Franz Josef Czernin: Beginnt ein Staubkorn sich zu drehn.

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Franz Josef Czernin: Beginnt ein Staubkorn sich zu drehn.

Czernin-Beginnt ein Staubkorn sich zu drehn.

EIN KLEINES KOSMOLOGISCHES GEDICHT,
AUCH MIT TIEREN, PFLANZEN UND MENSCHEN

mit vielen tieren

beginnt ein staubkorn sich zu drehn
gleich mücke fängt sich an zu wehren
da flügel federleicht verwehn
auf erden würmer sich beschweren

ein krebs die scheren schleift in meeren
dass maus wie mann auch untergehn
in streifen tiger zebras sehn
wo pfade schlängelnd schlangen queren

gevierteilt kind träumt drachen, bären
da eltern märchen brummen, krähn
rein schwänen schwant die luft in höhn
wie unten schwein muss ferkel nähren

zusammenhängen spinnen lehren
dass augen sonnen sich in seen
ein pferd führt lustig eselsehn
wo schäfchen wolken zähln bis zehn

kein stern will steinchen nur gebären
hund katzen, katzen hund empören
wo männchen um ihr weibchen flehn
ein täubchen schwebt in höhern sfären

da ihre schleier eulen nähn
sanft lämmer löwenmaul begehren
wie affenlieb uns selbst verklären
stillschweigen fische, engel, feen

 

 

 

WO DORNEN SCHARF VOR AUGEN STEHN

Das Entstehen eines Gedichts ist der Evolution natürlicher Arten insofern verwandt, als auch dabei ausgesondert – gewählt und verworfen – wird. Ein bestimmtes Gedicht wäre dabei das Ergebnis einer Auslese und damit eine Art Gewinner; das Verworfene hat sich vielleicht im Aussonderungskampf nicht durchsetzen können.
Sind aber die Wörter, die Verse, ist das manifeste Gedicht tatsächlich Gewinner und das Verworfene in einem Jenseits des Gedichts ein Verlierer? Poetische Darstellung könnte doch enthalten, dass sich die Begriffe des Auswählens, des Verwerfens und des Gewinnens und Verlierens, zumindest in ihrem Wet, mitverwandeln. Etwas auch deshalb, weil sie dabei Merkmale von Spielen annehmen? So könnte das manifeste Gedicht gerade das sein, was dem Untergang anheimgegeben ist, der eigentliche Verlierer, der auch deshalb so laut und wie ein säugling tief im dunklen walde singt. Und wenn Verwandlung Spielerisches enthält, dann können die verworfenen Verse manchmal die im übertragenen Sinn auserwählten sein. Vielleicht sucht die Poesie gerade auch Niederlage und Verlust und mit ihnen Verborgen- und Verlorenheit, vielleicht ist sie ein Letztes, das kein Erstes sein will oder kann. Eben darin läge ein wesentlicher Unterschied zwischen ästhetischer und spielähnlicher Auswahl und natürlicher Selektion, zwischen ästhetischer und natürlicher Evolution. Wenn die Begriffe, etwa die des Gewinnens und Verlierens, selbst in verwandelnde Bewegung geraten, dann könnte das, was nicht in den Versen selbst und ausdrücklich steht, dennoch gegenwärtig und wirksam sein, ja, gegenwärtiger und wirksamer als das, was für die Sinne und das unmittelbar verstehende Lesen gegenwärtig scheint. Dann wären die sinnlich und sprachlich gegenwärtigen Verse geradezu Exemplifikationen dessen, was sie nicht sind. Dann würde der strauss durch verwandelten streit deshalb dreimal schön, weil der Strauss in der Poesie als Vogel, Streit und Blumengebinde auf einmal gegenwärtig sein kann, auch wenn nur ein Wort dafür in den Versen selbst manifest zu sein scheint.

 

Nachbemerkung

Die hier versammelten Aufsätze sind in den letzten Jahren entstanden, einige auch schon in Zeitschriften und Jahrbüchern veröffentlicht, alle jedoch wurden überarbeitet. Dem jeweiligen Anlass und Thema gemäss reichen sie von eher literarischen bis zu einigermaßen sprachphilosophischen Darstellungsformen.

Franz Josef Czernin, Nachwort, Juni 2014

 

Der Autor und seine Absichten

1
In einer Reihe von neuen Essays1 setzt sich Franz Josef Czernin mit dem Begriff der Autorschaft, der Rolle von Autorabsichten und der Rolle von Interpretationsprozessen für die Genese, die Eigenschaften und gegebenenfalls die Veränderung literarischer (insbesondere poetischer) Werke auseinander.
Es werden (teils explizit, teils implizit) folgende Fragen aufgeworfen:
– Wenn ein Autor bewusst die Kontrolle über die endgültige Form eines Gedichts aufgibt, indem er die Festlegung derselben den Rezipienten überlässt, wer ist dann der Autor des so entstehenden Gedichts? Erfordert Autorschaft die völlige Kontrolle über das Werk? Erfordert Autorschaft, dass alle Eigenschaften des Werks vom Autor intendiert sind? Kann ein Autor überhaupt jemals alle Eigenschaften eines Werks intendieren?
– Kann ein Werk, nachdem es vom Autor für vollendet erklärt und in die Welt entlassen wurde, sich verändern? Können insbesondere Rezeptionsprozesse zur Veränderung des rezipierten Werks führen? Wem oder was verdankt eine sprachliche Äußerung ihre Bedeutung? Sind es die Absichten des Sprechers/Autors, die der Äußerung ihre Bedeutung verleihen? Oder entsteht Bedeutung erst durch das Verstehen einer Äußerung, also durch Rezeptions- bzw. Interpretationsprozesse? Welche Rolle spielt der Äußerungskontext in diesem Zusammenhang? Führt die Sprache sozusagen ein Eigenleben, in dem Sinn, dass Bedeutungen generiert werden unabhängig von Autorabsichten und Rezeptionsprozessen? Sind die vorangegangenen Fragen für alle sprachlichen Äußerungen auf dieselbe Weise zu beantworten, oder muss dabei vielleicht zwischen alltagssprachlichen Äußerungen einerseits und poetischen Äußerungen andererseits unterschieden werden?
– Welche Rolle spielen Autorabsichten für den Status einer Äußerung bzw. eines Textes als fiktional oder nicht-fiktional? Ist ein Text dann fiktional, wenn er vom Autor als fiktional intendiert wurde, und nicht-fiktional, wenn er nicht als fiktional intendiert wurde? Oder könnte es Fälle geben, in denen ein Autor einen Text als fiktional intendiert, der Text aber nicht fiktional ist, oder umgekehrt, Fälle, in denen ein Text fiktional ist, obwohl er vom Autor nicht als fiktional intendiert wurde?
In der zeitgenössischen Literaturtheorie werden diese Fragen heftig diskutiert. Grob (und stark verkürzend) lassen sich zwei Lager in der Debatte unterscheiden: das der Autorintentionalisten und das der Anti-Autorintentionalisten (kurz auch: Intentionalisten und Anti-Intentionalisten). Wie die Bezeichnungen schon andeuten, betonen die Autorintentionalisten die Rolle des Autors und seiner Absichten, während Anti-Intentionalisten den Autorabsichten eine geringe oder gar keine Relevanz zuerkennen. Dies ist, wie gesagt, eine stark vereinfachte Darstellung. Die real existierenden Positionen – innerhalb beider Lager – sind vielfältig und zumindest teilweise differenziert.
Durchaus differenziert ist auch Franz Josef Czernins Position dazu. Allerdings lässt sich insgesamt doch deutlich eine skeptische Tendenz gegenüber dem Autorintentionalismus ausmachen (in manchen Teilbereichen sogar eine direkte Ablehnung).
Mein eigener Ausgangspunkt ist eine ziemlich starke Version des Autorintentionalismus.2 Im Folgenden möchte ich mich mit den oben formulierten Fragen im Lichte von Franz Josef Czernins Überlegungen auseinandersetzen. Ich werde dabei zunächst (in Abschnitt 2) die Frage des Fiktionalitäts-Status diskutieren, dann den Fragenkomplex nach der Beziehung von Autorschaft und Kontrolle (Abschnitt 3) und schließlich die Fragen nach der Konstituierung von Bedeutung und der Veränderlichkeit von Bedeutung durch Rezeptionsprozesse bzw. geänderte Rezeptionsbedingungen (Abschnitt 4).

2
Der vielleicht bekannteste und am meisten zitierte Aufsatz zur Frage, unter welchen Bedingungen ein Text bzw. eine Äußerung fiktional ist, ist John Searles „Der logische Status fiktionaler Rede“.
3 Diesen Aufsatz diskutiert auch Czernin in seinem Essay „Fiktionalität: Wider John Searles Intentionalismus“.4
Searles Fiktionalitätstheorie kann in aller Kürze folgendermaßen dargestellt werden: Für nicht-fiktionale („ernsthafte“) Äußerungen gelten bestimmte Regeln. Welche dies genau sind, hängt davon ab, welcher „illokutionäre Akt“ mit der betreffenden Äußerung jeweils vollzogen wird. Der Begriff des illokutionären Aktes entstammt der sogenannten Sprechakttheorie. Diese in den 1940er Jahren entstandene Theorie hat die Sprachphilosophie revolutioniert. Bis dahin hatten die Sprachphilosophen sprachliche Äußerungen ausschließlich unter dem Aspekt ihrer logischen Struktur einerseits und ihrer semantischen Bedeutung andererseits untersucht. Die bahnbrechende Einsicht der Sprechakttheorie war nun, dass man sprachliche Äußerungen auch noch unter einem anderen Aspekt untersuchen kann, nämlich unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten. Jede sprachliche Äußerung ist nämlich auch eine Handlung: Wer etwas sagt, der tut damit etwas. Man kann mit sprachlichen Äußerungen sehr verschiedene Dinge tun, zum Beispiel: einen Vertrag abschließen, ein Kind taufen, jemanden zu einer Gefängnisstrafe verurteilen, einen Witz machen, jemanden beleidigen, sich einschmeicheln, jemandem drohen, jemanden trösten… All das sind verschiedene „Sprechhandlungen“ bzw. „Sprechakte“ bzw. eben illokutionäre Akte.
Für jeden illokutionären Akt gelten bestimmte Regeln. Eine wichtige Unterklasse von illokutionären Akten sind Behauptungen, und auf Behauptungen richtet Searle auch in seiner Fiktionalitätstheorie ein besonderes Augenmerk. Für den illokutionären Akt des Behauptens gelten unter anderem folgende Regeln: Wer etwas behauptet, glaubt, dass das, was er behauptet, wahr ist, und er hat auch gute Gründe dafür, das zu glauben.
Dies impliziert freilich nicht, dass die genannten Regeln in jedem Fall eingehalten werden. Manchmal behaupten Sprecher bewusst Dinge, die sie selbst nicht für wahr halten und/oder für die sie keine hinreichenden Belege haben. In solchen Fällen liegen Regelverstöße vor. Das tut aber der grundsätzlichen Gültigkeit der Regeln keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Verletzung der Glaubensbedingung nennen wir „Lüge“, und der (aufgedeckte) Lügner wird getadelt; und wenn ein Sprecher zwar glaubt, was er behauptet, aber dafür keine guten Gründe hat, werfen wir ihm mangelnde Rationalität vor, und mangelnde Rationalität wird ebenfalls getadelt. Die Tatsache, dass Sprecher für die Verletzung der Behauptungsregeln getadelt werden (sofern der Regelverstoß aufgedeckt wird natürlich), ist ein Beleg dafür, dass die Regeln faktisch in Kraft sind.
Der springende Punkt ist nun: In fiktionaler Rede äußern Sprecher Sätze, die der äußeren Form nach Behauptungssätze sind, aber in fiktionaler Rede sind die üblichen Regeln für das Behaupten außer Kraft gesetzt. Wenn wir einem Märchenerzähler lauschen, erwarten wir nicht, dass dieser glaubt, was er sagt, und wir verlangen auch keine epistemische Rechtfertigung für das Gesagte. Es wäre vollkommen unangemessen, den Erzähler einer fiktionalen Geschichte dafür zu tadeln, dass er keine Belege für das Gesagte hat, oder dafür, dass die Erzählung nachweislich nicht der Wahrheit entspricht.
Searle erklärt diesen Umstand damit, dass fiktionale Äußerungen gewissermaßen „parasitäre“ Sprechakte sind. Der fiktionale Erzähler behauptet nicht, er tut nur so, als würde er behaupten, er fingiert den illokutionären Akt des Behauptens – und dies ohne Täuschungsabsicht. Die fiktionale Rede ist somit analog zum Schauspielern zu verstehen bzw. vielleicht sogar als ein Sonderfall des Schauspielers: So wie ein Schauspieler auf der Bühne sich nicht wirklich betrinkt, nicht wirklich liebt, nicht wirklich mordet, sondern nur so tut, als ob, so behauptet der fiktionale Erzähler nicht wirklich, sondern gibt nur vor zu behaupten.
Der Intentionalismus kommt in dieser Theorie insofern zum Tragen, als es für Searle selbstverständlich ist, dass es allein an den Absichten des Sprechers liegt, ob er tatsächlich oder nur vorgeblich das Sprachspiel des Behauptens spielt. Dies ergibt sich daraus, dass illokutionäre Akte generell durch Sprecherabsichten definiert sind. Ob eine Äußerung etwa ein Versprechen oder eine Drohung ist oder noch etwas anderes, lässt sich an deren äußerer Form nicht zuverlässig ablesen. Was es zum einen oder zum anderen (oder zu etwas Drittem) macht, hängt allein daran, was der Sprecher damit bezweckt. Dies ist nicht willkürlich so gesetzt, sondern im Begriff der Handlung selbst angelegt: Eine Handlung ist an sich etwas Absichtliches. Welche Handlung ein Akteur vollzieht, hängt immer wesentlich von seinen Absichten ab; und dies gilt eben auch für Sprechhandlungen. Daher ist es korrekt, wenn Czernin Searles Fiktionalitätstheorie wie folgt auf den Punkt bringt:

Nach Searle ist ein Text fiktional genau dann, wenn er von seinem Autor als fiktional intendiert ist: Autorintention von Fiktionalität sei sowohl notwendig als auch hinreichend für Fiktionalität.5

Richtig gibt Czernin auch eine wichtige Motivation Searles für diese Auffassung wieder: Es gibt nach Searles Meinung keine internen Textmerkmale, die notwendig und hinreichend für Fiktionalität wären.6 Czernin möchte jedoch zeigen, „dass – im Widerspruch zu Searles Konzeption – Autorintention von Fiktionalität für diese weder notwendig noch hinreichend ist“.7 Er argumentiert, die Intention, etwas zu fingieren, sei noch nicht hinreichend dafür, dass die Handlung des Fingierens auch tatsächlich vollzogen sei. Es sei möglich, dass ein Sprecher daran scheitert, diese Handlung zu vollziehen. Dies sei dann der Fall, wenn es dem Sprecher nicht gelinge, seine Intention zu kommunizieren, das heißt dann, wenn es kompetenten Rezipienten nicht möglich sei, diese Intention zu erkennen.8

Während also Searles These ist, dass Fiktionalität gegeben ist bzw. Fiktionalitätskonventionen genau dann in Kraft gesetzt sind, wenn sie ein Autor intendiert, ist meine These: Fiktionalität ist gegeben bzw. ein Autor setzt Fiktionalitätskonventionen in Kraft erst dann, wenn er Fiktionalität intendiert und erfolgreich kommuniziert und sie also rezipierbar macht.9

Czernin bedient sich zur Plausibilisierung dieser These einer Analogie:

Als Grundlage für die Kritik an Searles Konzeption sei zunächst zwischen Tätigkeits- und Erfolgsverb unterschieden: Das Verb Grüssen kann die Tätigkeit des Grüssens bezeichnen, die der Handelnde mit der Gruss-Intention ausführt. Tippt man etwa nur an seinen Hut und vermeint dabei zu grüssen, so muss die Geste nicht als Gruss erkennbar sein. Dann ist zwar ein Grusshandeln ausgeführt, jedoch nicht erfolgreich in dem Sinne, dass das Handlungsresultat realisiert worden ist. Im Sinne eines Erfolgsverbs ist dann die Grusshandlung nicht vollzogen, sondern nur im Sinne eines Tätigkeitsverbs ein Handeln ausgeführt.
Auch
Fingieren ist ein Handlungsverb, genau wie Grüssen: Erst wenn man sich mit dem Wort fingieren auf die vollzogene Handlung bezieht, wird es im Sinne des Erfolgsverbs gebraucht; und erst dann, wenn man im Sinne des Erfolgsverbs fingiert, ist das Fingieren auch erfolgreich vom Autor kommuniziert.10

Mehreres ist dazu anzumerken:

1. Gewiss kann die Handlung des Grüßens in dem Sinne scheitern, dass der Adressat der Grußhandlung nicht bemerkt, dass er gegrüßt wird (weil er es gar nicht sieht oder weil er die Geste falsch interpretiert). Aber sicherlich folgt daraus allein noch nicht, dass die Handlung des Grüßens nicht vollzogen wurde. Angenommen, der Adressat der Grußhandlung beschwert sich später über den Akteur (der mit dem Finger an den Hut getippt hatte): Dieser sei ein sehr unhöflicher Mensch; er grüße nicht, wenn er auf der Straße einen Bekannten treffe. Wäre dieser Vorwurf gerechtfertigt? Mir scheint, der Akteur könnte mit Recht zu seiner Verteidigung sagen:

Das ist nicht wahr. Ich habe doch gegrüßt!

Die Handlung aus Czernins Beispiel scheint mir sehr wohl „als Gruß erkennbar“ zu sein und würde damit eigentlich Czernins eigene Erfolgsbedingung erfüllen. Das An-den-Hut-Tippen ist eine vielleicht etwas aus der Mode gekommene, gleichwohl aber noch existierende konventionelle Grußgeste.

2. Zwischen dem Grüßen einerseits und dem Fingieren ernsthafter Rede (also dem fiktionalen Reden) andererseits gibt es einen wichtigen Unterschied: Für das Grüßen gibt es in der Tat etablierte Konventionen. Man kann nicht in jedem Kontext auf beliebige Weise grüßen. Vielmehr gibt es eine Menge von etablierten Grußformeln und Grußgesten. Eine wichtige Pointe von Searles Intentionalitätstheorie ist jedoch, dass es solche Konventionen für die fiktionale Rede eben nicht gibt. Fiktionale Rede kann jegliche Form annehmen, die auch ernsthafte Rede annehmen kann, einschließlich zum Beispiel der typischen Stilmerkmale eines Polizeiberichts, einer Sportreportage oder eines Nachrufs auf einen Gelehrten. Umgekehrt kann man sich auch in ernsthafter Rede typischer Stilmerkmale gewisser fiktionaler Genres bedienen. Ein politischer Kommentar kann etwa mit den Worten „Es war einmal“ beginnen und mit den Worten „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich und zufrieden“ enden. Es gibt also keinen zuverlässigen textinternen „Fiktionalitätsmarker“. Das bedeutet: Während es beim Grüßen grundsätzlich möglich scheint, gewisse interne Eigenschaften anzugeben, die eine Handlung erfüllen muss, um wirklich eine Grußhandlung zu sein (und nicht nur eine Handlung, die als Gruß gemeint war), scheint es grundsätzlich unmöglich, interne Eigenschaften anzugeben, die eine Handlung erfüllen muss, um ein Fall fiktionaler Rede zu sein.

3. Czernin weist allerdings – mit Recht- daraufhin, dass Fiktionalitätsmarker nicht notwendigerweise textintern sein müssen. Auch der Kontext einer Äußerung gibt uns oft (sogar meist) recht gute Hinweise darauf, ob wir es mit ernsthafter oder fiktionaler Rede zu tun haben.11
Es ist jedoch fraglich, ob es notwendig ist, dass wir über solche (kontextuellen) Hinweise verfügen, damit ein Text fiktional bzw. nicht-fiktional ist. Es sind Situationen denkbar, in denen ein Text uns gewissermaßen kontextfrei begegnet. Nehmen wir an, wir finden auf dem Flohmarkt in einer Kiste ein Notizbuch mit handschriftlichen Aufzeichnungen. Es gibt keinerlei für uns verwertbare Hinweise auf die Person des empirischen Autors. (Vielleicht steht sogar ein Name drauf, sagen wir „Johann Müller“, aber der Name führt uns nicht zu einer empirischen Person, über die wir mehr erfahren könnten – vielleicht ist es sogar ein Pseudonym, wir wissen es nicht.) Es gibt keinerlei Hinweise darauf, zu welchem Zweck der Autor diesen Text verfasst hat, ob er ihn überhaupt publizieren wollte, und wenn ja, in welchem Kontext. Die internen Eigenschaften des Textes geben auch keinen eindeutigen Aufschluss darüber, ob es sich um einen fiktionalen oder um einen nicht-fiktionalen Text handelt. Kurz, der Leser hat keine Chance, herauszufinden, ob der Autor dieses Textes Fiktionalitätsintentionen hatte oder nicht. Wäre dieser Text dann fiktional oder nicht-fiktional?
Nach Searles Theorie hinge dies davon ab, ob der Autor den Text als fiktional intendierte oder eben nicht. Möglicherweise können wir das in diesem Fall nicht mehr klären. Aber das ist ein epistemisches Problem und ändert nichts am Status des Textes: Wir können vielleicht nicht herausfinden, ob der Text fiktional ist oder nicht, aber unabhängig davon, ist er entweder fiktional oder eben nicht.
Doch wie würde es sich nach Czernins Auffassung verhalten? Die explizit formulierte Bedingung lautet, dass ein Text dann fiktional ist, wenn er als fiktional intendiert wurde und als fiktional „rezipierbar“ ist. Aber was genau bedeutet es zu sagen, dass ein Text „als fiktional rezipierbar“ ist? Czernin formuliert diese Bedingung sehr weich:

Erfolgreiche Kommunikation von Fiktionalität impliziert nicht ihre tatsächliche Rezeption durch bestimmte Leser, sondern lediglich ihre Rezipierbarkeit.12

An anderer Stelle13 wird immerhin gesagt, dass es um Rezipierbarkeit durch kompetente Rezipienten geht. Der Begriff der Kompetenz wird allerdings nicht näher erläutert. Ich nehme jetzt an, gemeint sind Rezipienten, die mit den relevanten Konventionen vertraut sind. Nun scheint es aber, dass ein in diesem Sinn kompetenter Rezipient eigentlich jeden beliebigen Text als fiktional rezipieren kann – außer vielleicht, es gibt sehr eindeutige Kontextmerkmale, die diese Interpretation ausschließen. Hier könnte man etwa an folgende Fälle denken: Ein Rezipient bekommt auf einer Polizeistation ein Protokoll zur Unterschrift vorgelegt; jemand sagt vor Gericht unter Eid aus; auf den Sportseiten einer Tageszeitung wird über ein Fußballspiel berichtet.
In dem Flohmarkt-Beispiel allerdings haben wir solche die Fiktionalitäts-Interpretation ausschließenden kontextuellen Merkmale nicht. Demnach wäre der Text sowohl als fiktional als auch als nicht-fiktional rezipierbar. In diesem Fall wären also, auch nach Czernins Auffassung (so scheint es mir jedenfalls), allein die Autorintentionen ausschlaggebend dafür, ob der Text fiktional oder nicht-fiktional ist. Dies wäre auf jeden Fall ein plausibles Ergebnis.

4. Wie ist das nun aber in jenen Fällen, wo kontextuelle Merkmale anscheinend eine Fiktionalitäts-Interpretation verbieten? Ist es wirklich nicht denkbar, dass ein Text in einem solchen Fall fiktional ist? Stellen wir uns Folgendes vor: Ein Polizist, der im Zweitberuf Schriftsteller ist, legt einem Zeugen versehentlich, anstelle des Protokolls, das der Zeuge unterschreiben soll, einen von ihm (dem Polizisten) verfassten und als fiktional intendierten Text vor, der im Stil eines Polizeiprotokolls gehalten ist. Wäre dieser Text nun fiktional oder nicht? Wenn (wie ich oben vorausgesetzt habe) dieser Kontext eine Fiktionalitäts-Interpretation ausschließt, dann wäre es dem kompetenten Rezipienten nicht möglich, den Text als fiktional zu interpretieren, und mithin wäre er nicht fiktional.
Ist das aber ein plausibles Ergebnis? Was, wenn der Text ein paar Wochen später in einer Literaturzeitschrift erscheinen würde? Wäre er dann fiktional? Wenn ja, hieße das, ein und derselbe Text wäre im Kontext der Polizeistation nicht-fiktional und im Kontext der Literaturzeitschrift fiktional? Ist es dann überhaupt noch derselbe Text? Oder aber ist der Zeuge im Polizeipräsidium womöglich kein kompetenter Rezipient, weil er nicht weiß, dass der Polizist, der vor ihm sitzt, im Nebenberuf Schriftsteller ist, seine Manuskripte in der Wachstube zu schreiben pflegt und zur Schusseligkeit und Schlamperei neigt? Wenn der Rezipient all das wüsste, wäre der vorgelegte Text dann für ihn als fiktional rezipierbar? Müsste dann aber umgekehrt ein kompetenter Rezipient, um die Fiktionalitäts-Interpretation wirklich ausschließen zu können, Evidenz dafür haben, dass der Polizist, der ihm das Protokoll vorlegt, noch nie eine fiktionale Geschichte geschrieben hat oder diese jedenfalls auf keinen Fall ins Präsidium mitnehmen würde? Wie viel Kontextwissen müsste der kompetente Rezipient haben, damit ein Text für ihn nicht mehr als fiktional rezipierbar ist? Ist solches Kontextwissen überhaupt jemals erreichbar? Wenn nicht, wäre dann nicht grundsätzlich jeder Text als fiktional rezipierbar, und es würden letzten Endes immer die Autorintentionen den Ausschlag geben?
So viel zu Czernins These, dass die Fiktionalitätsintention keine hinreichende Bedingung für Fiktionalität sei. Czernin argumentiert jedoch andererseits, dass eine Fiktionalitätsintention des Autors auch nicht notwendig sei für die Fiktionalität des Textes. Dafür werden zwei Argumente vorgebracht. Das erste Argument lautet wie folgt:

Enthält ein literarischer Text gereimte und metrische Verse und ist er nicht länger als eine halbe Seite, dann rezipieren wir sehr wahrscheinlich den Text angemessen als Gedicht; und dies auch dann, wenn ihn der Autor aus irgendwelchen Gründen – zum Beispiel aufgrund seiner ungewöhnlichen Geistesverfassung oder aufgrund mangelnder Konventionskenntnis – nicht als Gedicht intendiert, sondern als Roman oder gar als historische Studie und auch vermeint, seine diesbezügliche Intention zu kommunizieren.
Und warum sollte es bei den Fiktionalitätskonventionen anders sein? – Wenn etwa ein Text so beginnt: „Es war einmal in einem fernen Königreich ein weiser König, der hatte eine wunderschöne Tochter…“ und dann noch eine Reihe von anderen charakteristischen Märchen- und Fiktionalitätsmerkmalen folgen, der Autor diesen Text jedoch als nicht-fiktional intendiert, dann kann, behaupte ich, dennoch die Rezeption als Märchen (und damit als fiktionaler Text) angemessen sein
.14

Wenn der Autor eines solchen Textes dann (glaubwürdig) behauptete, er hätte den Text aber als nicht-fiktional intendiert, könnten wir trotzdem mit Recht darauf beharren, dass der Text fiktional sei, so Czernin.
Diese Argumentation erscheint mir jedoch wenig überzeugend. Die Analogie zu dem Gedicht, das ein sehr verwirrter Autor als Roman intendieren könnte, ohne dass es dadurch ein Roman würde, funktioniert nicht. Denn die internen Textmerkmale, die Czernin angibt, machen einen Text zu einem Gedicht. Ob ein Text mit diesen Merkmalen ein Gedicht ist oder nicht, scheint in der Tat nicht von den Autorabsichten abzuhängen. (Dies impliziert freilich nicht, dass jedes Gedicht durch textinterne Merkmale allein als Gedicht zu identifizieren ist.) Doch für Fiktionalität gibt es solche eindeutigen internen Textmerkmale eben nicht. Nicht einmal das scheinbar so eindeutige Beispiel mit dem weisen König funktioniert in Wirklichkeit: Ein Text, der so anfängt, könnte zum Beispiel eine politische Satire sein (Helmut Kohl als weiser König, Angela Merkel als dessen schöne Tochter). Oder aber ein verwirrter Mensch könnte Märchen gelesen und selbst für nicht-fiktional gehalten haben und sie dann als historische Tatsachenberichte weitererzählen. In keinem der beiden Fälle scheint es mir angemessen zu sagen, es handle sich um einen fiktionalen Text.
Czernins zweites Argument ist subtiler und interessanter:

Das zweite Argument gegen Searles Annahme, Autorintention von Fiktionalität sei für diese notwendig, beruht auf einer Reihe literaturcharakteristischer Fälle, in denen ein Autor weder Fiktionalität noch Nicht-Fiktionalität intendiert, während sein Text doch angemessen als fiktional oder aber als nichtfiktional rezipiert werden kann und also fiktional oder aber nicht-fiktional ist. Ich gebe nur ein Beispiel für diese Fälle von, wie ich es nennen will, Autorintentionen zweiter Stufe: Ein Autor kann kommunizieren, es sei Sache des – Lesers, ob ein Text oder eine Textpassage fiktional oder nicht-fiktional ist. […] Der Autor selbst intendierte dann, wie gesagt, weder Fiktionalität noch Nichtfiktionalität, sondern intendierte und kommunizierte (im Sinne des Erfolgsverbs kommunizieren), es sei dem Leser überlassen herauszufinden, ob der Text fiktional oder aber nicht-fiktional ist.15

Einige Fragen und Überlegungen dazu:

1. Die Formulierung „während sein Text doch angemessen als fiktional oder aber als nicht-fiktional rezipiert werden kann und also fiktional oder aber nicht-fiktional ist“ suggeriert, dass die „Rezipierbarkeit“ allein ausschlaggebend ist für den Status des Textes als fiktional oder als nicht-fiktional. Was bedeutet das dann aber für jene Texte, die sowohl als fiktional als auch als nicht-fiktional rezipierbar sind? Sind diese dann sowohl fiktional als auch nicht-fiktional?

2. Was bedeutet es eigentlich genau, einen Text „als fiktional zu rezipieren“? Ich unterstelle: Es bedeutet anzunehmen, dass der Autor den Text mit Fiktionalitätsabsichten verfasst hat. Dies wiederum bedeutet (unter anderem), sich darüber im Klaren zu sein, dass der Autor für seine (Quasi-) Behauptungen keinen Wahrheitsanspruch erhebt, folglich auch nicht beabsichtigt, die Rezipienten von der Wahrheit des Gesagten zu überzeugen.

3. Ist es überhaupt möglich für einen Autor, eine Äußerung weder als fiktional noch als nicht-fiktional zu intendieren? Was hieße das? Jemand äußert einen Behauptungssatz. Wenn er diesen Satz als nicht-fiktional intendiert, äußert er ihn mit Wahrheitsanspruch, das heißt, er akzeptiert unter anderem folgende Regel des Behauptungs-Sprachspiels: „Sage im behauptenden Modus nur Dinge, die du selber für wahr hältst!“ Wenn er ihn als fiktional intendiert, äußert er ihn ohne Wahrheitsanspruch; die genannte Regel wird nicht akzeptiert. Dies sind offenbar zwei einander ausschließende Möglichkeiten, und für eine dritte scheint kein Raum zu sein.

4. Andererseits scheint es tatsächlich möglich zu sein, dass Autoren mit einem Text beide Deutungsmöglichkeiten anbieten wollen, dass sie sozusagen den Status des Textes bewusst offenlassen. Es ist eine interessante Frage, wie solche Autorabsichten genau zu analysieren sind. Ist es dem Autor schlicht gleichgültig, ob die Leser ihm Wahrheitsanspruch unterstellen oder nicht? Oder ist es vielmehr so, dass der Autor beabsichtigt, die Leser zum Durchleben eines komplexen Prozesses zu bringen, etwa derart, dass sie zuerst den Text als ernsthaft lesen, dann zu zweifeln beginnen, dann den Text als fiktional lesen – oder vielleicht in umgekehrter Reihenfolge? Oder möchte der Autor, dass die Leser zwischen beiden Deutungen hin- und hergerissen sind und zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangen? All das und vielleicht auch noch anderes scheint grundsätzlich möglich zu sein.

Dies macht die Searle’sche Analyse jedoch nicht notwendigerweise falsch, denn man könnte jede der genannten Möglichkeiten entweder als fiktionale oder als nicht-fiktionale Rede kategorisieren. Wenn dem Autor gleichgültig ist, ob ihm Wahrheitsanspruch unterstellt wird oder nicht, kann dies meines Erachtens als ein spezieller Fall fiktionaler Rede gelten, ebenso, wenn er möchte, dass die Leser am Ende zu einer Fiktionalitäts-Interpretation gelangen, oder wenn der Autor möchte, dass die Leser zu keiner eindeutigen Interpretation gelangen. Wenn der Autor hingegen möchte, dass die Leser den Text am Ende des Prozesses als nicht-fiktional interpretieren, dann ist er wohl auch als nicht-fiktional einzustufen. Möglicherweise zeigt Czernins Einwand, dass die Searle’sche Theorie der Fiktionalität ein (zu) grobes Raster ist, das nicht alle in diesem Kontext relevanten Autorintentionen adäquat abzubilden vermag; aber eine verfeinerte (und damit adäquatere) Analyse müsste Searles Theorie nicht widersprechen.

5. Es gibt noch zwei weitere Faktoren, die die Frage, ob ein Text fiktional oder nicht-fiktional ist, kompliziert zu beantworten machen. Erstens könnte ein Text sowohl aus fiktionalen als auch aus nicht-fiktionalen Äußerungen bestehen. Nicht selten enthalten historische Romane neben rein fiktionalen Passagen auch Einschübe, in denen geografische oder historische Begebenheiten wahrheitsgetreu und durchaus mit Wahrheitsanspruch geschildert werden. zweitens kann ein Autor mit einem rein fiktionalen Text indirekte, aber echte Behauptungen machen. So könnte etwa ein Autor einen Text verfassen, indem kein einziger einzelner Satz, für sich genommen, mit Wahrheitsanspruch geäußert ist; und doch könnte der Autor mit demselben Text (als Ganzes betrachtet) bestimmte Dinge mit Wahrheitsanspruch kommunizieren wollen, etwa, dass ein ungezügelter Kapitalismus Elend erzeugt, dass die Türkei während des Ersten Weltkriegs einen Genozid an den Armeniern begangen hat, dass eine Welt, in der die Menschen keines natürlichen Todes mehr sterben müssen, nicht unbedingt eine Welt mit glücklichen Menschen wäre etc. (Ich unterstelle, dass das erste eine Behauptung ist, die John Steinbeck mit seinem Roman Früchte des Zorns machen wollte, das zweite eine Behauptung, die Franz Werfel mit seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh machen wollte, und das dritte habe ich einer Science-Fiction-Geschichte entnommen, deren Titel ich nicht mehr erinnere.) Es gibt also in einem Text verschiedene Bedeutungs- und Kommunikationsebenen, und es ist durchaus möglich, dass ein Text auf einer Ebene fiktional und auf einer anderen nicht-fiktional ist.

3
Der Essay „Poesie, Metamorphosen und die Rolle des Autors“16 beginnt mit einem Gedicht, bestehend aus drei Mal 24 Versen. Dieses Gedicht hat eine interessante Entstehungsgeschichte. Die einzelnen Verse stammen aus einem Band mit dem Titel Metamorphosen. Die kleine kombinatorische Kosmologie.17 In diesem Buch enthalten sind 72 Papierstreifen, auf denen je ein Vers abgedruckt ist. Die Streifen sind im Prinzip beliebig kombinierbar, und das Werk lädt dazu ein, die Kombinationsmöglichkeiten selbst zu erforschen. Das hier erwähnte Gedicht ist ein Kombinationsvorschlag.
Die Autorschaft dieses Gedichts steht außer Frage. Czernin hat die Verse geschrieben, und er hat sie auf diese besondere Weise kombiniert. Doch wie ist es mit jenen anderen Gedichten, die dadurch entstehen, dass ein Rezipient die Streifen auf andere Weise miteinander kombiniert? Wer ist deren Autor? Czernin, der Autor der Verse, oder der Rezipient, der die Verse zusammenstellt, oder beide oder keiner?
Die autorintentionalistische Position lautet, grob gesagt, dass der Autor eines Werks diejenige Person ist, die die wesentlichen Eigenschaften des Werks festlegt, wobei „festlegen“ einen bestimmten mentalen Akt meint. Die Grundidee ist, dass das Schaffen eines Werks wesentlich in solchen Festlegungsakten besteht. Der Autor ist also die Person, die Autorität hat über ihr Werk.
Werke wie Czernins Metamorphosen scheinen dieses Autorverständnis infrage zu stellen. Denn ab einem gewissen Komplexitätsgrad ist der Autor nicht mehr in der Lage, alle in dem Werk angelegten Möglichkeiten ausdrücklich zu intendieren – und er will es vielleicht auch gar nicht. Der Autor scheint hier seine Autorität freiwillig aufzugeben.
Die Metamorphosen fallen unter die Kategorie der interaktiven Werke, insofern als in diesem Fall die „Rezipienten“ eben nicht nur eine rein rezeptive Rolle spielen sollen. Zwar sind Rezipienten in Wirklichkeit nie rein passiv, doch für gewöhnlich erschöpft sich ihre Aktivität in einer nachschöpfenden oder allenfalls ergänzenden Interpretations- und Phantasietätigkeit. Anders in diesem Fall: Hier bestimmen sie aktiv Form und Inhalt eines Gebildes, das vorher so nicht vorhanden oder jedenfalls nicht realisiert war. (Unter einer „Realisierung“ eines Werks verstehe ich ein materielles Gebilde, das jene Eigenschaften aufweist, die der Autor als wesentliche Eigenschaften des Werks festgelegt hat. Eine fehlerfreie Kopie eines Gedichts wäre also eine Realisierung, während das Gedicht selbst, so nehme ich an, ein abstraktes Gebilde ist, also etwas, das nicht direkt – ohne eine Realisierung – wahrnehmbar ist.)18
Czernins Metamorphosen verbinden Interaktivität mit Aleatorik, das heißt, es wird dem Zufall Raum gegeben. Die Zusammenstellung eines Gedichts aus den vorhandenen Streifen (bzw. aus einer Auswahl derselben) könnte allein aufgrund bewusster Entscheidung erfolgen. Man kann aber auch aleatorische Verfahren anwenden, etwa – um nur eine sehr einfache Variante zu nennen – indem man die Streifen durcheinandermischt, verdeckt eine bestimmte Anzahl davon zieht und die gezogenen Verse in der Reihenfolge des Ziehens aneinanderfügt. Czernin selbst schlägt eine Reihe von (etwas komplizierteren) aleatorischen Verfahren vor, an denen – in Form einer Art von Gesellschaftsspiel – mehrere Personen beteiligt sind. Die Spieler einigen sich zu Beginn auf eine (gegebenenfalls auch auf mehrere) Regeln, denen die Zusammenstellung der Verse genügen muss. Dies können formale Regeln sein (z.B. Reimschemata) oder auch inhaltliche (etwa dass in jedem Vers von Pflanzen oder Tieren die Rede sein muss). (Czernin schlägt verschiedene solcher Regeln vor; denkbar ist aber auch, dass die Spieler selbst neue finden.) Sodann erhält jeder Spieler eine bestimmte Anzahl von Versstreifen, und die Spieler dürfen reihum je einen Vers legen, sofern sie einen passenden haben.
Im Falle interaktiver und aleatorischer Werke verzichtet der Autor bewusst darauf, die endgültige Form des Werks (bzw. einer Realisierung des Werks) zu bestimmen. Widerlegen also Werke wie die Metamorphosen die autorintentionalistische These, dass die wesentlichen Eigenschaften des Werks vom Autor festgelegt werden, der Autor also die „Werkherrschaft“ innehat? – Nicht unbedingt. Zunächst einmal ist hier auf jeden Fall zwischen dem Werk Metamorphosen einerseits und den einzelnen aus diesem Werk hervorgehenden Gedichten andererseits zu unterscheiden. Die Beziehung zwischen diesen kann unterschiedlich gedeutet werden. Nach einer Interpretation ist jedes einzelne Gedicht, das aus Czernins Versen durch Anwendung der von Czernin festgelegten Regeln gebildet werden kann, ein Bestandteil der Metamorphosen. (Ich nenne dies im Folgenden kurz „die Einschlussinterpretation“.) Nach einer anderen Interpretation sind die einzelnen Gedichte jedoch nicht Bestandteile der Metamorphosen, sondern etwas anderes, das aus den Metamorphosen entsteht, unter Verwendung von Bestandteilen der Metamorphosen.
Der Unterschied dieser beiden Interpretationen ist bedeutsam, denn wenn man die Einschlussinterpretation zugrunde legt, wird die Autorschaft der Metamorphosen (aus autorintentionalistischer Sicht) sehr viel problematischer als im Rahmen der zweiten Interpretation. Wenn man annimmt, dass die Metamorphosen jedes aus den Versen generierbare Gedicht als Bestandteil enthalten, obwohl der Autor nicht jedes dieser Gedichte intendiert hatte, dann, so scheint es, muss man akzeptieren, dass zumindest manche Bestandteile des Werks unabhängig von den Autorintentionen sind.
Ich plädiere für die zweite Interpretation, also für die Auffassung, dass die einzelnen Gedichte nicht Bestandteile der Metamorphosen sind. Denn würde man die Einschlussinterpretation in diesem Fall akzeptieren, müsste man dann nicht auch akzeptieren, dass die einzelnen Gedichte Bestandteile des Systems „Deutsche Sprache“ sind? Ich sehe keinen überzeugenden Grund, die Einschlussthese im einen Fall zu akzeptieren und im anderen nicht. Dann aber müsste man wohl analog akzeptieren, dass jedes Gebilde, das aus einem bestimmten Typ von Lego-Baukasten zusammengebaut werden kann, ein Bestandteil dieses Typs von Baukasten ist. Man müsste dann womöglich auch akzeptieren, dass jedes Bild, das mit den Farben aus einem bestimmten Typ von Farbkasten gemalt wurde, ein Bestandteil dieses Typs von Farbkasten ist. Und so fort. Diese Konsequenzen erscheinen mir kontraintuitiv und sollten daher meines Erachtens nach Möglichkeit vermieden werden; und sie sind leicht zu vermeiden, da es ja eine Alternative zu der Einschlussinterpretation gibt.
Wenn aber die einzelnen Gedichte nicht Bestandteile der Metamorphosen sind, dann erscheint die Autorschaft der Metamorphosen jedenfalls nicht mehr prima facie problematisch. Die Metamorphosen bestehen demnach aus einer Menge von Versen und einigen Regeln; und der Autor beider Komponenten ist Franz Josef Czernin.
Es bleibt aber freilich noch die Frage übrig, wer der Autor eines Gedichts ist, das jemand anderes aus den Metamorphosen generiert hat. Hier sind mindestens zwei Fälle zu unterscheiden: 1. Die Zusammenstellung erfolgt allein aufgrund bewusster Entscheidung, ohne aleatorische Elemente. 2. Aleatorische Elemente spielen eine Rolle.
Ich betrachte zunächst den ersten Fall. Wenn die Zusammenstellung allein aufgrund bewusster Entscheidung erfolgt, gibt es – aus autorintentionalistischer Sicht – mindestens zwei mögliche Antworten auf die Frage nach der Autorschaft: 1. Der Autor des Gedichts ist die Person, die die Verse kombiniert hat. 2. Das Gedicht hat zwei Autoren, nämlich einerseits Czernin und andererseits die Person, die die Verse kombiniert hat.
Für die zweite Antwort spricht, dass in diesem Fall die schöpferische Leistung Czernins beim Verfassen der Verse nicht nur gleich hoch, sondern wahrscheinlich wesentlich höher zu veranschlagen ist als die schöpferische Leistung der Auswahl und Zusammenstellung. Doch es mag andere, strukturell ähnliche Fälle geben, in denen der schöpferische Prozess in erster Linie aus kombinatorischen Entscheidungen besteht und nur in geringem Ausmaß in der Auswahl des „Materials“ und der Festlegung von Kombinationsregeln. In diesen Fällen wäre die zweite Antwort weniger plausibel.
Es gibt allerdings auch für den gegenständlichen Fall einen Einwand gegen die zweite Antwort: Czernin nimmt in dem skizzierten Beispiel (so setze ich hier voraus) keinerlei Einfluss auf die Zusammenstellung, er hat keine Kontrolle darüber, nicht einmal in Form von Zustimmung oder Ablehnung. Er hat also keine Autorität über die endgültige Form des Werks. Doch übliche Formen von kollektiver Autorschaft zeichnen sich dadurch aus, dass alle beteiligten Autoren das Endprodukt akzeptieren, ihm – im wörtlichen oder im übertragenen Sinne – die Imprimatur erteilen. Wenn man das Erteilen der Imprimatur als notwendige Bedingung für Autorschaft annimmt, wäre Czernin demnach nicht Mitautor des Gedichts. Freilich wäre er aber sehr wohl auch nach dieser Auffassung der Autor sämtlicher Bestandteile des Gedichts, aber das allein impliziert nicht (Mit-] Autorschaft. Eine Analogie: Angenommen, ein Künstler würde zehn Bilder eines anderen Künstlers in Streifen schneiden und aus den Streifen eine Collage machen: Wessen Werk wäre die Collage?
Andererseits könnte man vielleicht sagen, dass im konkreten Fall der Metamorphosen der Autor der Verse gewissermaßen eine Blanko-Imprimatur für sämtliche möglichen Verskombinationen erteilt hat. (Denn der Witz des Werkes ist ja gerade, dass die Rezipienten/Spieler die Verse selbst kombinieren sollen.) Wenn man das so interpretiert, würde der obige Einwand mit der fehlenden Imprimatur nicht greifen, und ich würde dann keinen Grund sehen, Czernin die Mitautorschaft an einem Gedicht abzusprechen, das aus der Zusammenstellung seiner Verse durch eine andere Person entstanden ist.
Wieder anders verhält es sich mit der Autorschaft, wenn aleatorische Verfahren angewandt werden. Im konkreten Fall der Metamorphosen könnte der einzige „schöpferische“ Beitrag der Spieler darin bestehen, dass sie unter den von Czernin vorgeschlagenen Regeln eine auswählen. Alles Weitere wäre dann nur ein stures Befolgen der Regel. Die Spieler würden sich wie ein Computer verhalten; sie würden einfach einem Algorithmus folgen. Ich neige zu der Auffassung, dass durch einen solchen Prozess überhaupt kein Werk entsteht (so wenig, wie ein Werk entstünde, wenn ein Kleinkind die Streifen auflegen würde oder die Streifen durch einen Windstoß auf eine bestimmte Weise arrangiert werden würden). Daher stellt sich in diesem Fall die Frage nach der Autorschaft gar nicht. Denn Werkschöpfung besteht wesentlich im Treffen von Entscheidungen.
Es sind jedoch kompliziertere Anwendungsfälle aleatorischer Verfahren denkbar. Es könnte etwa sein, dass die Spieler das Spiel sehr oft spielen, die Resultate dokumentieren und irgendwann aus einer sehr großen Zahl von „Gedichten“ einige wenige, die ihnen besonders gelungen erscheinen, auswählen und veröffentlichen. (Ich setze den Ausdruck „Gedicht“ hier in Anführungszeichen, weil ich bezweifle, dass solche nur durch Anwendung eines Algorithmus entstandenen Gebilde Gedichte im eigentlichen Sinn des Wortes sind.) In diesem Fall könnte der Auswahlprozess als ein Spezialfall des schöpferischen Entscheidungsprozesses aufgefasst werden (in Analogie zu den Readymades in der bildenden Kunst, bei denen das Werk eben auch erst durch den Akt der Auswahl entsteht).
Es sind noch andere Mischformen aleatorischer und genuin-schöpferischer Verfahren möglich. Czernins Metamorphosen enthalten auch einige leere Streifen, die man dazu benutzen kann, einen selbst ausgedachten Vers einzufügen. Wenn also ein Gedicht sowohl aus Czernins vorgegebenen Versen als auch aus neu von einem Spieler geschriebenen besteht, könnte man dies wiederum als einen Fall kollektiver Autorschaft interpretieren – zumal die Verwendung eigener Verse ja von Czernin ausdrücklich intendiert ist.
Interaktive und aleatorische Werke sind also sicherlich eine Herausforderung für eine autorintentionalistische Position, aber sie widerlegen diese Position nicht. Vielmehr lassen sich Fragen über Autorschaft, die solche Werke aufwerfen, aus einer autorintentionalistischen Perspektive beantworten, wobei es unterschiedliche Antwortmöglichkeiten gibt.
Doch damit ist eine wichtige Frage noch nicht beantwortet, nämlich die ganz allgemeine Frage, inwieweit Autorschaft völlige Kontrolle über das Werk erfordert, ob alle Werkeigenschaften vom Autor intendiert werden müssen, und ob das überhaupt möglich ist. Diese Frage betrifft nämlich keineswegs nur interaktive und aleatorische Werke. Wie Czernin feststellt, muss die Rekombination von Versen oder Teilen von Versen nicht unbedingt auf direkte Weise mithilfe von Papierstreifen o.Ä. geschehen, sondern kann sich auch nur „im Kopf“ eines Lesers, beim Lesen eines scheinbar feststehenden Textes vollziehen.19
Überlegungen wie diese könnten zu der Auffassung führen, dass das Werk eigentlich erst „im Kopf“ des Lesers entsteht oder zumindest dort erst seine endgültige Gestalt erhält. Dann aber wäre der Leser stets zumindest Ko-Autor – es sei denn, der Leser würde nur nachvollziehen, was der Autor intendiert hat. In letzterem Fall würde der Leser nur das realisieren, was der Autor zuvor festgelegt hat – ähnlich einem Musiker, der das Werk eines Komponisten realisiert, indem er den – womöglich in einer Partitur notierten – Absichten des Komponisten folgt. In der Tat entspräche das der (oder zumindest einer) intentionalistischen Auffassung: Der Autor intendiert, durch seinen Text in den Lesern bestimmte mentale Vorgänge hervorzurufen (bestimmte bildhafte Vorstellungen, Gedanken, Emotionen etc.). Wenn der Leser die entsprechenden mentalen Vorgänge wirklich erlebt, hat er den Text angemessen rezipiert; die Kommunikation ist gelungen. Wenn der Leser die entsprechenden Vorgänge nicht erlebt, ist die Kommunikation nicht gelungen; der Leser hat den Text nicht angemessen rezipiert.
Was aber, wenn der Leser nicht nur die vom Autor beabsichtigten mentalen Vorgänge erlebt, sondern noch weitere, vom Autor nicht intendierte? Was, wenn ihm beim Lesen eines Gedichts Beziehungen zwischen Wörtern und Versen, intertextuelle Bezüge oder Mehrdeutigkeiten auffallen, die vom Autor nicht beabsichtigt waren, die womöglich der Aufmerksamkeit des Autors entgangen sind?
Ein Autorintentionalist ist sicher nicht darauf festgelegt zu sagen, dass eine solche Rezeption notwendigerweise unangemessen ist. Es ist nur fraglich, ob ein Autorintentionalist sagen kann, dass die genannten Bezüge, Mehrdeutigkeiten etc. Bedeutungskomponenten sind, die das Werk mitkonstituieren. Manche Autorintentionalisten würden das verneinen. Aber es ist auch eine Variante des Autorintentionalismus denkbar, die das bejaht. Man könnte – im Rahmen eines Autorintentionalismus – argumentieren, dass es so etwas wie implizite Absichten gibt: Wenn ein Autor mit voller Absicht und ganz bewusst bestimmte Wörter wählt, dann eröffnet er damit einen „Möglichkeitsraum“ von Interpretationen, die er wahrscheinlich nicht in ihrer Gesamtheit explizit beabsichtigen kann. Aber er kann sehr wohl explizit beabsichtigen, dass die Leser diesen Möglichkeitsraum so vollständig wie möglich ausschöpfen sollen; und damit hätte er implizit jede einzelne der möglichen Interpretationen mitintendiert.
Auch in dieser Sichtweise spielen die Autorabsichten offensichtlich noch eine wesentliche Rolle. Denn es liegt ja an den Autorabsichten, wie „offen“ das Werk ist. Ich unterstelle, dass auch bei sehr offenen Werken nicht jede beliebige Interpretation implizit oder explizit beabsichtigt ist; manche Leseweisen wird der Autor als unangemessen betrachten. Doch dies ist eine empirische Hypothese; prinzipiell – und als Grenzfall – wäre auch unbegrenzte Offenheit denkbar. Aber dann liegt es eben an den Absichten des Autors, der bewusst auf jedwede Grenzziehung verzichtet.
In diesem Licht ist es auch plausibel, zumindest tendenziell einen Unterschied zwischen poetischer und alltäglicher Rede zu machen. Es leuchtet ein, dass poetische Texte tendenziell offener sind als alltägliche Äußerungen. Das heißt (gemäß dem obigen Vorschlag), dass die Sprecher in alltäglichen Kommunikationssituationen in der Regel nur die expliziten Bedeutungen intendieren, während in der Poesie oft (vielleicht immer) auch nicht explizit beabsichtigte Bedeutungen implizit mitgemeint sind (wobei durchaus auch hier ein Mehr oder Weniger an Offenheit möglich ist).
Wenn Offenheit im Spiel ist, kann der Autor nicht mehr die völlige Kontrolle über sein Werk haben. Aber das ist ein freiwilliger, absichtlicher Kontrollverlust. Es gibt also angemessene Leseweisen, die vom Autor nicht explizit beabsichtigt wurden.

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Kann ein Werk nach erfolgter Fertigstellung und Veröffentlichung durch den Autor sich verändern (ohne direkte Überarbeitung)? Verändert sich ein Text dadurch, dass andere Texte entstehen, die ein Leser zu dem alten Text in Beziehung setzen könnte? Verändern sich Werke durch Rezeptionsprozesse? Verändert sich ein Gedicht dadurch, dass es auf eine neuartige Weise gelesen wird? Czernin bejaht diese Fragen: Auch in einem Gedicht könne sich etwas verwandeln. Die Verwandlung sei dabei das Resultat je unterschiedlicher Wahrnehmungs- bzw. Leseprozesse. Czernin beruft sich dabei auf das Diktum „esse est percipi“ („Sein ist Wahrgenommenwerden“) des idealistischen Philosophen George Berkeley.20
Allerdings erscheint mir Czernins Idealismus in Bezug auf poetische Sinngebilde aus ontologischer Perspektive ebenso unzureichend begründet wie Berkeleys Idealismus in Bezug auf die Welt der Sinnendinge; und im Gegensatz zu Berkeley hat Czernin (so unterstelle ich jedenfalls) nicht einmal einen omnipotenten Gott zur Verfügung, der vielleicht die intersubjektive Wirklichkeit und Stabilität der betreffenden Entitäten garantieren könnte.
Die Veränderung sprachlicher Bedeutungskonventionen einzelner Wörter, zum Beispiel, führt, so meine ich, nicht zwangsläufig zur Veränderung der Bedeutung eines Gedichts, welches diese Wörter enthält. Wenn in einem englischen Gedicht des 17. Jahrhunderts von einem Mann die Rede ist, der einen „plastic arm“ habe, dann verwandelt sich die Figur dieses Gedichts im 20. Jahrhundert nicht von einem Menschen mit wohlgeformter Armmuskulatur in einen Prothesenträger, nur weil das Wort „plastic“ einen Bedeutungswandel erfahren hat. Vermutlich ist und bleibt die Prothesen-Interpretation unangemessen, da vom Autor weder explizit noch implizit beabsichtigt. Sollte aber der Autor so weitgehende Offenheitsintentionen gehabt haben, dass diese Interpretation angemessen wäre, dann hätte sich das Gedicht auch nicht verändert, weil die neue Interpretation ja bereits von Anfang an Teil des Bedeutungshorizonts dieses Gedichts gewesen wäre.
Die These, dass Werke sich durch neue Rezeptionen verändern, erschiene mir daher nur begründet, wenn man sich dafür entschiede, die Rezeptionsvorgänge als Bestandteile des Werks aufzufassen. Aber dafür kann ich keinen guten Grund sehen. Es erscheint vernünftig, den Prozess des Rezipierens vom Gegenstand der Rezeption zu unterscheiden.
Franz Josef Czernins Reflexionen über die Beziehung von Werk- bzw. Textmerkmalen und Autorabsichten werfen eine ganze Reihe von hochbrisanten literaturtheoretischen Fragen auf, welche die Debatte der vergangenen Jahrzehnte und der Gegenwart wesentlich geprägt haben und prägen.21 Seine Skepsis gegenüber allzu einfachen autorintentionalistischen Modellen ist nachvollziehbar und begründet. Czernin begeht allerdings – dies sei an dieser Stelle ausdrücklich betont – auch nicht den umgekehrten Fehler, das Konzept der Autorschaft vollständig über Bord zu werfen. Das ist gut so. Denn der Begriff des Autors spielt – aller gegenläufigen Rhetorik zum Trotz – nach wie vor eine zentrale Rolle, sowohl in der Literaturtheorie als auch im praktischen Umgang mit literarischen Texten; und die Position des Autorintentionalismus hat das Potenzial, auch zumindest manche jener Phänomene zu erklären, die auf den ersten Blick nicht mit ihr kompatibel erscheinen.

Maria Elisabeth Reicher, aus Thomas Eder (Hrsg.): Franz Josef Czernin, edition text + kritik, 2017

 

 

Franz Josef Czernin: Mainzer Poetikvorlesung 1

Frauke Tomczak im Gespräch mit Franz Josef Czernin: Literaturkritik ist eine Erkenntnisform

Erich Klein im Gespräch mit Franz Josef Czernin: „Ich bin nicht der Herr des Textes“

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Ronald Pohl: Interview – Dichter Franz Josef Czernin: „Wie ordnet man Kräfte rund ums Wort?“
Der Standart, 7.1.2022

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 1 & 2 + ÖM + IMDb +
KLG
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Dirk Skibas Autorenporträts + Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Sehr seltene Single einer österreichischen Band namens YOUNG SOCIETY, drei Singles hat man um das Jahr 1970 herum (immerhin bei Decca) gemacht, hier zu hören die B-Seite der Single Flowers – Songschreiber ist ein gewisser F.J. Czernin – er hatte damals Musik studiert.

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