Friedrich Christian Delius: Zu Ludwig Rubiners Gedicht „Denke“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Ludwig Rubiners Gedicht „Denke“ aus Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung. −

 

 

 

 

LUDWIG RUBINER

Denke

Die Nacht im weißen Gefängnis ist mondperl und hoch,
Glanzbraune Gerüste kreuzen vor der Luke in die Zukunft,
Der Führer liegt auf der wulstigen Pritsche,
Ein Spitzelauge haarig schmal witzte durch das Guckloch der glatten Eisentür.
Er liegt ganz still, daß das Blut durch die graden Glieder fließt und zurückschießt,
Der Turm braun bewachsen des Haupts wird auf und herab bestiegen eilends von Wachen.
Tief unten der Wassergraben des Munds liegt in Dürre.
Draußen warten die dunklen bewegten Felder auf den Feuerschein.
O Mund, bald schwimmen bewaffnete Haufen wie schwarze Wellen hervor,
Braunes Haupt, du schleuderst sie krachend weit ins Land,
O Schein des Auges, der das Ziel im Brandfeuer trifft.
O Kuppel, darin die neuen Häuser der Erde schweben, flach ineinandergehüllt, zahllos, und Bildsäulen, Wälder, Sprachen, Du kristallenes Haupt!
Liegst nun schweigend im weißen Würfel der Zelle auf nächtigem Pritschenrand,
Die Finger schmal zu den Seiten wie morgen im Grab.
Aber dein Pulsschlag klopft schon sacht durch die Mauerröhren der Burg,
Die Wärter flüstern verboten den Gefangenen zu.
Dein Bruderauge kreist schauend wie bewegter Stein durch die wachenden Zellen hin.
Denke du durch alle Gefangenenhirne, hinaus zu den Wachen, über die Höfe, hinaus in die Straßen!
Der Stein über dir aufgetrieben, schwillt.
Dein Haar ist die Plattform der schlaflosen Wachen,
Die Steinmauern in deinem Blut atmen auf und ab von deinem Beben,
Die Gitterfenster rund hoch um das Haus sind dunkel aus deinem Blick.
In Jahrtausenden ist die Burg dein Abbild weit in die Länder hin, dein Name schwebt feuergroß auf dem Himmel, über deinem riesenhohen Steinkopf.

Führer, schlafe heute nacht nicht. Nur diese Nacht denke noch! 

 

Den Fasttoten 

Ein Zeilengebilde, rund hundert Jahre alt und doch ferner als die meisten deutlich älteren Gedichte. Ein dunkler Rhythmus in jeder Zeile und Irritationen im Wortbau, die in der Epoche des expressionistischen Widerstands gegen alles Gefällige als fortschrittlich, avantgardistisch, provokatorisch galten. Wer das heute nicht mit dem historischen Blick, mit der Literatur und den Bildern dieses besonders schaurigen Krieges vor Augen liest, wird das Gedicht nur angestrengt und verstörend finden. Gleich in der dritten Zeile: „Der Führer“, um 1917 noch in aller Naivität und Wörtlichkeit gemeint und auf einen ohne Kontur bleibenden Anführer gemünzt. Doch die Kenntnis der historischen Wortbedeutungsverschiebungen hilft nicht viel, den Geruch des Unsympathischen an diesem Wort zu vertreiben. Wie fremd ist uns das Appellative, das Raunende, das gewaltsam Metaphorische, die schroffen, scharfkantigen Bilder und ins Mythische drängenden „Gerüste“, „Wassergraben“, „Mauerröhren“, „Brandfeuer“, „Bildsäulen“.
Nur der Ort scheint klar: die Zelle, das Gefängnis, die Pritsche – und doch dachte ich beim ersten und zweiten Lesen immer nur an ein Militärgefängnis, in einer Burg vielleicht, an einen gefangenen Unterführer, dessen Assoziationen zwischen Schützengräben und „bewaffneten Haufen“, „Feuerschein“ und „Brandfeuer“ hin und her fließen. An einen Soldaten, der zumindest eine Nacht lang sicher ist vor dem Grab und doch schon so liegt „wie morgen im Grab“. Von Spitzeln und Wachen beäugt, liegt er gleichzeitig im Knast und im Dreck der Front.
Einen gewöhnlichen Gefangenen muß man zum Denken nicht auffordern, er denkt in der Regel mehr als ihm lieb ist. Der Imperativ kann also nur an einen, vielleicht wegen Unbotmäßigkeit eingesperrten Uniformträger gerichtet sein. Einer, der Befehlen zu gehorchen und sonst nichts auf der Welt zu bestellen hat, darf eines auf keinen Fall: Denken. Darum ist die Aufforderung „Denke“ in höchstem Maße subversiv, der Anfang einer Aufforderung zur Revolte, zur Desertation. Der erste Schritt zu einem radikalen Pazifismus – das schlimmste, mit Todesstrafe geahndete Vergehen eines Soldaten, eines Anführers im Krieg. Mit dem Denken beginnt der Ausbruch, aus welchem Gefängnis, aus welchem Dreckloch auch immer:

Denke du durch alle Gefangenenhirne, hinaus zu den Wachen, über die Höfe, hinaus in die Straßen!

„Hauptfach: Denken“, so warb die Bundeswehr um 1965 um freiwillige Soldaten, und ich, der Wehrpflicht noch nicht endgültig entkommen, pinnte mir diese halbseitige Zeitungsanzeige in Berlin an die Wand. Mit der „inneren Führung“ wollte man angeblich alles besser machen, man wollte mündige Soldaten. Ich wußte aber von einem Freund, daß sie dort immer noch die alten Wehrmachtslieder und Nazisturmlieder sangen, singen mußten, und daß den Offizieren nichts so verhaßt war wie denken. Im Bücherregal daneben stand die Rowohlt-Taschenbuchausgabe der Menschheitsdämmerung, gekauft noch als Schüler im Januar 1962. Jedes zweite Gedicht eine Attacke auf die Abscheulichkeiten des Krieges. Vielleicht wurde deshalb der gefangene Führer in Rubiners Gedicht in meiner Vorstellung einer dieser Millionen fasttoten Soldaten, ein armes Schwein in Uniform, das sich an seine letzte Illusion klammert: Denke! 

Friedrich Christian Delius, Schreibheft, Nr. 92, Februar 2019

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