Unübersetzbar? Nichts! – Ein Jugendwerk von Boris Pasternak in deutscher Neufassung (2)

Boris Pasternak
THEMA MIT VARIATIONEN

Das Thema

Fels. Sturm. Wird Sturm den Felsen fällen? Wird er fehlen?
Da steht doch Puschkin! Steht mit zuen Augen, steht und sieht
In keiner Sphinx ein Beutetier. Sieht auch nicht all die Phantasien
Der alten Griechen, die sich endlos in sich selbst verschlaufen,
Sieht nicht die Rätselhaftigkeit von allem − sieht nur den Urahn,
Den Hamiten mit den schmalen Lippen und dem Flachgesicht,
Der Wüsten überstanden hat wie Pocken: Der Wüstensand
Wie Pocken auf dem Rücken trug. So wie der Fels den Sturm.

Aus tiefer Bierflut peitscht ein Satan frischen satten Schaum,
Der Klippen, Felsenrippen, Buchten, Schluchten meilenweit
Bespült. Und auf der Brühe blüht als Widerschein der Mond,
Er wogt und dreht sich wie ein großes grelles Notsignal

Im Dunst und Höllenlärm, den noch und noch der Sturm anfacht.
Es ist, als mischte dieser lichte Schaum die Tageshelle auf.
Das Licht- und Schattenspiel zieht jeden Blick auf sich.
Die Brandung stürmt die Sphinx und schont die vielen Kerzen nicht,
Doch spendet sie statt dessen immer gleich ihr eignes Licht.

Fels. Sturm. Wird Sturm den Felsen fällen? Wird er fehlen?
Die Sphinx trägt auf den Lippen einen dunklen Hauch von Salz.
Der Sand am Strand ist nassgeküsst von all den Quallen,
Die Feuchtigkeit gibt ihm den Halt.
Er weiß nichts von der Schuppenhaut der lockenden Sirenen,
Wie also sollte der von ihrem Fischschwanz wissen, der noch nie
Aus ihrem Kelch getrunken hat, gefüllt mit kühlen Sternen?

Nur Felsen, Sturm und − fern von jeder Überheblichkeit −
Ein Lachen, sehr geheimnisvoll, sehr scheu und leise,
Ein Lachen (kindlich wie die Dünen einer Wüstenei),
Das seit Psammetich spielt− und spielt auf seine Weise …

 

Die Variationen

1
Original

Da seht die Felsen, wie sie reglos überschäumen,
Sobald der Sturm sie kreuz und quer bespringt.
Und wie im Hafen sich die Schiffe bäumen,
Und wie ein Anker nach dem andern rasch versinkt.

Die Wogen treiben Abschaum, aufgedunsne Leichen
Vor sich her und unterspülen damit Steg und Kai.
Es ist ein Toben und ein Lärmen sondergleichen,
Gebräu und Schaum, als ob es reines Urpils sei!

Aus dem massiven Buckel schießen Wassergarben,
Die Wogen bersten, es gibt keine Rettung mehr.
Unklar, wieviele Opfer an Phosphaten starben,
Die in Schwaden wehen überm wilden Meer.

Tausend Spritzer, die in weißem Wahn zerfliegen,
Blitz und Donner, die aufs große Ganze gehn.
Wird der Sand am Strand je wieder trocken liegen?
Werden sich Bier und Pfefferkörner je verstehn?

Was haben uns die Kaffern als ihr Erbgut hinterlassen?
Was brachte das Lyzeum einst im Zarendorf hervor?
Zwei Götter, die einander nicht im Traum verpassen!
Zwei Meere wechseln ihr Gesicht wie losen Flor.

Frei waltet die Gewalt in Lebens- und Naturgeschichte
Und bleibt vereint mit der Gewalt des Verses im Gedicht.
Zwei Tage, zwei verschiedene Gelände und zwei Welten,
Zwei Bühnen, zwei antike Dramen, grelles Wechsellicht.

 

2
Imitat

Er stand am Rand der aufgewühlten Meereswüste,
Stand da, gedankenschwer, als ob er alles wüsste.
Es wütete ein Sturm. Die Wogen waren satt vom Sand,
Der sich wie dickes Blut mit ihnen paarte.
Auch er, der dastand und zerknirscht verharrte,
War voller Wut, die er selbst nicht so recht verstand,
Die aber in ihm wuchs und schon aus seinen Augen starrte.
In seinem Gaumen hallte das Wort morgen
So, wie in andern das Wort gestern klingt.
Des Kaffern Albtraum von der Zukunft bringt
Nichts als noch mehr Hitze, noch mehr Sorgen.
Ein fast unsichtbarer Nebelflor sank nieder,
Streifte wie ein leichter Kuss das Wimpernhaar
Und machte seinen Traum vom Blättern wahr.
Der Roman erwuchs aus einer Finsternis, die nie der
Erde angehörte und die keine Glut jemals bezwingt,
Die kein Gewitter jemals packt und niederringt,
Kein Mai-, kein Erntetag wird solche Finsternis
Erhellen, also bleibt sie − unverrückbar − Hindernis.
Was sich da auftat, Blick von oben − endlos Tiefe,
Ein Abgrund ohne Grund. Wo Wogen ihre weißen

Mähnen breiten und der Sturm ins Leere liefe,
Um zu enden, statt die Freiheit zu begreifen.
Ein letztes Mal reißt er sich noch zusammen,
Brüllt auf, nur um gleich wieder zu erlahmen.
Der Kampf ist aus, er hat so gut wie nichts gebracht,
Bleibt keine Spur, vergeblich ist das Werk vollbracht.
Was sich da auftat, Blick von oben − dieser Sektor
Der Welt, streng unterstellt urtümlicher Gewalt,
Dies in Gestalt einer gereckten Herrscherhand,
Die ausgießt ein Gemisch von Salz und Nektar
Über das Segelwerk, das blind den Winden folgt
Und ohne Ende Raum und Zeit einholt.
Im feuchten Dämmerschein ist schon das Wrack
Zu sehn, bevor die Schwärze es verschlingt …
Gigantisches Spektakel − sicher nicht für jeden Tag,
Brutaler Anblick, durch die freie Sicht bedingt.
So weit das Auge reicht − nur Niedergang. Die Kelle
Schlug der rohe Mundschenk so gewaltig, dass
Die Schale überlief. Von Wermut, Ginster, Gras
Behindert war der Stock, man kam nicht von der Stelle,
Die Schritte stockten wie vor einem Turm,
Im Ohr verhockte sich der Steppensturm.

Und Wasser köchelte derweil am fernen Strand,
Und Schilf und Iris bildeten dazu den zagen Rand,

Von allen Seiten überzog ein Kräuseln sanft die Bucht.
Doch unberührt davon das dunkle Violett im Bruch
Der bleiern schweren Meereswogen.
Von einem unbeschwerten Köder fein durchzogen!
Der hatte sich herabgesenkt,
Sich schwimmend hingeschränzt −
Als unnachahmliche Grimasse auf der Wasserfläche,
Die dem Fischer wortlos zu verstehen gibt: Kein Fang
An deiner Angel! Absolut nichts von Belang!
Nichts gefangen außer Wasser, also gibt’s auch keine Zeche.
Er saß dann da auf seinem Stein und machte
Zum bösen Spiel nicht eine Miene, die verriet,
Dass er den Meeresboden wie die liebe Bibel liest
Und ihn auch diesmal so gelesen hatte.
Die letzte Muschel schließt in sich ein Herzgeräusch,
Ein Tropfen Traum, von dem der Schmerz
Sein Salz bekommt, solang er eben währt.
Aus seinem Kerker − dass man sich nicht täuscht! −
Ist er mit keinem Eisen zu befreien: Nicht für den,

Dem wegen frischer Liebesqual die Sinne schier vergehn.
Und dem der tiefste Seufzer sich entringt beim Lieben,
Um zu verströmen, dann sich zu verfestigen zu einem Riff
Und den Korallen einzuprägen einen Purpurschliff −
Ein Seufzer, der verendet auf den Lippen des Polypen.

 

3

Schwirrten Sterne. Wuschen sich im Meer Gesteine.
Blind das Salz. Und alle Tränen längst verdunstet.
Finsternis − so wie in Schlafgemächern. Die Gedanken unstet.
Lauschte aber der Sahara eine Sphinx. Doch Worte keine.

Schmolzen Kerzen. Stockte der Koloss, verharrte starr.
Aufgeschwemmt die Lippen vom gebläuten Lächeln
Dieser Wüste. Eine Nacht, noch eine, die sich rar
Macht, sobald die Flut mal wieder schwächelt.

Eine Brise aus Marokko zog vom Meer herüber.
Der Samum war da. Archangelsk schnarchte unterm Schnee.
Kerzen schmolzen. Der Prophet − mit Tinte muss man üben! −
Ist schon angetrocknet, und am Ganges tagt’s wie eh und je.

 

4

Wolkenbank. Gestirne. Und − weit unten −
Die Provinz, ja − wo Aleko … Ja, Zemfiras Aug
Ist vom weißen Mondlicht vollgetrunken,
Ist ein bodenloser Abgrund, heiße Schau!

Deichseln senkrecht, die den Himmel ritzen.
Stirnen − wie Oliven − braun und blau gefärbt.
Scheue Blicke aus verengten Augenschlitzen
Zu den Sternenperlen − wer sie einst wohl erbt?

Dächer Chaldäas?! − könnte man wohl meinen.
Und der Mond − ein Fladen, dampfend heiß.
Doch das Blut gefriert. Vor Eifersucht? Nein, keine
Eifersucht! Die liegt ja ohnehin bereits auf Eis.

Halt! Du ähnelst einem syrischen Kastraten
Und Asketen, der die Sterne nach der Zukunft fragt.
Den Geist erhellen mörderische Missetaten.
Rache also? Rache ist in keiner Weise angesagt!

Aufsässig wie Eunuchen regen sich die Schatten.
Hinter einer Schulter bleibt der Ort zurück.
Gift? Man weiß doch aus uralten Kladden −
Selbstmord bringt im Unglück niemals Glück.

Pferd, ein erster Sprung, die Nüstern glühen.
Bist jedoch noch immer nicht in Sicherheit!
Aufgepasst, mein Hengst, wir müssen fliehen.
Flucht? Ist auch nur eine Ungelegenheit!

 

5

Zigeunerische Buntheit stand ihm zu Gesicht,
Er litt schwer an Skorbut und sprach ganz offen
Von schwarzen Löchern und vom Schilfdickicht
In der Provinz der Winzer, Diebe und Ganoven.

Ein Pferdedieb schlich sich vom Zaun heran,
Die Trauben setzten warme Farbe an,
Die Spatzen pickten Kerne aus den Dolden,
Und Vogelscheuchen nickten ihnen dabei zu,
Doch wurde jäh das Rebenrauschen unterbrochen −
Ein Sterbelaut ertönte, und er tönte immerzu.

Von fern des Meers Getöse. Krach vom Strand,
Wo Schotter und Geröll sich wuchtig rieben.
Die Wogen mit den schlaffen Kämmen nahmen überhand,
Verdreckte Schäfchen schienen sie noch mehr zu trüben.

Von Stürmen heimgesucht war auch die Küste vor Schabo,
Wo Bohlen, Planken, Stege weggerissen wurden
Und in der Salzflut alle Taue straff sich spannten − wo
Die Seekrankheit regierte und die Leute, alle, murrten.

Ein dumpfes Grollen breitete sich weithin aus,
Es klang wie in der Sauna eine Rasselbande,
Als unterhielten sich in all dem Saus und Braus
Die Brecher mit den Möwen an der Hafenkante.

 

6

Die Steppe lag von abendlicher Kälte überwältigt
Das Zaumzeug klingelte leis vor sich hin,
Verträumte Grillen horchten in die Welten,
Wo Klang und Sprache sich vermählten − im Beginn.

Ein Schleppweg zog sich durch das Steppengras
Wie eine Kette oder halt wie irgendwas,
Wie eine Spange, aus dem Rossgebiss gefallen,
Ein träger Wind, gezügelt nach Gefallen.

Die bunten Lumpen waren längst schon ausgebleicht,
Und kühl geworden wie die Kupferschalen einer Waage,
Hob seinen Blick vom zirpenden Gelände blau und leicht
Der grenzenlose Süden − wollte er ein Liedchen wagen
In einer Welt, die weder Maß noch Hindernisse kennt?

Damit, von diesem Lied betört, der Geist, den keiner nennt,
Von dem auch niemand weiß, in welcher Nacht
Er aufkam − ja, damit nun eben dieser Geist erneut erwacht?

Bloß einen Blick lang dauerte die Zeit,
Genug für die Verfinsterung der Ewigkeit.

1918. Haltestelle Otschakowo, Bahnlinie Kijew-Woronesh

 

[Beim vorliegenden Gedichtzyklus handelt es sich um eine partielle Überschreibung (und eigenständige Fortschreibung) zweier Dichtwerke von Aleksandr Puschkin (1799-1837): Die Zigeuner (1824), Der eherne Reiter (1833). Pasternak überblendet die Herrschergestalt Peters I. durch den Dichter Puschkin, die Reformen des Zaren durch das Revolutionsgeschehen von 1917. Die Teile 3, 5, 6 wurden später u.d.T. Gedichte über Puschkin separat in eine Werkauswahl integriert (1945). Mit den nördlichen Motiven (Ostsee, Sturm, Finsternis, Kälte) aus dem Ehernen Reiter kontrastiert Pasternak die südlichen Motive (Schwarzes Meer, Steppe, Kaukasus, Helligkeit, Hitze) aus dem Zigeuner-Poem. – Psammetich − gemeint ist der ägyptische Pharao Psammetich I. – Lyzeum − das Lyzeum von Zarskoje Selo (Zarendorf), zu dessen Absolventen Aleksandr Puschkin gehörte. – Kaffern − arab. (muslimische) Bezeichnung der nichtmuslimischen Völkerschaften Nuristani (Kafiren) in Zentralasien und der Xhosa im südlichen Afrika; von christlichen Kolonisten bis ins mittlere 20. Jh. als abwertende Charakterisierung „primitiver“ Schwarzafrikaner verwendet. – Samum − lokale Bezeichnung für einen Sandsturm im nordafrikanisch-arabischen Raum. – Der Prophet − Versdichtung von Aleksandr Puschkin (1826-1828), aus der Pasternak zahlreiche Motive in den vorliegenden Zyklus übernommen hat. – Aleko, Zemfira − lyrische Protagonisten aus dem Poem Die Zigeuner (Anm. 1). – Schabo − Ortschaft im Gouvernement Odessa; im Originaltext werden zusätzlich die nahegelegenen Festungen Kagul und Otschakow genannt.]

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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