewigkeit danach.
Hört ihr
Deutschland ist in allen Sprachen
gleich. Ein Fremdwort wie Horst oder
Gott. Kein Lied
für’s Leid.
Schwarz weiß es. Und halt
von Sieg zu Sieg
Geschichte machen. Sagen wir!
statt ich! zu tun. Der Name endet dort
wo eine Qual
beginnt. Das Leben.

5

[Titel und Textanfang fehlen]

… bis auf den Namen des Vaters
alles – vergessen. So daß
am besten ich. Und Bestie du.
Tief im Schrei der Blitz
von zwei-drei Zähnen und Schluß. Es war
ein Biß. Ein Blick. Ich sehe (siehst) wie du –
bin schön im Clinch. Leicht nach links.
Dort oben wo
das Weh beginnt.
Mit Kralle
oder ohne – jedenfalls
zu laut.
Was nicht riecht
Wie
Geld. Was uns viel mehr vereint
ist im Fell das Loch. Und doch sterben wir
alle und sind nicht gerächt
[fehlt 1 Wort (?)].
Also [Ende fehlt]

Vergeltung

Auf Augenhöhe mit dem Tier
gebalgt. Und
plötzlich bis zum Vaternamen
in Vergessenheit
geraten. So daß ich
bist. Du Biest.
Beim Schrei mal zwei-drei Zähne
aufgeblitzt und zu. Ein
Biß gewesen. Einblick ist. Und
wir im Clinch
vereint. Links oben wo
der Scherz beginnt. Mit oder

ohne Klaue viel
zu laut. Umschlungen du und wessen Zwilling ich.
Was uns verbindet ist das Loch
im Pelz. Und aber
sterben tun wir ungerächt.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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