Fritz Martini: Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Interview“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Interview“ aus Marie Luise Kaschnitz: Dein Schweigen – meine Stimme. 

 

 

 

 

MARIE LUISE KASCHNITZ

Interview 

Wenn er kommt, der Besucher,
Der Neugierige und dich fragt,
Dann bekenne ihm, daß du keine Briefmarken sammelst,
Keine farbigen Aufnahmen machst,
Keine Kakteen züchtest.
Daß du kein Haus hast,
Keinen Fernsehapparat,
Keine Zimmerlinde.
Daß du nicht weißt,
Warum du dich hinsetzt und schreibst,
Unwillig, weil es dir kein Vergnügen macht.
Daß du den Sinn deines Lebens immer noch nicht
Herausgefunden hast, obwohl du schon alt bist.
Daß du geliebt hast, aber unzureichend,
Daß du gekämpft hast, aber mit zaghaften Armen.
Daß du an vielen Orten zuhause warst,
Aber ein Heimatrecht hast an keinem.
Daß du dich nach dem Tode sehnst und ihn fürchtest.
Daß du kein Beispiel geben kannst als dieses:
Immer noch offen.

 

Auf der Suche nach sich selbst

Das Gedicht „Interview“ spricht, auf den ersten und zweiten Blick, sich einfach-klar aus, es bewegt sich, mit knapp und genau gegliederter Syntax und in überschaubarer Komposition, einem Resultat zu, das in drei schlichten Worten formuliert wird. Dem Bewegungsablauf entspricht, im freien Vers, die gelockerte Bewegung der Verssprache. Es scheint, trotz seiner Kurzform, nichts zu verbergen und bedarf, so mutet es an, keiner Interpretationshilfe. Es nimmt in dem vielschichtigen und vielformigen Gesamtwerk von Marie Luise Kaschnitz – zwei Romane, mehrere Erzähl- und Gedichtbände, Hörspiele, autobiographische und tagebuchartige Aufzeichnungen, Essays mannigfaltiger Art – keinen auffallenden Platz ein. Es zählt nicht zu ihren vielteiligen zyklischen Gedichten, wie z.B. „Rückkehr nach Frankfurt“, „Die Gefangenen“, „Tutzinger Gedichtkreis“, „Ewige Stadt“, „Zoon Politikon“, „Requiem“ u.a.; es überrascht nicht durch Ungewöhnliches in Thema und Stil, wie z.B. „Genazzano“ (vgl. dazu Maier, S. 68ff.; Jens, S. 96f.), Hiroshima (vgl. dazu Grimm, S. 238ff.). Dennoch: man spürt, das lyrische Sprechen dieser Autorin erreicht in ihm einen Kunstrang, in dem Aussage und Gestalt zu überzeugender Einheit gelangen, sich ein Gleichgewicht von Außen- und Innenwendung ergibt, das gerade durch seine Aussparungen, durch seine Verbindung von Distanzierung und Intensität zu dem Substantiellen hinführt, dessen Marie Luise Kaschnitz fähig ist. „Leicht und doch nicht töricht zu schreiben hatte ich von jeher im Sinn gehabt […] aber da versagte die Hand, versagte auch die Sprache, so als seien ihre Worte schon mit menschlicher Schwermut und mit einem langen Schicksal (Unruhe, Heimatlosigkeit, Gemartertwerden) durchtränkt“ (Wohin denn ich, S. 174). Schwermut und Leichtigkeit haben sich in ihm verbündet.
Ein Interview ist per se kein lyrischer Anlaß oder Gegenstand. Marie Luise Kaschnitz hat sich mehrfach über das Unbehagen geäußert, in das Interviews sie versetzten.1 Aber der Hörer/Leser des Gedichts, das ihn zunächst im dialogisch-monologischen Doppelsinn als Situationspartner einzubeziehen scheint, wird rasch bemerken, daß im Schema eines Interviews sich eine Umkehr vollzieht: der Befragte ist der sich selbst Befragende. Es handelt sich, wenn nicht um ein lyrisches Selbstporträt, so doch um eine lyrische Selbstskizzierung, in Bruchstücken, die sich zu einem ganzen Umriß ordnen. Ein Ich erkundet und überprüft sich selbst, kritisch, seiner unsicher und doch gewiß. Es entsteht ein eigener lyrischer Schwebezustand. Das sprechende Ich ist zugleich Subjekt und Objekt, Spiegel und das Gespiegelte. Das schreibende Ich und der beschriebene Gegenstand fließen ineinander. Das Ich ist in sich selbst sich gegenüber. Es kann, indem es über sich selbst aussagt, die höchste Authentizität beanspruchen. Es legt sich in seinen Tiefen frei. Es stilisiert sich zugleich, indem es einer kreativen Subjektivität und dem Telos folgt, das mit dem Artefakt verbunden wird.
Kaschnitz schließt sich in „Interview“ einer Traditionskette an, die weit zurückreicht: der Spezies des lyrischen Selbstporträts. Seine historischen und individuellen Wandlungen können hier, bei kärglich bemessenem Raum, nicht beschrieben werden. Dieser Anschluß bedeutet zugleich moderne Umformung: das Ich wählt den Umweg der Verneinungen, des Nicht-Wissens, es stellt sich unsicher und ungesichert in Frage. Erst in den letzten drei simplen Wörtern taucht auf, was das eigene Wesen bestimmt, das bisher sich verbarg. Von den letzten Worten erhalten alle vorausgegangenen Verneinungen ihre Begründung. Tradition wird in „Interview“ transformiert und erneuert, zur Gegenwart und zur Selbsterfahrung des Menschen vermittelt.
Das Gedicht ist weiterhin eingebettet in das Gesamtwerk seiner Autorin, zu deren vorherrschenden Schreibimpulsen das Autobiographische gehört. Es geht bei ihr immer wieder um ,Standortbestimmungen‘, um ein Suchen und Fragen nach sich selbst, um Selbstbesinnungen, an denen sich Gefühl und Reflexion beteiligen, wie z.B. in Menschen und Dinge, 1946; Engelsbrücke, 1955; Haus der Kindheit, 1955; Beschreibung eines Dorfes, 1966; Tage, Tage, Jahre, 1968 u.a. (vgl. dazu Baus, S. 186f.). „Interview“ rückt nahe mit den Aufzeichnungen in Wohin denn ich zusammen, das Marie Luise Kaschnitz als ein typisches Altersbuch bezeichnet hat (Die Schwierigkeit unerbittlich zu sein, Sp. 3). Man findet darin ein Parallelgedicht (Wohin denn ich, S. 183). Es blieb ein fragmentarischer Entwurf, die Selbstbetrachtung im Spiegel blieb „im Äußerlichsten“ stecken, die Bildbeschreibung, ans Sichtbare gefesselt, gelangte nicht zu jener Art von „Abrechnung mit mir selbst“, die intendiert war (Wohin denn ich, S. 185). Die Situation war wohl auch zu eng ins Monologische beschränkt; es fehlte der Partner für den Dialog, den Interview fingiert; so wie sie auch unter dem Titel „Die Schwierigkeiten unerbittlich zu sein“ im gleichen Jahr 1965 ein fingiertes Interview mit sich selbst publizierte. Das vorgetäuschte Frage-und-Antwort-Spiel gab ihr die bessere Möglichkeit zur Selbstaussage.
Noch eine andere Einbettung darf nicht übergangen werden: die Position von Interview in der Gedichtsammlung Dein Schweigen – meine Stimme. Es steht in diesem Band der Trauer um den Tod ihres Mannes Guido Kaschnitz nicht an vorrangiger, aber vom kompositorischen Formwillen der Autorin genau bestimmter Stelle. Es kann hier auf die Wandlungen der lyrischen Sprechweise von Marie Luise Kaschnitz nicht eingegangen werden. Als sie in Gedichte 1947 zuerst vernehmbar wurde, suchte sie in seit der Antike vererbten Formen einen festen Halt, in den Sicherungen durch regelhafte Metren, Strophen und Reime die Suggestion des Schönen gegenüber dem Elend der Welt. Sie folgte einer vorgeprägten Sprach-, Bilder- und Klangwelt und deren pathetisch-metaphorischen Überhöhungen. Dem Schweigen – meine Stimme zeigt den Entwicklungsweg, den sie sich seit Neue Gedichte (1957) erarbeitet hatte. Er hat – keineswegs ausschließlich – zu der Form verdichteter Abbreviatur, zur Einfachheit der Sprache und zum ,vers libre‘ am Rande der Prosa geführt. Die in sich und in der Wiederkehr streng geschlossene Versform, Manifestation einer als starr empfundenen objektiven Ordnung, konnte dem intensivierten Bewußtsein der persönlich-individuellen Ausdrucksnotwendigkeit, der Existenz im Augenblick, in dessen Fragmentarik und Ungesichertheit nicht genügen. Die eigene Erfahrung forderte die eigene, frei gewordene Sprache und Stimme. Sie konnten sich nicht mehr einer von außen bestimmten Gesetzlichkeit der lyrischen Redeweise einordnen. Der ,vers libre‘ erlaubte ihr eine eigene Übereinstimmung von Erfahrung und Ausdruck. Mit der überlieferten Selbstgewißheit des Ich mußte die feste Form fallen, in der es sich darstellte.

Je älter ich werde, desto weniger sicher bin ich, das Richtige zu sagen. Ich kann keine Behauptungen mehr aufstellen. Ich muß tasten, eine Annäherung versuchen […] In der strengen Form kann man wohl nur Dinge sagen, von denen man sich einbildet, sie genau zu wissen, nicht aber solche, die einem, je länger man lebt, desto rätselhafter erscheinen. (Bienek, S. 39)

Aber es handelt sich hier nicht um eine biologisch ableitbare Altersstimmung und Alterssprache. In einem Essay „Liebeslyrik heute“ heißt es ähnlich:

Strenge Versmaße werden in dem heutigen Gedicht selten verwendet, es ist, als seien sie zu starr für den Vorgang des Suchens, Abtastens und Ableuchtens der Dinge und ihrer geheimnisvollen Beziehungen und in ihrer Wirkung zu apodiktisch. (Zwischen Immer und Nie, S. 243)

Eingegangen in die neue Versgestaltung ist die Erfahrungsfülle aus Kriegs- und Nachkriegszeit, die weit vom Schönen, Geordneten und Geborgenen der früheren Jahre, an das sie aber von Kindheit an nicht recht geglaubt hatte, entfernte. Damit verband sich in Dein Schweigen – meine Stimme das eigene Leid. Die Vereinsamung in der Zeit steigerte sich durch die persönliche Vereinsamung. Das Ich war außen und in sich selbst ins Ungewisse, Ungeborgene ausgesetzt, es war, fragend, suchend, im Fremden, in Schmerz und Trauer, ruhelos, heimatlos, und das Gedicht mußte dies in sich aufnehmen.

Was vom Gedicht der Jetztzeit tatsächlich vermittelt werden kann, ist die vielfach gebrochene und stückhafte Innenwelt des heutigen Menschen, eines in die Welt und an die Welt Verlorenen, der die Gefahr seiner Verlorenheit kennt. (Zwischen Immer und Nie, S. 225)

Diese Situation zeichnet sich im „Interview“ ab: die Situation der zeitgenössischen Lyrik, die Situation der geschichtlichen Zeit und die existentielle Situation des sprechenden Ich. In die lyrische Abbreviatur sind weite Ausdrucksdimensionen eingegangen. Sie hat ihnen die Festigkeit eines geschlossenen Formgebildes abgewonnen.
„Interview“ ist in eine Gruppe von Gedichten unter dem Obertitel „Chronik“ eingefügt. „Chronik“ scheint auf die Tendenz zum Erzählerischen, zum Beobachten und Berichten zu verweisen. Mischungen von Epischem und Lyrischem hat Kaschnitz als ihr eigentümlich bestätigt; sie sind generell als Zerfließen fester Gattungsgrenzen in der zeitgenössischen Literatur festzustellen. Sie hat wiederholt bemerkt, „daß sich in meinen Gedichten Prosaelemente befinden und daß meine Prosa oft gebaut ist, wie ein Gedicht“ (Die Schwierigkeit unerbittlich zu sein, Sp. 1). Zwei erzählende Gedichte, man mag sie auch reduzierte Legenden-Balladen nennen, flankieren „Interview“. Sie erzählen, in gegenseitiger Spiegelung, Vorfälle aus der anscheinend gegenwärtigen Wirklichkeit, sachlich, ohne Pathos oder Gefühligkeit. In „Der Leuchtturm“ geht es um die Tragödie eines Knaben, der, gewaltsam von seiner Heimatinsel ins Fremde entfernt, zu ihr zurückflüchtet. Den Sohn eines Trinkers und einer Schlampe erwartet keine schöne Heimatidylle. Er strengt alle Kräfte an, zu einem Traumbild, einer Traumheimat zurückzukehren. Er bricht, seinem Ziel nahe, zusammen, der Finger des Leuchtturms streift, ein unerreichbares Licht in der Finsternis, über den Verwesenden hinweg. Nur eine unscheinbare und dennoch alles durchdringende Andeutung macht diese Geschichte zum Zeichen, das jedermann betrifft.

Da liegt es, unser Heimweh
Von Vögeln ausgeweidet
(Dein Schweigen – meine Stimme, S. 55).

Marie Luise Kaschnitz hat solcher Hoffnungslosigkeit in Dezembernacht eine Gegenperspektive gegenübergestellt. Auch hier geht es um ein Kind. Ein Feldhüter und ein Schafhirt entdecken das Neugeborene, ein ausgesetztes Flüchtlingskind, in einem Geräteschuppen. Drei luxuriöse Autos werden aufgehalten, „Drei Herren stiegen aus, drei Frauen, schöner als Engel“, sie schenken zufällige Requisiten ihres Wohllebens und fahren davon. Ein Stern hat besonderen Glanz. Das Gedicht mündet in Frage und Antwort:

Ist das Kind gestorben
Das Kind stirbt nie
(Dein Schweigen – meine Stimme, S. 57).

Kaschnitz transponiert die Geburtsgeschichte des Heilands in eine gegenwärtige Wirklichkeit, die zum „Überall“ und „Immer“ offen ist. Der Finsternis des Tragischen antwortet eine Heilshoffnung, und beides ist gültig. Zwischen „Leuchtturm“ und „Dezembernacht“ findet sich „Interview“. Auch der innere Aufbau ist ähnlich nur daß „Der Leuchtturm“ durch die Gliederung zu zwei ungleich langen Strophen sich unterscheidet. Doch ein Strophenschnitt verbirgt sich auch zwischen den Versen 8 und 9 des „Interview“.
Die Verse 1–8 wirken wie eine Exposition. Das Uneigentliche muß rasch beiseite geschafft werden. Die Negationen, die sie aussprechen, jagen einander mit zunehmender Zeilenverkürzung. Das letzte Glied in der Reihe erhält so eine Nachdrücklichkeit, die dem Gegenstand komisch ungemäß ist. „Keine Zimmerlinde.“ Eine ironische Unangemessenheit verbindet auch die ,Neugierde‘ des Interviewers mit dem ,Bekennen‘ der Befragten. Zugleich ironisiert die Fragenliste den banalen Erwartungshorizont des Interviewers und des Publikums, für das er fragt. Briefmarken oder Farbfotos sammeln, Kakteen züchten, Eigenhaus, Fernsehapparat, Zimmerlinde – es sind die trivialen Attribute einer im Nichtigen zufriedenen Idylle, der „Wohlaufgeräumtheit des heutigen Lebens“ (Wohin denn ich, S. 84). Aus ihnen spricht die dumpfe Fixierung auf ein enges Bürgerglück, das Glück der Gleichmütigen und Stumpfsinnigen, die ihre Vereinsamung im noch so kleinen Besitz verstecken, gefühllos-blind gegenüber ihren leidenden Mitmenschen, gegenüber den Gefahren der Zeit, den Verfolgungen von gestern und den Kriegen von morgen. Die falschen Fragen des Interviewers laufen zeitkonform ins Leere, denn sie zielen auf Menschen, die ihr Wesen nur in den Dingen, in den Hobbys finden, die sie besitzen und von denen sie besessen sind.
Der mit Vers 9 einsetzende zweite Gedichtteil löst das ironisch-feierliche ,Bekennen‘ durch ein schlichtes „Daß du nicht weißt“ ab, das in sieben Abwandlungen das Folgende dicht zur Einheit verklammert. Die Wiederholungen behüten das Gedicht vor dem Zerfließen, verdichten es in Sinn und Rhythmus zur festen Einheit. An die Stelle der Addition der Verneinungen tritt ein dialektisches Verfahren mittels Frage und Antwort; die Perspektive wechselt von den Routinefragen des anonymen Interviewers zu einer schonungslosen Confessio des Ich sich selbst gegenüber. Auch dieser abrupte Perspektivenwechsel kennzeichnet das zeitgenössische Gedicht. Ein Tonwechsel ist deutlich. Ihm entspricht die Längung der Sätze und Verszeilen, ihre klare Bestimmtheit, bis dann in der Schlußzeile zu drei einfachsten Wörtern verknappt wird, worin sich dies Ich erkennt. In dieser Schlußzeile, die gleichsam spiralartig durch die Abwege der falschen Fragen und die Verneinungen des Wissens hindurch erreicht wird, erhellt sich das ganze Sinngefüge.
Und auch dies zeigt das zeitgenössische Bewußtsein an: das Nein gegenüber der zeitgenössischen Bürgermentalität wird nicht durch ein Überlegenheitsgefühl der künstlerischen, geistigen Existenz kompensiert, nicht durch einen Unabhängigkeitstrotz des Außenseiters, wie die Konvention des Gegensatzes zwischen Bürger und Künstler erwarten ließe. Er würde das ,Nein‘ nur gesellschaftlich begründen. Es ist anders: ein Ich sitzt über sich selbst zu Gericht, es verlangt von sich unerbittliche Wahrhaftigkeit. In ihr sah Marie Luise Kaschnitz die verbliebene Legitimation der Dichtung: als Wahrhaftigkeit des Autors gegenüber sich selbst und gegenüber der Zeit. Sie wollte sich in keine Tröstungen oder Versöhnungen einlassen.
Es kann auf ihren Essay „Schwierigkeiten heute die Wahrheit zu schreiben“ nur verwiesen werden. „Künstlerische Wahrheit“, heißt es dort (S. 70f.), „ist Treue zu sich selbst und zu seiner Zeit in diesem Sinne gibt es eine künstlerische Wahrheit auch in der Lyrik – auch noch dem irrationalsten Gedicht muß man die historischen und soziologischen Erfahrungen abhören können, durch die sein Verfasser hindurchgegangen ist.“ Und weiter: Nur die Aufrichtigkeit, die per se Gesellschaftskritik, wenn auch vielleicht nur im akzentuierten persönlichen Lebensaugenblick ist, trifft ins Schwarze. Sie kann heute nur von der Unsicherheit des Menschen gegenüber der Fragwürdigkeit der Zeit und  sich selbst gegenüber sprechen. Solche Unsicherheit läßt sich in den folgenden Verszeilen ablesen. Das Ich weiß keine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ seines Schreibens, keine Antwort auf die nach einem Sinn des Lebens. Es hat Herz und Gefühl eingesetzt, „aber unzureichend“ (14). Es hat gekämpft, aber nur zaghaft, es hat kein Recht auf eine Heimat keinen festen Standort gefunden, es lebt, „ein verlorenes Ich“ (Dein Schweigen – meine Stimme, S. 17) im Ungewissen zwischen Todessehnsucht und Lebensverlangen, zwischen dem Nichts und ein wenig Hoffnung, dem Nirgendwo und Irgendwo. Es kann kein „Beispiel“ geben (19). Nur des einen ist es gewiß: „Immer noch offen“ (20) zu sein. Diese Offenheit bedeutet den Widerstand gegen alle Verbrämungen, Versöhnungen und Tröstungen, die dem Gedicht eine schöne Abrundung geben könnten, bedeutet, sich allen Widersprüchen zwischen dem Vergeblichen und den Hoffnungen oder Träumen auszusetzen. Sie meint den Widerstand gegen die Fixierungen an das zeitgemäß Nichtige, nach dem der Interviewer fragte. Sie stellt nicht nur die Zeit, auch das Ich in Frage. Sie weicht nicht dem Schrecklichen, nicht dem Schönen mittels Beruhigungen und Beschwichtigungen aus, nicht dem Labyrinth, dem Guten und Bösen auf allen Seiten und in jeder Brust (Wohin denn ich, S. 146). Sie meint, für die härteste innere Wahrheit um ein Wort von Kaschnitz aufzunehmen, bereit zu sein und sich keinem Mitleben und Mitleiden zu verschließen. Denn erst, wer sich allen Unsicherheiten aussetzt, gelangt zur Person.

Wichtiger als alles einmal Zustandegebrachte schien mir das, was nicht geht, noch nicht geht, vielleicht einmal geht. Aber unsere Tage sind gezählt. (Wohin denn ich, S. 48)

Dein Schweigen – meine Stimme ist ein Buch der Trauer, Ausdruck einer eingreifenden Lebenskrise. So könnte Interview, auch im kritischen Sinn, als ein ,privates‘ Gedicht gelten. Marie Luise Kaschnitz hat von einer unvermeidlichen Ichbefangenheit ihrer Lyrik gesprochen, „weil ich wirklich nur von mir aus, oder von einer einzigen Person aus, mit der ich mich identifiziere, berichten kann“ (Insel Almanach, S. 56). Lyrik bedeutete ihr eine unmittelbare, auf Erleben und Erfahren des Ich bezogene Aussage, eine Gegenwart, die sich weder dem Vergangenen noch dem Zukünftigen verschließt.
Aber handelt es sich in Interview wirklich nur um eine Confessio des noch nicht und doch schon Erreichten nur um ein autobiographisches Gedicht? Die Aufzeichnungen Wohin denn ich scheinen es zu bestätigen. Gleichwohl stellen sie schon zu Beginn eine Warntafel auf.

Wenn Sie wissen wollen, wer hier spricht, welches Ich, so ist es das meine und auch wieder nicht, aus wem spräche immer nur das eigene Ich. (Wohin denn ich, S. 5)

Marie Luise Kaschnitz spricht aus einem Ich in dieser Zeit in dieser historischen Phase, und sie spricht von sich als einem Menschen unter allen anderen, die in ihr leben müssen. Sie spricht vom Menschen jetzt und immer, hier und überall.

Ich wußte ja, was meine Not war, diese schmerzhafte Spannung zwischen Todessehnsucht und Lebenswillen, die übrigens gewiß ein allgemeines Übel ist und die so leicht niemand aufheben kann. (Wohin denn ich, S. 126)

Sie stellt den Vielen, den Gleichgültigen und Stumpfen, die von den Schrecken und Gefahren der gegenwärtigen Zeit, ihrer Vergangenheit und Zukunft nichts ahnen oder wissen wollen und unter die der Interviewer sie selbst einrangiert, ihr Ich entgegen. Dies Ich ist Widerstand durch sein Dasein. Es ist zugleich in die Ratlosigkeit und Brüchigkeit der Zeit einbezogen. Daß sie um beides weiß, sich keine Täuschungen reserviert, in keine Schlupfwinkel flüchtet, macht aus ihrer Ohnmacht eine Kraft. Sie liefert kein „Beispiel“, das beansprucht, anderen aufzuhelfen. Sie ist wie alle Gefangene der Zeit und des Mensch-Seins. Aber indem sie dies genauer, intensiver und härter weiß und sagt, hilft sie vielleicht zum heilenden Widerstand gegen die große Erkrankung der Zeit (Wohin denn ich, S. 176). Ihre Wahrhaftigkeit sollte die Leser provozieren und wecken; ihr Dichten wollte „den trostsüchtigen Leser in seine Schranken zurückweisen, ihm seinen alten Wunsch nach Erhebung und Erlösung austreiben, ihn im düsteren Gegenbild der Poesie diese selbst erkennen lassen“ (Wohin denn ich, S. 17), die in einer kargeren, häßlicheren Gegenwart, gemessen an vergangenen Jahrhunderten noch immer Poesie war, die nicht lediglich von einem privaten Ich, sondern zu allen sprach. Der Dichter galt ihr in dieser Gegenwart als ein Wächter, dem im Gegensatz zu den glücklichen Augen des Goetheschen Türmers das Unerfreuliche und Häßliche nicht aus dem Sinn kommt, der aber mit seinem beständigen Aufmerken und Festhalten der Schrecknisse diesen selbst schon etwas von ihren Schrecken nimmt.

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Fritz Martini, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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