Cadix

Nachdem Manuel de Falla, noch als Kind, zusammen mit den Eltern seine Geburtsstadt Sevilla hatte verlassen müssen, baute er sich an seinem neuen Wohnort eine eigene und, wie er meinte, uneinnehmbare Märchenwelt. Während sechs Jahren zog er sich immer wieder in ein abgelegenes Zimmer der elterlichen Villa zurück, um … von seiner Familie kaum bemerkt … so etwas wie ein befestigtes Paradies einzurichten, dessen Hauptstadt Colomb heißen und das verlorene Schatzhaus der Kindheit ersetzen sollte. Hier ließ der Junge noch einmal die »nächtlichen Wunder« Sevillas aufleben, hier verwahrte er sie. Jahrelang konnte er dieses Wunderland vor Kameraden und Verwandten geheimhalten. Mit großem Ernst versah er als König von Colomb die verschiedensten Regierungs- und Verwaltungsämter, hinter der Schranktür, die seine imaginäre und gleichermaßen reale Gegenwelt von der Normalität trennte, atmete, amtierte er als Akademiepräsident, als Feuerwehrhauptmann, als Nachrichtensprecher, als Herausgeber des Stadtanzeigers. Vermutlich hätte de Falla dieses nächtliche Regime noch jahrelang aufrechterhalten, wären nicht eines Tags ganz unerwartet seine Eltern hinter das Geheimnis gekommen. Das Kind wurde zur Beobachtung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, die Stadt Colomb sofort zerstört, ihre materiellen Überreste mit all den vielen von Manuel angelegten Archiven ins Feuer geworfen.

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De Falla, man weiß es, ist später ein berühmter Komponist geworden. Daß seine Traumwelt eingeäschert wurde … diese Erfahrung verbindet ihn mit Don Quijote, der vom Dorfpfaffen und vom Dorfbarbier bekanntlich ans Bett gefesselt wurde, während man gleichzeitig, um ihn vor den fatalen Einflüsterungen der Phantasie zu retten, seine Bücher verbrannte.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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