Fritz Deppert, Christian Döring, Hanne F. Juritz & Karl Krolow (Hrsg.): Kein Reim auf Glück

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Fritz Deppert, Christian Döring, Hanne F. Juritz & Karl Krolow (Hrsg.): Kein Reim auf Glück

Deppert, Döring, Juritz und Krolow (Hrsg.)-Kein Reim auf Glück

NÄCHSTE INSTANZ

so traurig es ist auf den stufen der treppe
zu sitzen es ist auch nicht sehr bequem

die urteile tanzen dort auf und ab wie beamte
oder angestellte die wie beamte aussehen

ordner tragen sie unter dem arm aber barfuß
sind es riesen in ihren bordeauxroten

sakkos mit den karierten krawatten alte einäugige
kolosse ihr speichel frißt kleine krater

ins linoleum der flure auf den treppenstufen
tanzen die urteile und machen auf dem nächsten

absatz kehrt sie nehmen sich in acht
sie wissen daß sie machtlos sind

gegen die unruhig und aus dem stegreif
vorgebrachten argumente der autodidakten

sie wären ihnen ausgeliefert
wie die unsichtbare

bibliothek dem rezitator
worauf warten sie noch

autistisch schaukelnd und mit wachsenden ohren?
auf die gebäudereinigung ein schwebendes verfahren

oder den postboten der die grundgesetzänderung
bringt? vielleicht ruhen sie sich auch nur aus

wenn sie aufwachen werden die wände jedenfalls weiß
sein wie ärzte die eine endgültige

diagnose stellen ein überfordertes spöttisches weiß
das sich zum eigenen spott in der überforderung

eingerichtet hat ihr grinsen wird wärtern und zeugen
gleichermaßen sonderbar erscheinen

und draußen in den bewohnten fenstern der mietshäuser
soll umsonst grelles licht brennen.

Wolfgang Schlenker

 

 

 

Vorwort

Kritik der Poesie ist Undinge
Novalis

Das Gedicht
ist die Rache
der Sprache
am Menschen
Ernst Jandl

„Ach die Kunst“ ruft Georg Büchner, der Namensstifter des Leonce-und-Lena-Preises, in einem seiner Dramen uns zu – die wir „Ach die Lyrik“ über deren Zustand, sprich: Nutzen, lamentieren.
Die bescheidene Zahl der Zuhörer während der Lesungen um den Leonce-und-Lena-Preis und die Interesselosigkeit eines Kulturjournalismus, der lieber dem Spektakel als dem Vortrag eines Gedichts die Stimme leiht, scheinen solches leider zu bestätigen. Und Lyrik gilt als einschüchternd schwierig bis unverstehbar. Am schwierigsten finden sie diejenigen, die sie gar nicht erst lesen.
„Deutschland liest seine Dichter nicht, dafür liebt es sie“, dieser zeitgenössischen Bosheit müssen wir wohl beipflichten. Allerdings beginnt sogar in diesem Bonmot noch etwas von Büchners emphatischem Bekenntnis aufzuscheinen, das Wissen vom Überfluß und der Notwendigkeit aller Literatur. Und also auch, ach der Lyrik.
Die einen mögen fragen, ob das allmähliche Verstehen beim Hören oder Lesen von Gedichten noch in unsere beschleunigte Zeit paßt. Steht es nicht nur „am Rande seiner selbst“, wie es Celan als Merkmal des Gedichts festhielt, sondern auch am Rande des literarischen Betriebs? Die anderen mögen antworten, daß Lyrik gerade die geeignete Lektüre für unruhige Zeiten ist. Sogar eine Gattung, die Verleger interessieren könnte, wenn sie sich an Baudelaires „Ratschläge für junge Literaten“ halten wollten.

Die Poesie ist eine der Künste, die am meisten einbringen; aber es handelt sich um eine Art Anlage, bei der man erst spät die Zinsen einheimst – die dann allerdings beträchtlich sind. Ich fordere Mißgünstige auf, mir diejenigen guten Gedichte zu nennen, die einen Verleger ruiniert hätten.

Ist das Gedicht nicht die literarische Form der Gegenwart, diejenige Gattung unserer Literatur, die dem multimedialen Rausch aus Bild und Ton, aus Sprach- und Sinnresten noch antworten kann?
Der zehnte Wettbewerb um den Leonce-und-Lena-Preis, der nun seit fast zwanzig Jahren in der derzeitigen Form vergeben wird und zuvor – seit 1968 – in der auf den Seiten 161–173 dokumentierten Art und Weise durch Wolfgang Weyrauch vergeben wurde, könnte zu Auskünften beitragen.
Alle zwei Jahre erstatten wir, das Lektoratsquartett – Fritz Deppert, Christian Döring, Hanne P. Juritz und Karl Krolow unsere „Meldungen vom (Darmstädter) lyrischen Betrieb“, und schon bei unserer letzten Nachlese haben wir die Hoffnung zu Papier gebracht, daß dieses kleine Kursbuch, Summe des renommiertesten „Lyrik-Wettbewerbs“ im deutschsprachigen Literaturraum, eine Orientierungshilfe in unübersichtlichem Terrain sein möge.
Wenn wir anläßlich unseres Wegweisers beim Wettbewerb des Jahres 1993 eine Berichterstattung zum Leonce-und-Lena-Preis mit dem Satz zitierten: „Warum gerade dieses Dutzend (Gedichte), welche Kriterien liegen zugrunde?“, dann hätte der diesjährige Wettbewerb die Ratlosigkeit mildern können.
Die Lektorats-Auslese (624 Einsendungen erreichten uns dieses Mal) begutachtete erstmals in Rede und Widerrede, in öffentlich vorgetragener Kritik, ein prämierendes Jurorenquartett – Michael Braun, Sybille Cramer, Maria Gazzetti, Raoul Schrott. Der Schweizer Juror Iso Camartin war leider durch Krankheit verhindert. Wilfried Schoeller war der inspirierende Moderator. An diese Gespräche hatten wir die Erwartung geknüpft, den Anfang einer „differenzierten Lyrik- und Poetikdiskussion“ zu bilden, wie wir es uns in der Vorrede zu unserer letzten Lyrik-Ortsbestimmung gewünscht haben. Trotz frischen Winds im Wettbewerb wissen wir gewiß immer noch nicht wirklich, was das Gedicht ausmacht. Die Formen des poetischen Sprechens scheinen vielmehr der Zahl der Dichter zu entsprechen.
Vielstimmigkeit ist ihr Merkmal. Doch die Jury hat mit ihrer Preisvergabe Gedichte „dingfest“ gemacht, die den behaupteten Umbruch in der deutschen Lyrik des vergehenden Jahrzehnts bestätigen.
Die Verleihung des Leonce-und-Lena Preises an Dieter M. Gräf begründete die Jury mit den Worten:

Dieter M. Gräf, der sich in seinem Erstling Rauschstudie: Vater + Sohn als Dichter der frenetischen Lautstärke und schroffen Materialfügung vorgestellt hatte, findet in seinen neuen Texten zu einer Reflexivität der Wahrnehmung, die seinen Gedichten neue Ausdrucksdimensionen zugewinnt, seinen Bildern strenge Geschlossenheit und seiner Sprache Präzision.

Die Wolfgang-Weyrauch-Förderpreise wurden von der Jury mit den folgenden Begründungen an Franzobel und Andreas Altmann vergeben:

Franzobel hat einen rhythmisch virtuosen Jahreszeitenzyklus über die Liebe komponiert, der im Widerspiel von semantischer Freiheit und formaler Gebundenheit die Sprache aus normativen Fesseln befreit und das metaphorische Feld einer Sprache der Liebe erforscht.

Andreas Altmanns Sprache in ihrer fast klassisch gefügten Rhythmik, seine konkrete Bildlichkeit, welche die Dinge erst in ihre Wirklichkeit zu setzen scheint, schafft Räume, die ebenso klar umrissen wie von unmittelbarer Präsenz sind; sie verkörpern damit eine Mitte des Gedichts – fern von jeder modischen Sprachskepsis.

Die deutsche Literatur zeigt sich in der Lyrik von ihrer stärksten Seite und ihrer Zeit gewachsen. Ach die Lyrik! Ja, es ist die Lyrik in der Vielzahl ihrer Sprechweisen, die auf die Gegenwart am angemessensten und mit zunehmendem Sprachbewußtsein reagiert.
Der zu Anfang des Jahres 1996 verstorbene Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky umschrieb auf seine Weise, warum Lyrik nicht am Rande, sondern im Zentrum der Literatur stehen müsse:

Da wir alle dem Tode geweiht sind, und da das Bücherlesen zeitraubend ist, müssen wir uns ein System ausdenken, das uns einen Anschein an Ökonomie gestattet. Natürlich läßt sich nicht leugnen, daß es einem Vergnügen machen kann, sich mit einem mittelmäßigen, beschaulichen, dicken Roman zu verkriechen; trotzdem, uns allen ist klar, daß wir uns diesen Stil nur begrenzt erlauben dürfen. Schließlich lesen wir nicht nur um des Lesens willen, sondern um zu lernen. Daher das Bedürfnis nach Verknappung, Verdichtung, Verschmelzung… Mit anderen Worten: Das Bedürfnis nach Abkürzung. Lyrik ist als die höchste Form menschlicher Rede nicht nur die knappste, am stärksten verdichtete Mitteilungsweise menschlicher Erfahrung; sie bietet auch den höchstmöglichen Maßstab für jedes sprachliche Unterfangen. Die Literatur begann mit Lyrik.

Christian Döring, Vorwort

 

Mein Preis: der Leonce-und-Lena-Preis Wolfgang Weyrauchs

1968–1977. Ein Rückblick

Da kam einer auf die Bühne in brauner Jacke und schwarzem Hemd, er kam ohne Vorredner und mit scheinbar leeren Händen. Aber seine Taschen waren voll, und zuerst, nachdem er über die Brille hinweg sein Publikum in Augenschein genommen hatte, zog er eine Rede hervor, dann Gedichte und zuletzt, nachdem er die Rede gehalten hatte, einen Scheck über 1.000,- DM. Das war der Preis, der äußerliche. Manchmal mußte er auch in den Taschen suchen, um das richtige Papier zu finden.
Der Scheck ging nach einem herzlichen Händedruck an einen jungen Mann, eine junge Frau. Wolfgang Weyrauch und sein Leonce-und-Lena-Preisträger oder seine Leonce- und-Lena-Preisträgerin, ein Szenarium ohne Inszenierung, so persönlich, als gäbe es das Publikum im Raum nicht. Ohne Feierlichkeit, selbst ohne die Umrahmung mit irgendwelchen Grünpflanzen. Die gab es nur beim ersten Mal, und Weyrauch hat dies in seiner zweiten Preisrede als unpassend moniert, unpassend neben den zeitgenössischen und rebellischen Texten der jungen Leute. Es war sein Preis, den er vergab, das sagte er auch selbstbewußt, sein Einfall, um junge Lyrik zu fördern. Denn das war sein Anliegen, nicht nur bei diesem Preis, auch in seinen zahlreichen Anthologien. Darum nannte er den von ihm geschaffenen Preis nach dem jungen Liebespaar Leonce und Lena, das auf der Bühne in Poesien miteinander sprach. Hinzu kam der Bezug zu Darmstadt durch Georg Büchner.
Der Darmstädter Leonce-und-Lena-Preis wurde ausgeschrieben.

Jeder, der in deutscher Sprache Gedichte schreibt und nicht älter als 35 Jahre ist, kann sich daran beteiligen; ausgenommen Autoren, die schon Lyrikbände veröffentlicht haben; nur ungedruckte Gedichte werden erwartet. Das (nach Ansicht des Jurors Wolfgang Weyrauch) beste Gedicht wird mit 1.000,- DM honoriert.

Diese Notiz ging an dpa, an die wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften im deutschsprachigen Raum, „ausgenommen die des Springer Verlags“, und an alle literarischen Abteilungen der Radiostationen. In seiner Rede bei der Preisverleihung 1972 bedauerte Weyrauch, daß in der DDR lebende Autorinnen und Autoren nicht an der Ausschreibung teilnahmen, teilnehmen durften. Davon abgesehen, war das Echo groß, 1.000 Einsendungen bei der ersten Ausschreibung.
Den ersten Preis bekam 1968 Wolf Wondratschek, 1.000,DM, gestiftet von einer „gemeinnützigen Anstalt“ (der zweite Preis wurde von einer „privaten Firma“, die dann folgenden von der Stadt Darmstadt gestiftet; hierbei war Weyrauchs Freund Heinz-Winfried Sabais, zunächst noch als Kulturreferent, dann als Oberbürgermeister, hilfreich).
Das war der Beginn! Wondratschek hat seinen Weg als Autor gemacht wie die meisten Leonce-und-Lena-Preis-Geehrten. Weyrauch hat es mit Freude beobachtet. Neidlosigkeit gegenüber dem Erfolg von Kollegen war eine seiner bei Literaten seltenen Eigenschaften.

Die nachfolgenden PreisträgerInnen waren:
1969 Katrine von Hutten
1972 Hanne F. Juritz
1973 Harry Oberländer
1975 Rita Breit
1977 Friederike Roth und Anno F. Leven

Die unterschiedlichen Pausen zwischen den Ausschreibungen begründete Weyrauch damit, daß der Preis davor geschützt werden sollte, „eine Institution zu werden“, denn er war seiner Ansicht nach „keine Institution, sondern ein Einfall, aber man muß aufpassen, daß er sich nicht zur Institution erniedrigt“ (Rede von 1972).
Ich habe Weyrauch vom zweiten Preis an geholfen, seine Entscheidung zu treffen. Ich war dabei mehr eine Wand für die Gespräche, in denen er sich endgültige Gewißheit verschaffen wollte. Er nahm die Entscheidung ernst, das mag üblicherweise notwendig sein, aber er betrieb sie mit bewundernswerter Sorgfalt nicht nur durch mehrmaliges Lesen. Wenn ihm ein Text auffiel, er aber noch unsicher war hinsichtlich der Qualität, ließ er sich zusätzliche Texte schicken und prüfte und las und prüfte, bis die endgültige Entscheidung gefallen war. Und er benannte bei der Preisverleihung auch die, die ihn ebenfalls beeindruckt hatten, las ihre Texte vor oder ließ sie vorlesen, von Schülern, von Freunden, von Preisträgern.
Auch nach der Preisverleihung kümmerte er sich um die, die ihm aufgefallen waren. Er hielt Kontakt zu ihnen, empfahl sie weiter, druckte ihre Texte in seinen Anthologien, brachte sie in seinen Rundfunksendungen. Er war ein Entdecker, Förderer, Ratgeber, wie man ihn sich als Schreibender nur wünschen konnte.
Die Veränderung des Preises hin zum Literarischen März, wie er in der in diesem Buch dokumentierten Form bis heute stattfindet, haben alle, die die in meinem Text beschriebenen Ursprünge miterlebt haben, bedauert. Auch Wolfgang Weyrauch. Trotzdem hat er sich nicht verweigert und bis zu seinem Tod 1980 als Lektor mit Karl Krolow und mir am Literarischen März mitgewirkt. Heinz-Winfried Sabais, der die Erweiterung wünschte, um aus dem Preis eine den anderen von der Stadt Darmstadt vergebenen Literaturpreisen gleichwertige Angelegenheit zu machen, hat Weyrauch von Beginn an in das neue Konzept einbezogen. Dieser hat sich mit neuem Eifer der Aufgabe gestellt, obwohl es ihn nicht nur begeisterte, daß nun doch eine „Institution“ geschaffen wurde.
Jedenfalls gäbe es ohne Wolfgang Weyrauch weder den Leonce-und-Lena-Preis noch den Literarischen März, und es war an der Zeit, daß, beginnend 1997, die Förderpreise nach ihm benannt wurden.

Fritz Deppert

 

Fakten und Vermutungen zum Literarischen März

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