Friederike Mayröcker: Blaue Erleuchtungen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Friederike Mayröcker: Blaue Erleuchtungen

Mayröcker-Blaue Erleuchtungen

IMPRESSION

Wagengelber
blinder Falter
hängt an meinem
Morgenspiegel
wassergrüne
Orchideen stehn
ins aufgerauhte
Licht; weisze
Chrysantheme
trauert: drüben
schweben blaue
Himmel

 

 

 

Friederike Mayröcker: Blaue Erleuchtungen

Seit der Wiener Ernst Jandl in den sechziger Jahren einem grösseren Publikum bekannt wurde, ist auch seine gleichaltrige Wiener Gefährtin Friederike Mayröcker zu literarischem Ansehen und zu zahlreichen Buchpublikationen in renommierten Verlagen gekommen. Mit Texten, die Elemente des Surrealismus mit konkreter Poesie verbinden, hat sie beispielsweise das Entzücken Max Benses erregt, der die dunklen Poesien der Friederike Mayröcker etwa mit folgenden Worten zu erhellen suchte:

Die Erweiterung des sprachlichen Vermögens… erfolgt… auf dem Wege der Herstellung fiktiver, hypothetischer, hypotypotischer, nämlich metaphorischer und diskreter Bedeutungen mit Hilfe kompositioneller Techniken, die zu ausgesprochen expressiv und suggestiv wirkenden linearen Wortmontagen und Textcollagen führen, aus denen semantische Einheiten nur bruchstückartig, fragmentarisch herausgehoben werden können.

Nun hat Friederike Mayröcker – deren bedeutendster Beitrag zur zeitgenössischen Literatur meiner Meinung nach darin besteht, dass sie das „ß“ konsequent als „sz“ schreibt –, „zum ersten Mal“, wie der Verlag stolz vermeldet, frühe Lyrik publiziert. Der Band heisst Blaue Erleuchtungen und enthält Gedichte, die zwischen 1945 und 1950 geschrieben wurden. Und diese Gedichte zeigen, dass die Autorin sich vor zweieinhalb Jahrzehnten ebensogut dem Trend der damaligen Poesie anzupassen wusste, wie sie sich heute der konkreten Poesie bedient.
Da rauscht viel Wehmut durch die Verse, Trakl, Rilke und der späte Benn lassen grüssen, Astern und Lilien, Chrysanthemen und Orchideen duften, Zikaden und Jünglinge beleben das lyrische Terrain. „Himmel aus bleichen / Rosen haucht gebänderte / Fluren an“, „Linden hängen / voll grünen Goldes“ (– man beachte den gepflegten Genitiv! –), und die Augen des Geliebten sind „in mein hoffendes Herz gesunken / … still wie Glocken im Meer“. Erlesene Bilder, edle Worte, Müdigkeit und Abschiedsstimmung mischen sich zu einem wohltemperierten Surrealismus aus dritter Hand.
Nun gut, so dichteten damals Lyrik-Debütanten eben, und warum hätte eine Autorin, die auch heute noch nicht originell ist, es zwischen ihrem 20. und 25. Lebensjahr sein sollen? Aber weswegen werden solche Verse heute publiziert? Schliesslich hätte es mit der Veröffentlichung der Jugendwerke doch wohl noch ein bisschen Zeit gehabt, ein paar Jahrzehnte vielleicht, bis zum Erscheinen der historisch-kritischen Mayröcker-Gesamtausgabe etwa.
Will die Eremiten-Presse hier auf der Nostalgie-Welle mitschwimmen? Soll bewiesen werden, dass Friederike Mayröcker durchaus das Zeug zu einer zweiten Friederike Kempner hätte? Oder wollten sich Autorin und Verlag schlicht einen Jux machen?
Dagegen wäre ja eigentlich nichts zu sagen. Nur: In einer Zeit, in der für Lyrik nur schwer ein Verleger zu finden ist, in der Dutzende begabter jüngerer Lyriker den Verlagen ihre Manuskripte vergebens anbieten, ist ein solch überflüssiges Bändchen ein Aergernis. Uebrigens kann man die Blauen Erleuchtungen auch in einer Vorzugsausgabe bekommen, numeriert und von Friederike Mayröcker höchstselbst signiert – schade nur, dass (beziehungsweise: dasz) sich der Verlag nicht auch noch zu handgeschöpftem Büttenpapier hat entschliessen können.

J.P. Wallmann, Die Tat, 29.9.1973

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Gabriele Beck: o. T.
Sender Freies Berlin, 2.8.1973

Gisela Grimme: Sprache, die zweite Schöpfung. Frauenlyrik heute
Buch und Bibliothek Heft 11/74, 1974

H. B.: Erste Gedichte
Luxemburger Wort, 6.12.1973

Hans Heinz Hahnl: Der Gartenkohl im Taftgewand
Arbeiter-Zeitung, 10.6.1973

Hans-Jürgen Heise: In Trakls Sprachschatten
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.6.1973
Schwäbische Zeitung, 5.11.1973

J. Dr. [Jörg Drews]: Kostbarkeiten, Köstlichkeiten
Süddeutsche Zeitung, 7.4.1973

Hedwig Rohde: Frühe Veilchenlieder
Der Tagesspiegel, 16.9.1973

Jürgen P. Wallmann: Ein Mayröcker-Jux?
Rheinische Post, 2.6.1973

Jürgen P. Wallmann: Auch der späte Benn läßt grüßen
Badische Zeitung, 11.8.1973

Jürgen P. Wallmann: „Wer wirft den ersten Stein auf den, der Steine wirft?“
Rheinischer Merkur, 5.10.1973

Jürgen P. Wallmann: Die Kempner unserer Tage
Deutsche Zeitung Christ und Welt, 19.4.1974

 

Die poetische Syntax in den Gedichten von Friederike Mayröcker

Friederike Mayröckers Lyrik entwickelte sich in zwanzig Jahren vom freien Vers zum „freien Gedicht“. Diese Entwicklung ist an Hand von syntaktischen Modellen darstellbar.
Von 1945 bis 1960 schrieb Friederike Mayröcker Gedichte in freien Versen. Reime verwendete sie selten, fixierte Vers-Schemata vermied sie.
Im einfachsten Modell, das sie damals benützte, hat die Syntax keine poetische Funktion, keinen ästhetischen Eigenwert. Sie fällt mit der normativen Syntax zusammen. Wort reiht sich an Wort, Satz an Satz, nach jenen Regeln der Grammatik. Träger der ästhetischen Dimension ist das Einzelwort, die Wortgruppe und der Zusammenhang des Gedichtes. Die zweite Phase, von 1950 bis 60, bringt mehrere Beispiele dieses Modells. Das ist kein Zufall, denn diese zehn Jahre sind für die Autorin eine Zeit intensiver Beschäftigung mit der Realität. Sie erlangt Distanz zur Umwelt und zu sich selbst. Sie registriert, was sie sieht, was sich ereignet, was sich ereignet hat, in einfachen Worten. Einzelmotive, die in der ersten Phase vieles verstellten und überschatteten, werden auf natürliche Maße reduziert. Die Betrachtung der Vielfalt tritt an die Stelle des Überwältigtwerdens durch Einzelnes. Reflexion schiebt sich ein, aber meist sind es die Dinge selbst, die genannt, benannt, berührt und verändert werden.
Das sachlichste dieser Gedichte, in dem die Teilnahme der Autorin am stärksten gedämpft ist, heißt „Hammerklaviere“. Es registriert Erinnerungen aus der Kindheit.

Hammerklaviere
Frau Bogunke
Hammerklaviere
gibt es nicht viele in Wien.
Aber im Elbesandsteingebirge
gibt es davon eine Menge.

Ich plärrte eben eine Stelle
aus Benjamin Brittens Serenade
da flocht er mir Rosen ins Haar
tatsächlich Rosen ins Haar
und Frau Bogunke sah zu.

Es gab in ihrer Gegend viel Mond
eine Fülle von Mond jeden Abend
die Gardinen flogen in den Garten hinaus
aber ich war verhext
und sie sagte zu mir:
Iß mein Kind!
über Brieg stand der Mond Nacht für Nacht
ich bekam Briefe und Röteln
ich las Wallensteins Lager
ging Äpfel stehlen
preßte mich gegen die warme Herdplatte
und nahm winters Stunden im Skilauf.
Die Soldaten sangen das Lied vom Wagen
der wieder rollt.
Ich notierte auf einem grünseidenen Kanapee
mein erstes Gedicht.

Ein anderes Beispiel dieses syntaktischen Modells aus gewohnten Sätzen ist das größere, unmittelbare, belebtere Gedicht „Huckepack“, das als Charakterskizze beginnt, eines vereinsamten Vetters, der das Wort „huckepack“ spricht und so auf seine Last weist, die darin besteht, daß er, wie das Gedicht sagt, „den Wellengang der Welt auf sich nimmt“. Diesem Blick auf einen bestimmten Einzelnen folgt, in einer Verschränkung von Impression und Reflexion, der Blick aufs allgemeine Ganze.

Huckepack sagte mein Vetter als
er stachelbärtig stachelbärtig stachelbärtig
durch unsere Gasse lief
er hatte ein Köfferchen unter dem Arm
und er fühlte sich immer noch Witwer
nach seiner Lebensgefährtin
auch die anderen Trauergäste waren gekommen
die doppelte Ausgabe der Klageweiber
mit dem Wäscheflor über den Rosenlippen
er aber ging mit auseinanderfließendem Gesicht
an mir vorbei und grüßte mich wie einer
der eben wieder wie so viele Male
den Wellengang der Welt
in seinem Schiffchen Einsamkeit
auf sich nimmt.

Nun ihr lieben Ameisen wie geht es euch?
gefällt es euch hier auf der blütenreichen Erde?
rastet niemals denn euch steht es am besten an
zu wimmeln nach eurem eingesagten Plan
Malvengesichter Rundköpfe Puppenaugen
Pagenschnitt über schöner Schädelform blond
liegt bei Schubertliedern lauschend auf der Plüschrampe
Wangen erdbeerfarben
dreh dich einmal rundherum so daß man
deine ganze Gestalt sehen kann
dreht euch lebt es genügt nicht ein Lächeln
ein Blick hinter Auslagenfenstern hervor
oder die mollige Berührung zweier weit auseinander liegenden Augen
sondern ihr müßt euch begeben
in den Tanz in die Versuchung in die Verschlingung
dann setzt Schritt vor Schritt
oder steht und bleibt starr:
immer wieder kommt einer der hilft euch heraus
und vom Fleck
aber es braucht eine lange Zeit ehe man einsieht
was geschehen hätte müssen und was eigentlich geschah
dann steht man wieder und hält den Atem an
oder trällert ein Liedchen oder
fängt an Jazz zu lieben.

Schließlich, vom gleichen Modell einfachen Sprechens, ein Liebesgedicht, das, im Gegensatz zu den beiden anderen, noch ganz auf einen einzigen Gegenstand konzentriert ist, was beim Liebesgedicht nicht verwundert. Daß später, nach 1960, ein derartig einkreisiges Gedicht nicht mehr aufscheint, auch eine Einreihung in eine Gattung wie die des Liebesgedichtes nicht mehr gelingen kann, ist ein Zeichen für die veränderte Haltung der Autorin zum Gedicht: der Geliebte, oder in „Huckepack“ die wimmelnde Welt, oder in „Hammerklaviere“ die eigene Kindheit, erscheint in solchen Gedichten als etwas Größeres, Zentraleres als das Gedicht selbst; später, in der dritten Phase, steht das Gedicht im Zentrum des Interesses, es ist der zentrale Gegenstand des Denkens, Fühlens und Tuns der Autorin, für sie dann das Größte, größer als die Dinge, die die Worte bezeichnen, aus denen das Gedicht besteht. Daß auch hier, in diesem Liebesgedicht, die Konzentration auf ein Einziges nicht mehr ganz selbstverständlich ist, läßt sich an einem Bruch im Gedicht bemerken, im Ton der „Reportage“, der zuerst ganz ruhig ist, berichtend, was beobachtet wird, aber dann, am Schluß, wo man das Gefühl hat, hier müßte die Syntax aufbrechen, nämlich nach der Frage „was liest du gerade“, durch ein Umschlagen in einen anderen Ton, den des Liebesbekenntnisses, gebräuchlich und eher trivial, den Satz wieder in sein Gefüge bringt, und die Syntax rettet.

Manchmal bei irgendwelchen zufälligen Bewegungen
streift meine Hand deine Hand deinen Handrücken
oder mein Körper der in Kleidern steckt lehnt fast ohne es zu wissen
einen Augenblick gegen deinen Körper in Kleidern
diese kleinsten beinahe pflanzlichen Bewegungen
dein abgewinkelter Blick und dein Auge absichtlich ins Leere wandernd
deine im Ansatz noch unterbrochene Frage wohin fährst du im Sommer
was liest du gerade
gehen mir mitten durchs Herz
und durch die Kehle hindurch wie ein süßes Messer
und ich trockne aus wie ein Brunnen in einem heißen Sommer

Auch in anderen Modellen, bis 1960, bleiben die Sätze intakt. Dennoch regt es sich unter der Oberfläche, man spürt, wie es arbeitet, auf eine Befreiung von der normativen Syntax hin, zu einer eigenen, poetischen. Da gibt es etwa syntaktische Systeme aus einer oder mehreren Konstanten, an denen die Variablen hängen. „Litaneien“ nannte die Autorin eine Reihe früher Gedichte, und mit dem Ruf-Bitte-Schema einer Litanei, wo die Bitte konstant ist, der Ruf variiert wird, haben diese Gedichte auch manches gemeinsam. Am meisten das frühe Gedicht „Wird welken wie Gras“. Der Bittformel in der Litanei entspricht hier als Konstante der subjektlose Satz „wird welken wie Gras“. Da dieser, im Gegensatz zur Litanei, an der Spitze steht, wird zumindest zu Beginn des Gedichtes eine Veränderung der Syntax vorbereitet. Im Druckbild, wo die Formel „wird welken wie Gras“ bis auf eine einzige Zeile immer die erste Stelle besetzt, wird diese Reduzierung des Satzes im Verlauf des Gedichtes nicht so vollständig wieder zurückgenommen wie für den Hörer, wenn das Gedicht abrollt.

Wird welken wie Gras ∙ auch meine Hand und die Pupille
wird welken wie Gras ∙ mein Fuß und mein Haar mein stillstes Wort
wird welken wie Gras ∙ dein Mund dein Mund
wird welken wie Gras ∙ dein Schauen in mich
wird welken wie Gras ∙ meine Wange meine Wange und die kleine Blume
die du dort weißt wird welken wie Gras
wird welken wie Gras ∙ dein Mund dein purpurfarbener Mund
wird welken wie Gras ∙ aber die Nacht aber der Nebel aber die Fülle
wird welken wie Gras ∙ wird welken wie Gras

Ebenfalls aus der ersten Zeit, noch vor 1950 geschrieben, kommt ein Gedicht, dessen konstantes Element fünf gleichartig funktionierende Infinitivgruppen sind; das flektierte Verb, dreimal erscheinend, spielt eine Nebenrolle; das Gedicht ist subjektlos, besteht also aus reduzierten Sätzen; das Subjekt ist bekannt, aber nicht genannt. Das Gedicht ist ein Liebesgedicht.

Mit dem Speer werfen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaain ein fremdes Herz und
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas untergehende Auge sieht zu
mit gefesseltem Geist
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadurch die Stadt gehen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaüber Brücken unter Abendrosen
mit den Händen festhalten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadeine Stirn deinen Fuß dein Herz-Blatt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaawie ein Eichenblatt im Herbst nach dem Ausritt
mit dem Kahn treiben
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauf einem blauen Teich den es nicht gibt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadein Gesicht schwebend in meinen Händen
mit den gelösten Nachtigallen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadein Herz ansingen tag- und nachtlang
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaabis es still wird wie Wolken im September

Ähnlich diesen beiden in der Herstellungsweise, aber interessanter im Vokabular, ist ein Gedicht aus der zweiten Phase, dessen Variablen an eine Kolonne aus der dreizehnmal wiederholten Wendung „etwas wie“ angesetzt sind. Ein „Fühlgedicht“, mehr im Sinne der Huxley’schen „feelies“ als der Gefühlslyrik von einst, versetzt es den Leser, oder Hörer, in eine Traumwirklichkeit, wo alles nur „etwas wie“, aber keines „etwas“ ist, unfaßbar, verschwimmend, und dann einzelnes wieder ganz klar, deutlich sichtbar. Hier sind die Sätze weg, aber die Säule aus „etwas wie“ und die Wortfolgen des variierten Teils halten das ganze so fest zusammen, daß man den Satz nicht vermißt. Erstmals tauchen hier, bewußt zu einem ästhetischen Zweck verwendet, wie später in jedem Gedicht, Wörter in Klammern auf, am Ende von sechs dieser dreizehn Zeilen. Sie stehen in wechselnden Relationen zu den Versen, an deren losem Ende sie angebracht sind. Zur endlichen Enthüllung des von Vergleichen eingekreisten „etwas“ dienen auch sie nicht. Dieses bleibt dunkel, der Traum bleibt Traum.

Etwas wie Küsten kleefarben und Gewahrsam der Meere
etwas wie Möven stirnnah und schreiend wie ertragenes Schicksal
etwas wie historische Nacht klösterlich braun und ausgebrannt in den Mulden der Inseln
etwas wie Hanf wogender Kniefall mitten in schönen Pfauen (Schalmeien)
etwas wie Luftschwingen Traumhecken Schaum-Gestrüpp
etwas wie gläserne Küsse Nachtauge schwärmende Trauervögel (Mohn)
etwas wie schütterer Morgen im frühen November
etwas wie Regen an traurig bekränzten Fischen (Rauch)
etwas wie Asche ängstlich und windhoch gewirbelt (mürbe Schlote)
etwas wie Stein bläulich und runde Grüße mäandernd auf Gräbern
etwas wie Stein zärtliches Kissen für Tote (Sand auf Sand)
etwas wie Süße im Anblick der tausend Meere

Ein weiteres syntaktisches Modell aus der Anfangszeit entstand durch verschiedene Arten der Reihung von Verszeilen, die zu einander in loser Beziehung stehen und, unverändert oder nur leicht variiert wiederholt, in verschiedenen Konstellationen das Gedicht aufbauen. Das Gedicht bekommt etwas Schwebendes, Singendes, die Teile des Satzes erhalten Gleichwertigkeit, jeder Teil vermag ein Ganzes zu sein, eine Zeile zu tragen, sein Teil-Charakter als Satzteil wird verwischt. Eines davon, „Im Walde von Katyn“, ist auch das erste Beispiel der Aufnahme eines Elements in anderer Sprache, zweier englischer Zeilen. In der dritten Phase, der des „freien Gedichts“ oder, wie die Autorin es nennt, des „totalen“, ist Anderssprachiges in Fülle mit allen Anzeichen von Selbstverständlichkeit in den deutschen Zusammenhang gebettet.

Im Walde von Katyn
im Walde von Katyn
dort wo die Vöglein sangen
im Wald von Katyn
im Wald von Katyn
da sangen die Vöglein alle
(and the chariot swung the chariot
over the metiterranean sea swung over the sea)
im Walde von Katyn
im Walde von Katyn
dort wo die Vöglein sangen
im Wald von Katyn
da sangen die Vöglein alle
and the chariot swung the chariot
over the sea

Reihung findet sich auch als fortlaufende Reihe, ohne daß sich etwas wiederholt. Jede Zeile hat das gleiche Gewicht, ist jeder anderen gleichwertig, Beginn und Ende können unvermittelt erfolgen oder auch markiert sein. Im Gedicht „Wahrsagen aus den Morgen-Stunden eines hellen Tages“ ist das Ende markiert, der Anfang ein plötzliches Eintreten in etwas, das schon begonnen hat, dem Erwachen nicht unähnlich.
Reihung ist satzfeindlich. Entweder neigt sie dazu, das gleiche Satzmodell zu wiederholen, in das immer wieder neues Wortmaterial gefüllt wird, dann verliert der Satz von Zeile zu Zeile an Gewicht, ein parodistischer Zug stellt sich ein; oder die Reihe befreit sich vom Satz, wie hier, und befaßt sich mit Worten, Wortgruppen, Rhythmen und anderem.
„Wahrsagen“ ist ein Gedicht, das an das traumhafte „etwas wie“ erinnert; nur daß hier kein Traum ist, keine Traumwelt, sondern eine ganze wache, „aus den Morgen-Stunden eines hellen Tages“, allerdings, wie später jedes Gedicht, ein Zusammenschließen von äußerer und innerer Welt ins gleiche Gewebe. Es ist eine Landschaft, die hier entsteht, keine Aktion, kein Vorgang. Daher ist das Verb vor allem in seiner ruhendsten, statischen Form da, dem Partizip Perfekt: beschritten; beladen; verlassen; verstreut.

Wahrsagen aus den Morgen-Stunden eines hellen Tages
beschritten und blau Enzianvergessenheit
Fenstersturz eines kleinen schilfbeladenen Monokels
o traurige Osterblume Birkenbäumchen im Atlantik
Flügelschlag der Riesensonne Meer über Mittagswellen

nur im Umkreis verlassene Stätten Häuser aus Blättermusik
I like the sunrise fis-dur die Fliederschatten zur Stunde
blütenverstreut bleichen dich Wassertauben sanfter Mond
Stagnation des Blutes in den Haupt-Straßen der Tauben
rein-leise durch den Septembertag hirsch-grün ins Weite
über die Hänge schließlich die Rebe: Immer-Stock

In der mittleren Phase nimmt die Neigung zu, das agierende Zeitwort durch die starrere, ruhigere Form des Partizips zu ersetzen; neben dem häufigen Partizip der Vergangenheit erhält auch das der Gegenwart seine Rolle, wozu manches Verb von sich selbst aus zwingt: „donnernd“, das gibt es; „gedonnert“ nur in Verbindung mit: „es hat“.
Das nächste Gedicht, wieder eine Landschaft, real, quer durch die Zeiten, daher überdimensional, ist das Modell einer Partizipkette.

Das geschwaderblaue das hanfgelbe Getränk des Triumphs
in den aufgeblühten Lüften von Sonne zu Sonne gereicht
von Mond zu Mond geliebtes abgewandtes Gesicht
immer vorauseilend über dämmrige Giebel Oktobersonntag
in die Gebirge donnernd mit regenbogenfarbenen Füßen
kastanienschiebend welke Wälder
von Tor zu Tor getrieben nägel-klaffend und rissig hundertjährig
Denkmalbuchen in sich gekehrt und verdichtet
über hundert Winter gewachsen und aus hundert Frühlingen erweckt
von Tor zu Tor im Nebel die prallenden Tropfen
zwischen den Gräbern wie Beete unsagbar traurig
von Gedanken und Zurückwünschen und November-Blumen
(mit der Schaufel Stiefmütterchen betten in die Mitte des Grabs) und
von Stern zu Stern geneigt und von Brücke zu Brücke

Das letzte syntaktische Modell aus dieser Zeit der Vorbereitung auf die fünf reichsten, fruchtbarsten Jahre, 1960 bis 65, ist nicht mehr durch die Dominanz eines einzelnen syntaktischen Systems bestimmt, wie das bisher der Fall war, sondern durch die Verwendung von verschiedenartigen syntaktischen Gliedern, die gleichwertig eingesetzt sind und sich von der normativen Syntax aus als reduziert, als fragmentarisch definieren lassen.
So entsteht zum Beispiel folgendes Schema, zur Demonstration aus einem Gedicht herausskelettiert:
wenn du das tuend / und das tut dir das / wenn du das tust das das tut und das tut / wie das / tut dir das das / tut dir das tut dir das / tut das o du // das getan von dem / dort so geworden / geworden dort und / dort und dort / dort dort und dort // während das / wie das.
Im Gedicht, einer märchenhaften Tausendundeinenachtlandschaft, klingt das so:

Wenn du mit Passionsblumen spielend und den goldbestäubten Zopf der Nacht in den Händen
und der Mond dieser Sägefisch aus Rosenblatt und Elfenbein dich zersägt
wenn du den Rosen-Helm trägst der dein Lächeln bewahrt und leise verschüttet
wie Wasser von den geheimnisvollen Bergen
zersägt dich auch mein Blattkränzchen an deinem Ringfinger
zersägt dir die Fingerknöchelchen zersägt dir die Seele
zersägt deine Gedanken o du genarrtes Schlänglein!

Asiatische Musik angefächelt von zweierlei Fächer-Lungen
jenseits der streifigen Musik-Häuser vergraut in grün
erstarrt in langgrasigen moosigen Gärten und
jenseits der Felsen und jenseits des ersten Rosentags
in den Kreuzwegen Eichen und dornigen weißen Wänden

während gepolsterte unbeschuhte Buschwindröschen (wie Karmeliterinnen)

Besonders ins Auge stechend der Schluß, nicht so sehr hart abbrechend als vielmehr ausschwingend ins Weite des nicht Gesagten, wenn auch abgebremst in diesem Schwung durch den angehängten, im Druck durch Klammern isolierten, Vergleich „(wie Karmeliterinnen)“.
Solche offenen, frei ausschwingenden Schlüsse werden zur Methode, als ein Hinübergreifen ins nächste Gedicht, oder auch, zuweilen, ein Zurückgreifen auf den Beginn des Gedichtes oder auf seinen Titel.
Gerade durch das Arbeiten mit reduzierter Syntax, Satz-Fragmenten, Satz-Ersatz, erhält der Satz, dort wo er vollständig ist, ganz besonderes Gewicht. Wie im Gedicht „Aus der Tiefe“ der einzige Satz: „Gewaltsames leiden die verkerbten Steine von Stonehenge“. Das ganze Gedicht wird umklammert von der Partizipialfügung „Mit dieser Überbürde… bekränzt“, und zwar so, daß auf die erste Zeile „Mit dieser Überbürde süß und herz-zäh wie Blumen“ zwölfeinhalb Zeilen in einer Klammer folgen, die sich erst in der letzten Zeile schließt, worauf die beiden Worte „beweint bekränzt…“ auf Zeile eins zurückgreifen.

Aus der Tiefe
Mit dieser Überbürde süß und herz-zäh wie Blumen
(ein einsamer Wassertropfen im schwarzen Ziehbrunnen schwebender Wolke
eine seidene Monsterprozession schnurgerader sonniger Ameisen
eine endlose Straße bei Nacht
eine fremde Begrüßung über bernstein-fragenden Tieraugen

Gewaltsames leiden die verkerbten Steine von Stonehenge
ein grausiges knarrendes Feld unbändiger Steinheere
horizontal-massige Gehege
harte Gevierte aus Luft

Versunken wie Wasser blaßblau ein geahntes gepfähltes Paradies
ein schwimmendes graues Paradies von Wolken gestützt
preisgegeben dennoch: der heimsenden Tiefe
den fischblauen Kanälen den verwirrenden Stegen und Katzen-Brücken
den Morgendämmerungen) beweint bekränzt…

Dieses Gedicht steht als letztes der Gedichte der zweiten Phase in Friederike Mayröckers Buch Tod durch Musen, das im Herbst 1966 im Rowohlt Verlag erschien. Mehr als drei Viertel des Buches sind Gedichte aus den Jahren 1960 bis 65, die Mehrzahl davon ab 1963 geschrieben. Diese Gedichte enthalten viele der schon erwähnten Elemente aus den früheren, aber kein einziges als isoliertes oder isolierbares Produktionsprinzip. Vielmehr wird alles bisher im einzelnen Erarbeitete mit vielem Neuen an Methode, das noch hinzukommt, gleichzeitig angewandt, im gleichen Gedicht. Vom Wort her ergießt sich eine Flut von Details in ein komplexes syntaktisches Geflecht von Gräben und Mulden, Adern und Hohlräumen. Ab 1963 besteht die Absicht, das „totale Gedicht“ zu erreichen oder sich diesem doch in jedem zu nähern, so daß alle diese Gedichte letztlich Glieder eines einzigen gigantischen Gedichttorsos sind. Diese ihre „freien Gedichte“ sind zugleich ihre reichsten. Material jeder Art ist versammelt, angeordnet, zusammengespannt, getrennt, aufgetürmt, weggeschwemmt, auf der Schreibfläche arrangiert zu immer neuen, umfangreicheren Formen, sprachlichen Landschaften, Seelenlandschaften oder Gehirngeländen, von innerer und äußerer Welt, die einander völlig durchdringen. Mehr als zuvor wird die Fläche genützt, der Text aufgefächert, gestaffelt, Heere von Interpunktionszeichen treten in Aktion, ordnend, gliedernd, akzentuierend. Rapide wechselt der Ton: Anruf, Benennung, trockene Registration, Aufzählung, Rede und Rederest, lyrisch Überhöhtes, Beschwörendes, Triviales stößt hart aufeinander, unvermittelt, daß die ganze Maschine, der Organismus des Gedichts erzittert. Erdstöße, wenn man beim Landschafts-Vergleich bleiben will. Die Groß- und Kleinschreibung dient nicht mehr der Bezeichnung von Wortklassen, sondern wird als Akzent verwendet. Eigennamen von Personen und Orten, die in reicher Zahl in den Text gestreut sind, werden oft ganz abstrakt angewandt, als Klangkörper, als Reizwort; sie können zum Adjektiv werden: statt „wird einmal alles recht“ kann es dann heißen: „wird einmal alles lambrecht“; Städtenamen wie „Bromberg“, „Posen“, „Thron“ werden in einem Gedicht als „schmeichel-Laute“ bezeichnet, und sind an anderer Stelle wieder stellvertretend für die Stadt: „mein liebstes stuttgart / dich garten stadt / über bogen-und-brücken-flüstern: da kommt er! da ist er!“ Leitmotive durchziehen signalartig viele Gedichte: „ZUM PRESSEN / ZUM fressen / immer dieselben gesten!“… „ZUM PRESSEN / ZUM fressen / immer dieselben gesten!“ Die Deutschsprachigkeit des Gedichts ist unterwandert von den Stimmen anderer Völker, der angelsächsischen vor allem. Die Gedichttitel selbst betonen die Dominanz des Gedichts als Gedicht, als ästhetisches Gebilde, als Kunstwerk gegenüber seinen weltweisenden Funktionen. Hier ist die Welt ein Teil des Gedichts, nicht umgekehrt. „Romanze mit Harz und Holunder“, „Romanze mit heldischen Raben“, „Romanze mit Blumen“, „Winter-Romanze“, „Ode an einen Ort“, „Ode an die Vergänglichkeit“, „Ode an des Frühlings Bast-Geweih“ heißen solche Gedichte, „Maschinen-Text mit F. Léger“, „Schweige-Text mit Fußnote“, „Ambraser Text-Spuren“, „Brasilianisches Gedicht“, „Babylonisches Gedicht“, „Eisernes Gedicht“, „Text mit William Blake“, „Text mit Steinen“, „Text mit Erdteilen“, „Text mit den langen Bäumen des Webstuhls“, schließlich: „Totaler Text oder sich Binsenwahrheiten annähern“.
Zwei Beispiele sollen einen Eindruck vermitteln von den Gedichten aus dieser dritten Zeit. Zwei einfachere, kürzere, „Ode an einen Ort“, ein Entwurf einer Landschaft, fast epigrammatisch in seiner gestochenen Kürze; ein Jahreszeitengedicht, „(„Winter-Nachtigall“)“, das sich leicht erschließt durch die traditionelle Symbol-Beziehung von Winter und Vergänglichkeit.

ODE AN EINEN ORT

Heimstätte meiner Träume: Hütte Thron Türme Gebälk
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaGlocken Taubenschwarm vielflügelig verbrieft
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaageschnäbelt ins graue Licht
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaätzend den Trauerhimmel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamit Botschaft von dir zu mir:

Schleife Ungeduld neu aufgebunden und mit Augengewichten beschwert
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaatränengeblendet
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawährend feuer-trinkende Kannen

auf in den versengten Julihimmel (durchbrochen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaWindungen/rastende Gefühle
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaweit verstreut Blumen −
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasetz deinen Fuß auf mein Haupt
Herr!)

quellende Sträuße Ginster/Kamillen (wie Staub… )
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Wald −
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… und zu den Teichen!

 

(„Winter-Nachtigall“)

o! die ganze Herde; die Hufe; die Hilferufe; die Hingabe der Sterne;
aaaaadie ganze Verklärung der entkernten Kinder-Nüsse (Störche
aaaaaaaaaadie aufgehn in Zuckerwasser;
aaaaaaaaaaaaaaaRosen in weißem Sirup;
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaagrünende Zephire)

gebettet im verständlichen Hymnus; in den geschickten Polsterungen der Sinne
aaaaaim Auto verschränkt (aujourd’hui Neuschnee Rose
aaaaaaaaaastein-blau nach unzerbrechlichen
aaaaaaaaaaaaaaaTheorien!)

ich erreiche dich nicht; nicht in schlanken Äonen; nicht im Jägerlatein;
aaaaadeine Zeit ist verzehrt; dein Blut ist verwirkt;
aaaaaaaaaawir sind verloren; wir haben verspielt;
aaaaaaaaaaaaaaawir spielen auch nicht um den Preis
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaunsres Abschieds

(.. „eine Winter-Nachtigall in deinem Herzen..“
aaaaa.. „eine Rose in meiner Hand..“
aaaaaaaaaa.. „ein Stern in deiner Brust..“
aaaaaaaaaaaaaaa.. „ein Kind an meinen Augen..“
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa.. „was schön ist..“)

eine Dämmer-Schere; ein Schwan; eine Kälte;
aaaaaZwinger; Gerüstwerk; Freigebigkeit aus Verzweiflung;
aaaaaaaaaaKalkgeäder; Verkettung; verlorene Frost-Hunde-am Halfter;
aaaaaaaaaaaaaaaversteinte Züge; Angstwalze; Dampf;
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaHände übers Gesicht geschlagen;
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadarunter Lächeln in Sekunden verschneit

.. so hingestreckt in Trauer:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(„blühende Asche –“)

Diese beiden Gedichte sind thematisch gebunden, ihre Titel grenzen das Thema ab. Die Gruppe der „freien Gedichte“, der Endpunkt in Friederike Mayröckers bisheriger Gedichtproduktion, kennt keine thematische Begrenzung; das Einzelgedicht, Teil eines größeren Organismus, ist thematisch nicht isoliert. Die Gesamtheit dessen, was Zeit, Ort und dichtendes Ich an Kontur bieten, an Lesbarem, bildet im Prinzip das Thema dieser Gedichte. Die syntaktischen Elemente – Wort, Wortgruppe, Satzfragment, Satz – behalten in der Großformation des Gedichts nicht nur ihren eigenen Umriß und Schatten, sondern auch ihre Eigenbewegung, von irgendwo kommend und nach irgendwo unterwegs, das Gedicht überziehend mit einem Netz von Spuren, die sich nicht nachzeichnen lassen und die doch wahrnehmbar sind. Worte und Wortgruppen lassen Motive anklingen, wecken Assoziationen, zeigen Richtungen an: in die Sprache; in die Philosophie; in die Naturwissenschaften; in den poetischen Arbeitsprozeß. Im Sinn des „totalen Gedichts“ sind Anmerkungen, Quellenangaben, Hinweise aller Art ins Gedicht eingegliedert, nicht in einem Anhang vom Gedicht getrennt.

Ernst Jandl, manuskripte, Heft 45, 1974

Einmalig, und doch anders

(für Friederike Mayröcker)

Es gibt das eine, und es gibt das andere. Das eine ist das eine, und das andere ist das andere. Darüber sollte es keine Meinungsverschiedenheiten geben. Aber bevor das eine das andere und das andere das eine wird, finden bekanntlich Verschiebungen statt, die nicht allzu gering zu veranschlagen sind. Friederike Mayröcker ist einmalig und doch anders. Die Verschiebung, die innerhalb dieser Behauptung stattfindet, die Verschiebung zwischen dem Einen und dem Einmalig und die Verschiebung zwischen dem Anderen und dem Anders, was das Einmalige und das Andersartige ins Spiel bringt, ist eine Verschiebung, die sich natürlich auch im Hinblick auf das Eine und das Andere auswirkt. Denn einmalig ist jemand, der nicht nur das eine, sondern auch das andere, d.h. gänzlich anders ist, und anders ist jemand, der nicht nur das andere, sondern auch das eine, d.h. vollkommen einmalig ist. So ist Friederike Mayröcker. Sie ist das Eßzet bis zum Tezett. Nun ist Eßzet eine Schokolade, die Friederike Mayröcker nicht ist, und wenn schon, dann sehr bitter, eher ein scharfes S, während das Tezett das Vollkommene ist, eine Eigenschaft, der Friederike Mayröcker sehr nahekommt. Friederike Mayröckers Eßzet ist das SZ in ihrem Wort „weisz“, und Friederike Mayröckers Tezett ist das TZ in ihrem Wort „Blitz“. Friederike Mayröckers SZ-geschriebene Eßzetts sind bittere und scharfe Haken und Ösen, während ihre TZ-geschriebenen Tezetts vollkommene Amplifikationen, dicke Tinte nach Strich und Faden sind, geradezu aus dem ff. Friederike Mayröcker hat gesagt: „Mein Auge hat gebadet in weiszen Arabesken“, und sie hat gesagt: „Ich denke in langsamen Blitzen.“ Das sind ursächliche Zusammenhänge, nicht nur im Hinblick auf das Eßzett in den „weiszen Arabesken“ und das Tezett in den „langsamen Blitzen“. Die Kausalität, die zwischen diesem Mayröckerschen Eßzett in den „weiszen Arabesken“ und dem Mayröckerschen Tezett in den „langsamen Blitzen“ besteht, ist die Kausalität zwischen Haken und Ösen auf der einen und Strich und Faden auf der anderen Seite. Wer jemals in seinem Leben Haken und Ösen nach Strich und Faden oder gar Strich und Faden mit Haken und Ösen erfahren hat, der begreift, wie Kausalität letzten Endes in Finalität übergeht. Aber folgerichtig zeigt sich dieser Zusammenhang erst da, wo die Ursächlichkeit und die Zweckmäßigkeit einen metaphorischen und nicht einen Kausalnexus der biologischen Anthropologie eingegangen sind. Denn wenn Friederike Mayröckers Auge gebadet hat in weiszen Blitzen, dann denkt sie in langsamen Arabesken, wenn ihr Auge gebadet hat in langsamen Arabesken, dann denkt sie in weiszen Blitzen, wenn ihr Auge gebadet hat in langsamen Blitzen, dann denkt sie in weiszen Arabesken, und erst wenn ihr Auge gebadet hat in weiszen Arabesken, dann denkt sie in langsamen Blitzen. Auf diese Weise ist Friederike Mayröcker einmalig und doch anders, inzwischen fünfzig Jahre lang.

Ludwig Harig, manuskripte, Heft 45, 1974

Die Esoterikerin Friederike Mayröcker

Vor vier Jahren war sie ein prächtiges Geschöpf: schön wie eine Biedermeier-Wienerin. Alles an ihr glänzte, schimmerte perlmuttern. Man spürte ihren Körper in jeder Bewegung durch die Kleidung. Es war ein Vergnügen, sie zu sehen.
Jetzt ist sie Englisch-Lehrerin an einer Schule im zehnten Wiener Gemeindebezirk, und nach zwei Monaten Ehe ein etwas verwildertes, ungepflegtes Weib mit Struwelpeterhaar, abgespannter, matter Haut, einem farblosen Mund, erschrockenen Augen und einem etwas gekrümmten, gebrochenen Gang.
Sie sagt:

Das Schönste, eigentlich das Einzige, wofür es sich zu leben lohnt, ist das Schreiben.

Dann stopft sie sich Watte in die Ohren, schließt das Zimmer ab – sie wohnt noch immer bei den Eltern –, und kann dann träumen oder über alt-französische Teppiche spintisieren.
Früher war ihr die Welt eine Fülle von Duft und Farben, sozusagen ihr Spiegelbild. Sie erlebte sie bunt und duftig. Wohin sie ging, in Gärten und Kirchen: eine Pracht von Rot und Grün, von Blumen und Tönen. Das ist jetzt vorbei. In zärtlich feinen Liebesgedichten und bei Beethovensonaten hat es sich anders geträumt.
Ihr Mann ist auch Lehrer, der Interesse für Literatur hat und sich mit Philosophie beschäftigt. Wenn sie von ihm spricht – und das nur auf meine Frage – sind das Angaben wie über einen Fremden. Nichts schwingt mit und ich fühle, daß ich ihr etwas über die Ehe und das Zusammenleben sagen müßte. Wie schwer es mir wurde, diese mühsame Arbeit des Geistes, der Seele und des Körpers zu leisten, bis der andere zu uns gehört, wie die Luft, die wir atmen, – ja, und daß die kleinen Tätigkeiten wie Kochen und Strümpfestopfen keine Entwürdigung sind.
Aber am besten ist es doch, ihr ein Buch zu geben, und ich wähle das Kopfkissenbuch der japanischen Hofdame Sei Shonagon. Das gefällt ihr und sie wird nach Monaten wieder ein Buch lesen. Der „Kampf um eine Wohnung“ hat sie ganz durcheinandergebracht. Vorläufig nennt sie es so.

Hermann Hakel, 1952, aus Hermann Hakel: Dürre Äste, welkes Gras, Lynkeus Verlag, 1991

 

DAS HUNDEVIEH
für friederike mayröcker

gar traurig geht das hundelvieh
auf einer zeh und einem knie

verloren leckt das hundelvieh
am roten fleck der masturbie

zerbrechlich ist das hundelvieh
drum wirf es aus dem fenster nie

nach lorbeer lechzt das hundelvieh
und preßt die hohe stirn ans knie

sehnsucht erfaßt das hundelvieh
nach menschenstimme oft doch nie

ich schlafe mit dem hundelvieh
nicht immer sondern da und hie

unruhig begießt das hundelvieh
ein knisterndes laternenknie

endlich verwächst dem hundelvieh
zu gleichem stumpf das er und sie

nach frieden lechzt das hundelvieh
doch ohne gott findt es ihn nie

Ernst Jandl

 

 

Hans Ulrich Obrist spricht über die von ihm kuratierte Ausstellung von Friederike Mayröcker Schutzgeister vom 5.9.2020–10.10.2020 in der Galerie nächst St. Stephan

 

Friederike Mayröcker übersetzen – eine vielstimmige Hommage mit Donna Stonecipher (Englisch), Jean-René Lassalle (Französisch), Julia Kaminskaja (Russisch) und Tanja Petrič, (Slowenisch) sowie mit Übersetzer:innen aus dem internationalen JUNIVERS-Kollektiv: Ali Abdollahi (Persisch), Ton Naaijkens (Niederländisch), Douglas Pompeu (brasilianisches Portugiesisch), Abdulkadir Musa (Kurdisch) und Valentina di Rosa (Italienisch) und Bernard Banoun – im Gespräch mit Marcel Beyer am 6.11.2021 im Literaturhaus Halle.

 

Fest mit WeggefährtInnen zu Ehren von Friederike Mayröcker Mitte Juni 2018 in Wien

Sandra Hoffmann über Friederike Mayröcker bei Fempire präsentiert von Rasha Khayat

Im Juni 1997 trafen sich in der Literaturwerkstatt Berlin zwei der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik: Friederike Mayröcker und Elke Erb.

Protokoll einer Audienz. Otto Brusatti trifft Mayröcker: Ein Kontinent namens F. M.

 

 

 

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Daniela Riess-Beger: „ein Kopf, zwei Jerusalemtische, ein Traum“
Katalog Lebensveranstaltung : Erfindungen Findungen einer Sprache Friederike Mayröcker, 1994

Ernst Jandl: Rede an Friederike Mayröcker
Ernst Jandl: lechts und rinks, gedichte, statements, perppermints, Luchterhand Verlag, 1995

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Bettina Steiner: Chaos und Form, Magie und Kalkül
Die Presse, 20.12.1999

Oskar Pastior: Rede, eine Überschrift. Wie Bauknecht etwa.
Neue Literatur. Zeitschrift für Querverbindungen, Heft 2, 1995

Johann Holzner: Sprachgewissen unserer Kultur
Die Furche, 16.12.1999

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Nico Bleutge: Das manische Zungenmaterial
Stuttgarter Zeitung, 18.12.2004

Klaus Kastberger: Bettlerin des Wortes
Die Presse, 18.12.2004

Ronald Pohl: Priesterin der entzündeten Sprache
Der Standard, 18./19.12.2004

Michael Braun: Die Engel der Schrift
Der Tagesspiegel, 20.12.2004.
Auch in: Basler Zeitung, 20.12.2004

Gunnar Decker: Nur für Nervenmenschen
Neues Deutschland, 20.12.2004

Jörg Drews: In Böen wechselt mein Sinn
Süddeutsche Zeitung, 20.12.2004

Sabine Rohlf: Anleitungen zu poetischem Verhalten
Berliner Zeitung, 20.12.2004

Michael Lentz: Die Lebenszeilenfinderin
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.12.2004

Wendelin Schmidt-Dengler: Friederike Mayröcker

Zum 85. Geburtstag der Autorin:

Elfriede Jelinek, und andere: Wer ist Friederike Mayröcker?
Die Presse, 12.12.2009

Gunnar Decker: Vom Anfang
Neues Deutschland, 19./20.12.2009

Sabine Rohlf: Von der Lust des Worte-Erkennens
Emma, 1.11.2009

Zum 90. Geburtstag der Autorin:

Herbert Fuchs: Sprachmagie
literaturkritik.de, Dezember 2014

Andrea Marggraf: Die Wiener Sprachkünstlerin wird 90
deutschlandradiokultur.de, 12.12.2014

Klaus Kastberger: Ich lebe ich schreibe
Die Presse, 12.12.2014

Maria Renhardt: Manische Hinwendung zur Literatur
Die Furche, 18.12.2014

Barbara Mader: Die Welt bleibt ein Rätsel
Kurier, 16.12.2014

Sebastian Fasthuber: „Ich habe noch viel vor“
falter, Heft 51, 2014

Marcel Beyer: Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag am 20. Dezember 2014
logbuch-suhrkamp.de, 19.1.2.2014

Maja-Maria Becker: schwarz die Quelle, schwarz das Meer
fixpoetry.com, 19.12.2014

Sabine Rohlf: In meinem hohen donnernden Alter
Berliner Zeitung, 19.12.2014

Tobias Lehmkuhl: Lachend über Tränen reden
Süddeutsche Zeitung, 20.12.2014

Arno Widmann: Es kreuzten Hirsche unsern Weg
Frankfurter Rundschau, 19.12.2014

Nico Bleutge: Die schöne Wirrnis dieser Welt
Der Tagesspiegel, 20.12.2014

Elfriede Czurda: Glückwünsche für Friederike Mayröcker
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014

Kurt Neumann: Capitaine Fritzi
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014

Elke Laznia: Friederike Mayröcker
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014

Hans Eichhorn: Benennen und anstiften
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014

Barbara Maria Kloos: Stadt, die auf Eisschollen glimmt
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014

Oswald Egger: Für Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014

Péter Esterházy: Für sie
Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014

 

 

Wilder, nicht milder. Friederike Mayröcker im Porträt

Zum 93. Geburtstag der Autorin:

Einsame Poetin, elegische Träumerin, ewige Kinderseele
Die Presse, 4.12.2017

Zum 95. Geburtstag der Autorin:

Claudia Schülke: Wenn Verse das Zimmer überwuchern
Badische Zeitung, 19.12.0219

Christiana Puschak: Utopischer Wohnsitz: Sprache
junge Welt, 20.12.2019

Marie Luise Knott: Es lichtet! Für Friederike Mayröcker
perlentaucher.de, 20.12.2019

Herbert Fuchs: „Nur nicht enden möge diese Seligkeit dieses Lebens“
literaturkritik.de, Dezember 2019

Claudia Schülke: Der Kopf ist voll: Alles muss raus!
neues deutschland, 20.12.2019

Mayröcker: „Ich versteh’ gar nicht, wie man so alt werden kann!
Der Standart, 20.12.2019

Zum 96. Geburtstag der Autorin:

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Mayröcker, der“.

 

Friederike Mayröcker – Trailer zum Dokumentarfilm Das Schreiben und das Schweigen.

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