Friederike Mayröcker: Zu Ernst Jandls Gedicht „in der küche ist es kalt…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Ernst Jandls Gedicht „in der küche ist es kalt…“ aus dem Band Ernst Jandl: poetische werke 9: idyllen stanzen. −

 

 

 

 

ERNST JANDL

in der küche ist es kalt
ist jetzt strenger winter halt
mütterchen steht nicht am herd
und mich fröstelt wie ein pferd

 

Zu: in der küche ist es kalt

ein Wintergedicht / ein Endzeitgedicht / ein Gedicht um Tränen zu vergießen / ein Gedicht / man möchte es umarmen, weil es alle Verzweiflung, alle Traurigkeit, alle Gottverlassenheit dieser Welt vermittelt.
Realitätshintergrund : es ist Winter, Winter 88. Ich stehe in der ungeheizten unbeheizbaren Nordküche in Ernst Jandls Wohnung.
Wir haben die mit Notizen vollgestopften überquellenden Schubladen seines Maschinschreibtischchens nach Manuskripten („Makulatur“) durchstöbert, und aussortiert, was sich eignen könnte, in seinen neuen Gedichtband idyllen aufgenommen zu werden / kumulierende Bibliographie / hier in diesen Schubladen Anhäufung von Notizen, handgeschriebenen Manuskripten, Fragmentarisches, Halbfertiges, ein paar Zeilen, oft nur ein Wort, nachts oder spätnachmittags aufgeschrieben, unleserlich manchmal selbst für den Autor, Bruchstücke, mit anderen Arbeiten nicht mehr in Zusammenhang zu bringen. Sorglos, achtlos, stapeln sich hier die Blätter, hingeworfen in Selbstverachtung, Selbstzerfleischung, Egalität. Blatt um Blatt, die Schubladen sperren sich gegen weitere Einverleibung, früher, vor ein paar Jahren noch, wurde jedes fertiggeschriebene Gedicht in einer Mappe abgeheftet, jetzt gilt dem Schreiber alles wie Abfall, den man am besten irgendwo vergräbt.
Ich ziehe ein Blatt nach dem anderen hervor, alles handgeschriebene, meist mit Bleistift hingeworfene Zeilen, Gedichtanfänge, dann wieder abgeschlossene Verse, in mehreren Fassungen, mit der Maschine geschrieben. Wir beschäftigen uns nachmittagelang, eigentlich den ganzen Winter 88, damit, Aufgeschriebenes zu sichten, zu begutachten, zu konservieren. Dann stoße ich eines Tages plötzlich auf vier mit Bleistift hingeschleuderte Zeilen:

in der küche ist es kalt
ist jetzt strenger winter halt
mütterchen steht nicht am herd
und mich fröstelt wie ein pferd

vage erinnerbar : die letzte Zeile mußte ein wenig anders gelautet haben, es mußte also eine Vorversion gegeben haben.
Diese letzte Zeile, die von tiefster Verlassenheit, Vereinsamung, Ausgegrenztheit kündet, von trostsuchendem Identifikationsversuch mit der stummen Kreatur – der Droschkengaul in der Winterkälte, der stundenlang mit hängendem Kopf auf dem gleichen Platz steht, ohne Obsorge, ohne Betreuung, wartend auf einen Menschen, der ihn in Trab setzt – greift ans Herz.
Die Vorfassung der letzten Zeile ist mir entglitten, auch Ernst Jandl nicht mehr erinnerlich, wohl kaum mehr auffindbar.
Wir setzen uns mit dem Blatt an den niedrigen Couchtisch, einander gegenüber, und überlegen, wie diese letzte Zeile noch präziser formuliert werden könnte, schließlich findet Ernst Jandl die obige endgültige Version. Meine fünfundachtzigjährige Mutter kocht täglich für sich und ihre sechsundsechzigjährige Tochter, mich, in ihrer kalten Küche ein Mittagmahl. Ich sehe, wenn ich gegen vierzehn Uhr zu ihr komme, daß sie Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten, sie stützt sich am Herd ab. Jeden Tag, wenn ich sie so wiedersehe, denke ich die Zeile : mütterchen steht nicht am herd.. und daß es diesen Tag einmal geben wird, womöglich schon in naher Zukunft. Sie wird dann nicht mehr am Herd stehen, sie wird plötzlich nicht mehr da sein, sie wird liegen, ausgestreckt, mit ihren blassen Händen, auf ihrer Brust gekreuzt, irgendwo, wo ich sie nicht mehr sehen werde, wo sie mich nicht mehr sehen wird, wo ich nicht hinreichen werde, von wo sie nicht herreichen wird.
Diese Zeile : mütterchen steht nicht am herd : drückt die verdammenswürdige, die entwürdigende Vergänglichkeit und Endlichkeit unseres Lebens aus, mütterchen steht nicht am herd – wohin ist sie gegangen. Bis zuletzt hat sie ihre Aufgabe erfüllt, sie hat ihre Sache geleistet.
Herd : ja, das ist dieser winzige Kanonenofen, mit dem sie uns über die bittersten Kriegswinter hinübergerettet hat, er hatte ein wenig, wenngleich nur für Stunden, Wärme gespendet, sie hat darauf kleine Mahlzeiten gekocht, Brotsuppe vermutlich und gehamsterte Kartoffeln.
Dieses Gedicht, ein kleines Meisterwerk eines mir nahestehenden Dichters, während eines heftigen Depressionsschubs entstanden, gehört zu meinen Lieblingsgedichten.

Friederike Mayröcker, Dezember 1990, aus Friederike Mayröcker: Requiem für Ernst Jandl, Suhrkamp Verlag, 2001

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