De profundis

»Aus tiefster Not schrei ich zu dir …« Das Buch, zufällig gefunden beim Stöbern in Britschgis Antiquariat, ist 1946 unter der Lizenznummer US-E-101 bei Kurt Desch in München erschienen. »Deutsche Lyrik im Dritten Reich«, eine Anthologie aus zwölf Jahren, herausgegeben von Gunter Groll. Rund fünfhundert Seiten Text, großenteils Erstveröffentlichungen, nach Autoren alphabetisch angeordnet. Von Bergengruen und Billinger bis Wiechert und Winkler.
Namen, die schon in der Vorkriegszeit bekannt waren; Namen, die erst nach dem Krieg bekannt wurden; Namen, die man vergessen hat, bevor sie einen Klang bekamen; Namen von Großschriftstellern und Widerstandskämpfern, von Hausfrauen und Soldaten, von Verfolgten, Gefangenen, Ermordeten. Manch Gegensätzliches, Unversöhntes ist in diesem Band versammelt, steht in merkwürdiger Nachbarschaft beieinander.
Gedichte. »Geschrieben im Gestapogefängnis Prinz-Albrecht-Straße, Berlin«. – »Geschrieben in Marina di Massa, 1942«. – »Geschrieben im Konzentrationslager Mauthausen«.
Fast ausnahmslos konventionell gebaute, sorgsam gereimte Lyrik; hohe Gefühle, hohe Gedanken in klassische Strophen gefaßt … oft sind es Sonette. Expressionistische Impulse sind, wo sie vernehmbar werden, gezähmt, geschönt; das Partizip Perfekt dominiert. »Rauch steigt / Von zerschlagener Stätte. / Von geborstener Schwelle / Tropft vergossenes Blut.« Nur hie und da ein glücklicheres Bild für das Unglück: »An brandiger Mauer / Kichert die Distel, / Des Wahnsinns heilige Blume.«
Krieg, Schmerz, Tod sind die Themen, große Worte, die wohl für erlebte Schrecken stehen, diese Schrecken aber eher verdrängen als vergegenwärtigen. Die Worte bleiben rhetorisch, bauen sich auf zu kapitalen Metaphern, verfliegen wie Sprechblasen; wie nichts.
Was bleibt, ist das Pathos jenseits der Texte, diese sind bloß dessen ferner Widerhall. »So leben wir und sterben / Und haben Sinn und Zeit, / Und machen unsre Erben / Zum Gastmahl und zum Tod bereit.« Wo Lyrik, durch die Verwendung des Reims, glaubhaft machen muß, daß »sterben« mit »Erben« und »Zeit« mit »bereit« (sein) korrespondiert, ist das Denken ebenso fern wie die Kunst.

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Der Schrei, gerade auch jener »aus tiefster Not«, bleibt unübersetzbar; wer gleichwohl nach »Worten« dafür sucht, wird bestenfalls die Hülsen finden, aus denen die lebendigen Wörter längst emigriert sind.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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