Zeitläufte

Erinnerung, so scheint’s, ist kein Wert mehr, ist Sache künstlicher Gedächtnisse. Während all unsre Daten und Lebenskoordinaten gespeichert, verwaltet, nötigenfalls gegen uns verwendet werden, sind wir, als Personen, längst vergessen; wir vergessen nicht nur einander, wir vergessen uns selbst. Kaum noch jemand schreibt private Briefe, führt Tagebuch über Begegnungen und Gespräche und … aber ist dies ein Verlust oder bedeutet es, umgekehrt, daß wir mehr Gegenwart haben als Vergangenheit.
Benvenuta, nur eine und nicht die bedeutendste von so vielen Gefährtinnen Rilkes, konnte damals noch dreihundert oder vierhundert Seiten schreiben, auch veröffentlichen, die fast nur Triviales, Uninteressantes verzeichneten und dennoch ein Bild von wundersamer Lebensnähe und Lebendigkeit vermitteln. Rilke als Tourist in Venedig, als Gast in Duino, Rilke beim Spazieren, Rilkes beiläufige Bemerkungen über das Wetter, über Beethoven, Sottisen über dies und das.
Wer mit solcher Hingabe Unerhebliches festhält, muß nicht nur sehr viel Zeit zum Schreiben, er muß auch sehr viel Zeit zum Leben haben, Aber vielleicht konnte man noch zu Rilkes Zeiten auch als Lebender mehr Vergangenheit als Gegenwart haben; und vielleicht war es damals noch möglich, die Vergangenheit, die man hatte, als Zukunft zu begreifen.
Wohingegen die Zeitläufte heute verschmiert sind zu formloser, richtungslos expandierender Gegenwart.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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