Gabriel Celaya: Ahnungen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gabriel Celaya: Ahnungen

Celaya/Pauly-Ahungen

DIE FORTWÄHRENDE EXPLOSION

Die Explosion der Welten,
die wir das Schweigen der Gestirne nennen,
wenn aus Fernen wir schauen;
die scheinbare Ordnung
der Nacht, deren Lichter unerahnte Schreie sind;
Ruhe von hier aus,
aaaaaaaaaaaaaa  aIrrsinn dort fern,
die fortwährende Explosion,
der gleißende Irrsinn schamlos,
den die Gelehrten uns verbergen
(Sphärenmusik! Berechnungen eines Newton!)
mit seinen Systemen,
der da jäh platzt in einer obszönen
Explosion an Schönheit.

Alles ist Liebe, alles Aberwitz, alles Metamorphose.
Eine Nelke, wenn sie aufblüht, zeigt,
was sie nicht erklärt, noch Erklärung bedarf.
Und diese Schreckensblume des Himmels in Expansion
treibt in Irrsinn – eine Liebe, die
vielleicht nur der Suizid Gottes.

 

 

 

Nachwort

Kunstmaler möchte er werden, aber auf Beschluß des Vaters soll er in Madrid ein Ingenieurstudium absolvieren. Solches gebietet das prosperierende Familienunternehmen. Großvater Ramón Múgica, ein geschäftstüchtiger Baske, zog seinerzeit in San Sebastián einen robusten Holzhandel auf, er importierte aus Skandinavien und später aus dem näher gelegenen Nordwestfrankreich Kiefer und Fichte, belieferte vornehmlich die spanischen Eisenbahnen mit Baumaterialien, gelangte dabei zu Reichtum. Er verschaffte den Seinen den sozialen Aufstieg. Schon in der nächsten Generation besitzt die Familie, zu der gar auch ein Schwiegersohn schwedischer Abkunft zählt, vor den Toren der Stadt eine Fabrik für Holzverarbeitung und führt einen für spanische Verhältnisse gehobenen bürgerlichen Lebensstil.
Dem am 15. März 1911 im Landhaus seiner Eltern im Pyrenäenort Hernani geborenen Sproß Rafael Múgica – sein vollständiger Name: Rafael Gabriel Juan Múgica Celaya Leceta – ließ der Vater beste Ausbildung und Fürsorge angedeihen. In ihn sind Hoffnungen und einhellige Erwartungen gesetzt. Sechzehnjährig, nach Ablegung des Abiturs, wird er im Herbst 1927 zusammen mit seinem gleichaltrigen Cousin Ramón Ohlsson zum Studium desselben Fachs, „Industrieingenieur“, in die Landeshauptstadt geschickt.
Madrid in diesen Jahren ist das Zentrum konvulsivisch widersprüchlicher gesellschaftspolitischer Vorgänge. Die auf alter Feudalstruktur basierende spanische Monarchie vermag sich der erstarkenden bürgerlich-liberalen Republikaner als auch der zunehmend bewußt und radikal auftretenden proletarischen Bewegung nur noch mit harten Machtmitteln zu erwehren, und sie wird erst 1930 fallen. Seit seinem Staatsstreich von 1923 regiert General Primo de Rivera gegen alle Parteien und politische Gruppierungen diktatorisch, gleichzeitig führt das Regime einen blutigen, verlustreichen Kolonialkrieg in Marokko. Aber so massiv die Repression auch ist, sie mobilisiert die Gegner, macht namentlich der Intelligenz bewußt, daß sie in der Auseinandersetzung dieser Tage eine wichtige Kraft darstellt und daß ihr die kulturelle Erneuerung Spaniens aufgetragen ist.
Antonio Machado, Pío Baroja, Juan Ramón Jiménez, der auf die Kanarischen Inseln deportierte und von da nach Frankreich entwichene Miguel de Unamuno, Vicente Blasco Ibañez, Jacinto Benavente, Ramón Maria del Valle-Inclán, durchweg Schriftsteller von europäischem Rang, sie stehen zu dieser Zeit in der Reife ihres Schaffens und Wirkens. Und eine neue Generation drängt vor: just 1927, mit den Feierlichkeiten zum dreihundertsten Todestag des genialischen Barockdichters Luis de Góngora, konstituiert sich ein Kreis junger Lyriker, der binnen weniger Jahre für Spaniens Dichtkunst überragende Bedeutung gewinnen wird, ihr eine neue Blüte beschert und ein bis in unsere Gegenwart mitbestimmendes Profil. Ihre Namen: Federico García Lorca, Rafael Alberti, Jorge Guillén, Dámaso Alonso, Vicente Aleixandre, vermehrt noch um Luis Cernuda, Miguel Hernández und andere – es ist die sogenannte „Generation von 1927“.
Mitten in dieser bewegten und anregenden Atmosphäre der junge Rafael Múgica, wachen Sinns, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. In der Residencia de Estudiantes, der Studentenwohnstadt, die ein Sammelort der akademischen Jugend und Treff der hervorragenden oppositionellen Geister ist, bewohnt er ein Zimmer, das vor ihm Salvador Dali und Luis Buñuel innehatten. Ein Vorstudium ist zu absolvieren; die Fachausbildung wird er 1935 beenden, ohne allerdings eine echte Beziehung zum Ingenieurberuf gefunden zu haben.
Auch die Begeisterung für die Malerei schwindet; zugunsten der Literatur. Eines Tages, Herbst 1928, auf der Plattform der Straßenbahn fahrend, liest er die soeben erschienenen Zigeunerromanzen von García Lorca. Wie er sie finde, fragt ihn ein Unbekannter. „Abscheulich“, antwortet er. Der andere lacht. Es ist García Lorca. Eine denkwürdige Begegnung, und der Anbeginn einer Freundschaft, die den jungen Literaturenthusiasten in den Kreis der „Generation von 1927“ einbezieht, ihn, passiv zunächst, jedoch in ganzer Bewußtheit, teilhaben läßt am kulturellen Geschehen und an der Profilierung der jungen spanischen Dichtkunst.
Er selber, zehn Jahre jünger als die Mitglieder des Kreises, versucht sich ab 1934 in Versen. García Lorca legt er sie vor; der ermutigt ihn, rät ihm, zur Selbstdisziplinierung strenge metrische Formen vorzuziehen.
Es ist ein Vortasten, ein Erproben eigenen Könnens, mit Anklängen an das bisher Assimilierte. Der Romantiker Gustavo Adolfo Bécquer, Baudelaire, Rimbaud, der Modernist Juan Ramón Jiménez, besonders die in diesen Jahren Furore machenden französischen Surrealisten, ebenso der jüngst zum Kreis gestoßene Chilene Pablo Neruda mit seinem selbstquälerischen Aufenthalt auf Erden und natürlich die vielfältigen unmittelbaren Einflüsse von seiten der „Siebenundzwanziger“ – sie spiegeln sich in Múgicas Gedichten, die eine originäre lyrische Begabung erkennen lassen.
1935, nach Heimkehr als Ingenieur, erste Buchveröffentlichung: das Bändchen Marea del silencio (Flut des Schweigens). Fünfhundert Exemplare, selbst finanziert. Wenige Dutzend werden an Freunde und Bekannte verteilt, der unverkaufte schwerverkäufliche Reststapel lagert in einem Madrider Buchladen; er verbrennt ein Jahr später beim Bombenangriff franquistischer Flugzeuge auf die Metropole.
Die Fährnis des Büchleins steht, in aller Bescheidenheit, für Spaniens Schicksal. Klerikalfaschistische Putschgenerale haben im Juli 1936 die Republik überfallen. Ein mörderischer Bruderkrieg spaltet die Nation, ein blutiger Riß geht quer durch das ganze Land. Rafael Múgica wird zu den republikanischen Streitkräften eingezogen, im Range eines Hauptmanns und zuständig für Truppenversorgung. Ein Jahr später, als Nordspanien fällt, gerät er in Gefangenschaft; ihn setzen die Franquisten ihrerseits ein, als niedere Charge. So lernt er die Epopöe von beiden Seiten kennen, in all ihren Schrecknissen. Die Erlebnisse sind niederschmetternd, er sucht einen Halt, einen Ruhepunkt, heiratet mitten im Kriegsgeschehen. Die Ehe, aus der zwei Kinder hervorgehen, wird nicht glücklich sein.
Nach der Niederlage der Republik (April 1939) arbeitet er im Familienbetrieb, der, dank Schwarzmarktgeschäft, floriert. Er hat, mitten in Elend und materieller Not, privat sein Auskommen. Aber was sonst? Die spanische Kultur zunächst ausgelöscht, ihre Vertreter in den Gefängnissen darbend, getötet, ins Exil getrieben oder zur inneren Emigration verurteilt. Die Zukunft, zumal nun ganz Europa in Krieg versinkt, ohne Perspektive, ohne ideellen Antrieb.
In schmerzlicher Isolation lebt Rafael Múgica, ohne Gesinnungsfreunde, uneins mit seinem bürgerlichen Milieu, unverstanden von seinem familiären Nächsten. Er dichtet zwar, veröffentlicht aber nichts. Es ist das Drama des Wegelosen, Besiegten.

Der Mensch allein in einsamer Flur
sucht bei den Marken der Angst und des späten Tags…

In Hinwendung zu sich selbst zielt er auf Definierung des Menschen, will er dem Individuum ein Fundament gewinnen, möglichst mit ontologisch ausgewiesenem sicherem Standort. „Geschichtliche Tiere sind wir; in jedem von uns ist nicht nur unsere eigene Vergangenheit, sondern die gesamte Vergangenheit der Menschheit aufgehoben“, sinniert er in Tentativas (Versuche), einem Essay, an dem er, nach Erkenntnis und innerer Festigkeit strebend, über Jahre hin schreibt. Es drängt ihn, von Zeitwidrigkeiten unanfechtbares archetypisches Sein aufzuspüren, mit Freiräumen für den schöpferischen Geist des Individuums. Indes, er fühlt, irgend etwas an seinem Bemühen ist fehl, ist so falsch wie seine Berufsausübung, wie sein bourgeoises Dasein überhaupt.
Wahrer, aufrichtiger, gibt er sich in den Versen. Sie haben einen beklemmend existentialistischen Grundton oder sind so die hernach unter dem Namen Juan de Leceta veröffentlichten Gedichte – durchtränkt von ätzendem selbstbezichterischem Sarkasmus. Und das Fazit:

Mit fünfunddreißig, da ich hinter mich gebracht
lange lastbeladene letzthin vergebliche Jahre,
wäg ich den schon verschlissenen Antrieb,
das Nichts meines Lebens, den Ekel in mir…

Es ist der Endpunkt einer langen moralischen Misere. Ein Zerwürfnis mit allem, was er darstellt und was ihn umgibt. Er selber nahe dem physischen Garaus. Eine schwere Erkrankung wirft ihn auf das Lager; nur mühsam wird er sich erholen.
Herbst 1946 der jähe Wandel. Eine Frau tritt in sein Leben, Amparo Gastón, „Amparitxu“. In ihr findet er den Menschen, den Mitmenschen, die Liebe, das Verständnis für Literatur und Kunst, den Ansporn zum Schreiben und sich Mitteilen, zur Hinkehrung nach außen, den anderen Menschen zu. Nun ist’s, als sprengte er einen Eispanzer. Mit dem Ungestüm des wieder zum Leben Erweckten veröffentlicht er in rascher Folge, was die Schubläden seit Jahren an Gedichten bargen. Und in anhaltender, nahezu erstaunlicher Fruchtbarkeit wird er Jahr für Jahr neue Werke vorlegen – fortan unter dem Namen Gabriel Celaya, das irgendwie auch Identitätswechsel bedeutet.
Überdies gründet er einen Verlag, gibt er junge spanische Lyriker heraus (Bleiberg, Cela, Molina, Labordeta), in Übersetzung auch Eluard, Rilke, Rimbaud und weitere ausländische Autoren; ein wirksamer Weg, aus der Isolation zu treten und der Dichtung, seinem längst einzigen inneren Motor, Bewegung und Richtung zu geben.
Der Drang zu Aufbruch und Neuorientierung ist ab 1945 allgemein. Es gilt, nach Jahren der Sterilität und Stagnation, die einengenden Maßgaben des Regimes zu durchbrechen, gleichwohl auch die Selbstbeschränkung zu überwinden, die Bescheidung etwa auf Kunstfertigkeit im Formalen, wie sie die Anhänger der literarischen Zeitschrift Garcilaso um diese Zeit propagieren. Schon Dámaso Alonsos Söhne des Zorns (1944) ist ein Aufschrei wider den poetischen Konformismus, und eine um die Zeitschrift Espadaña gescharte Nachkriegsgeneration (Cremer, Nora, Gaos, Bousoño u.a.) fordert eine menschlichere, wärmere und vor allem freiere Dichtung, die sich der Wirklichkeit stellt. Nicht Wortkunstwerke in steriler Schönheit mehr, nicht mehr Elfenbeinturm, sondern ins volle Leben gegriffen! Alles ansprechen, was drückendes Problem ist, und alle ansprechen, die darunter leiden. Die elitäre einstige Devise des Modernisten Juan Ramón Jiménez („Für die immense Minorität“) prägt Blas de Otero um in den Vorsatz: „Für die riesige Mehrheit“.
Mit Cartas boca arriba (Die Karten aufgedeckt, 1951) bricht Celaya endgültig den Bann. In Versbriefen an Zeitgenossen und an vormalige Freunde knüpft er Verbindungen, die ihn aus Einsamkeit und Untätigsein läsen. An ihnen versucht er, sich und seinen Auftrag als Dichter zu definieren. Er sieht sich jetzt und fortan in einem großen Strom, der über das schmale geknebelte Heute die Vergangenheit und das Morgen umfängt, Traditionswahrung und zukunftsorientiertes Wirken auferlegt, Geschichtsbewußtsein in umfassendster Weise birgt.
„Essentielles Thema der Poesie unserer Tage ist das gegenwärtige Menschenleben in seiner historischen Dimension“, formuliert Vicente Aleixandre wenig später. Celaya schreibt seine Cantos iberos (Iberische Gesänge), in denen er sich liebevoll über das in den Zeitläuften gequälte und gebeutelte Spanien beugt. Es treibt ihn, wider die Geschichtsverfälschungen des Franco-Regimes, Spaniens wahres Wesen zu ergründen. Schöpfen will er aus dessen unversiegbaren Kräften, und diese verkörpert noch am ehesten der duldsam zähe, beständige Sancho Panza, das spanische Volk.
Nehmen impliziert ein Geben. Celaya begreift: „Die Poesie ist nicht Selbstzweck; sie ist, wie anderes auch, ein Mittel zur Veränderung der Welt.“

Verflucht eine Dichtung, wenn sie Kulturluxus,
gezeugt von Neutralen, die
ahnungslos unschuldig tun und dem Hier entweichen.
Verflucht dessen Dichtung, der nicht im Maße Partei
aaaaaaaaaaaaaergreift, daß er sich schmutzig macht…

Ein Qualitätswandel. In ganzer Konsequenz. Ein revolutionäres Konzept ist geboren. Celaya erntet stürmisches Für und Wider, macht sich aber, in Begleitung Amparitxus inzwischen nach Madrid übergesiedelt und nun ausschließlich von der Feder lebend, desto entschiedener ans Werk.
In den fünfziger Jahren ist er Spaniens exponiertester, fruchtbarster und drangvollster Dichter. Was ihn da an zu vermittelnden Botschaften bewegt und fortreißt, sprengt den Formrahmen üblicher Lyrik. Neben Kurzgedichten entstehen Langpoeme von Dutzenden Seiten, so Lo demás es silencio (Der Rest ist Schweigen), ein Debattiergespräch über den prometheischen Menschen und einen neuen Humanismus; so Las resistencias del diamante (Die Härten des Diamants), eine Verserzählung über den Ausbruch von Widerstandskämpfern aus einem Gefängnis; so Vias del agua (Wege des Wassers), eine szenische Dichtung über militärischen Machtmißbrauch; so Episodios nacionales, zu einem Panorama des Spanienkriegs und der Folgezeit vereinte Episoden, die in den hier vorliegenden Sammelband integral aufgenommen sind, als Muster für die Langpoeme des Autors und deren Engagement.
Kein anderer Dichter wagt einen vergleichbar massiven Affront. Celaya wird zum Inbegriff des politisch und sozial engagierten Lyrikers. Die Franco-Behörden maßregeln ihn, die Zensur verbietet das meiste, doch wird es die Spanier über im Ausland gefertigte Drucke erreichen.
Ethik und Ästhetik dieser Phase, in der sein Werk exemplarisch für den generellen Trend in der Poesie dieser Jahre steht, bilden eine innere Einheit. Celaya wendet sich an eine möglichst breite Schicht, eben an die immense Mehrheit der Spanier, und ihrem Verständnis und ihrer emotionalen Spezifik gemäß ist seine Sprache und Diktion. Mit Vorliebe wählt er den poetisch eingekleideten romanzenhaften Erzählton, der in der spanischen Literatur eine jahrhundertelange Tradition hat. Volkstümlichkeit bei gehobenem Anspruch und dichterische Kreativität stehen hier in glücklichem Einklang. Und poetisch am schönsten ist er vielleicht da, wo er Vertiefung bis in die uralten Formen vorliterarischer, mündlicher Überlieferung wagt, wie etwa in Rapsodia éuscara (Baskische Rhapsodie) und Baladas y decires vascos (Baskische Balladen und Sprüche).
Was Juan Goytisolo, Camilo José Cela, Antonio Ferres, Amt María Matute und weitere Romanciers in den fünfziger Jahren auf dem Gebiet der Prosa an ungeschminkter Wirklichkeitserfassung leisten, das vollbringt, allen Vertretern seines bevorzugten Genres voraus, Gabriel Celaya in der Lyrik. Jedoch der Realismus der dokumentierenden düsteren („tremendistischen“) als auch anklagend kämpferischen Manier erschöpft sich innerhalb eines Jahrzehnts. Zu Beginn der Sechziger sind die Dinge dargelegt und die Argumente in oftmaliger Wiederholung stumpf geworden. Die vom Angriff erhoffte unmittelbare Wirkung blieb aus. Der morsche, innerlich verrottete Franquismus hat nach wie vor seine Machtmittel zu Gebote und profitiert überdies von der Lethargie jener bürgerlicher Schichten, die im Gegensatz zum Proletarier, zwar Bücher lesen, aber revolutionärer Potenzen ermangeln. Mit dem sensiblen Gespür des Künstlers registriert Celaya dieses allgemeine Dilemma, und es berührt ihn persönlich tief. Ein gewisser Wandel scheint unabdinglich: Positionen sind neu zu überdenken, notfalls ist der Dichtung ein neues Feld aufzutun.
Mit verändertem dichterischem Konzept tritt Celaya in Mazorcas (Maiskolben) und alsdann in La linterna sorda (Die trübe Laterne) hervor. Schon am äußeren Bild erkennbar: gezielte Verknappung, Komprimierung des zu Sagenden, hin zu poetisch gefaßten Sentenzen, deren formale Anordnung und gedrängte Aufeinanderfolge ein Maximum an ästhetischer Wirkung bezwecken. Bemerkenswerter aber die substantielle Seite. Der Autor kehrt nun wieder verstärkt sein lyrisches Ich hervor, in der großen Vielfalt subjektiven Fühlens und Meinens. Da ist Gedankentiefe und Weisheit des Alters, gehüllt in gutmeinende Ironie und verhaltenen Sarkasmus; dichterisch niedergelegte Erfahrungen dessen, der viel gelebt, viel erlebt hat: mühevolle Siege, aber auch Niederlagen und Desillusionierung. Da ist gleichrangig neben Ernst und Bärbeißigkeit nun aber auch der alles vermeintlich Unsinnige und Absurde auffangende Humor, der leichte Sinn, das Lachen. Und da ist, Pathos und Sentimentalitäten abhold, der Hang zum Jonglieren, zum Fabulieren, zur poetischen Verzauberung, bei wiedergewonnenem kindlichem Staunen und Wundern.
Dies alles in einer philosophischen Grundhaltung, die an das unabdingbare Irdischsein all dessen gemahnt, was Leben ist, und die Vergänglichkeit und Kleinheit des einzelnen – des dichtenden Ichs als auch des angesprochenen alter ego – nachhaltig bewußt macht, gleichermaßen aber auch, so in Lírica de cámara (Kammerlyrik) und Operaciones poéticas (Dichterische Operationen), seine unverlierbare Aufhebung im Kosmos der Materie.
Kritiker sprachen von einer Rückkehr des Autors zur Jugendphase, zu jenen Gedichten des Rafael Múgica, die getragen sind von der Faszination in Anbetracht der Urgewalten des Seins und alles Natürlich-Kreatürlichen. Celaya selber bemerkte in einem anderen Zusammenhang: „Mit der Zeit wird mir zunehmend bewußt, wie wichtig für mich der Surrealismus der Franzosen war. Und seltsam, jetzt augenblicks fühle ich mich wieder von ihm gepackt, in einer Folge von Gedichten, die ich unter dem Titel Los espejos transparentes (Die durchsichtigen Spiegel) vereinen werde.“
In der Tat, eines steht fest: Gabriel Celaya, der sensible und fruchtbare Dichter mit seinem in Jahrzehnten gewachsenen vielgestaltigen Werk, das außer etwa fünfzig Lyriktiteln auch noch erzählende Prosa, ein Theaterstück und Essaysammlungen verzeichnet, fühlt sich eingebettet in beinahe mehr als ein halbes Jahrhundert an begeisternder, tief prägender europäischer Dichtung. Auf allen Wegstrecken seiner eigenen Formung hat er Richtung und Maß gebende Tendenzen assimiliert; unverlierbar und reproduzierbar. Dies macht seinen inneren Reichtum aus, seine schöpferische Mannigfaltigkeit und seine dichterische Potenz.
Im Rahmen moderner spanischer Poesie spannt sich sein Bogen von der berühmten „Generation von 1927“ herüber in die unmittelbare Gegenwart, er – Rafael Múgica, Juan de Leceta, Gabriel Celaya – eines der markanten und festen Bindeglieder, und sein Werk ein künstlerisch gefaßtes Zeugnis spanischer Geschichte und Dichtung unserer Zeit.

Andreas Klotsch, Nachwort, Mai 1982

 

Gabriel Celaya,

1911 in Hernani im Baskenland geboren, absolvierte ein Ingenierstudium in Madrid, bevor er unter dem Einfluß der Generation von 1927, vor allem García Lorcas, seine ersten Verse schrieb. Eine betont schlichte Sprache, einfache und poesievolle Bilder kennzeichnen diese 1935 veröffentlichten Gedichte. Der Spanische Bürgerkrieg und der zweite Weltkrieg bringen den Dichter zum Schweigen. Erst 1946 beginnt er wieder zu publizieren, eine Lyrik, die auf der Suche nach eigenen Positionen von stark existentialistischen Grundtönen geprägt ist. Mit seiner bewegt-dramatischen, direkten, aber nie aufdringlichen Dichtung der fünfziger Jahre wird er zum Inbegriff des politisch und sozial engagierten Künstlers in Spanien. Sein Spätwerk verbindet philosophische Gedankentiefe, mit wohlmeinender, zuweilen auch bissiger Ironie. Im spielerischen Umgang mit Formen und Versen entsteht eine humorvolle, nachdenklich stimmende Poesie. Die vorliegende Auswahl bringt als erste deutschsprachige Veröffentlichung Beispiele aus allen Schaffensperioden Gabriel Celayas. Sein Gesamtwerk, das in der für Spanien einmaligen Kontinuität über fünfzig Jahre hinweg im Lande selbst entstanden ist, weist ihn als einen kreativen, lebendigen Dichter aus, der im Rahmen der spanischen Lyrik unserer Zeit ein unverkennbar eigenes Profil besitzt.

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1983

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDb + Internet Archive +
Kalliope

 

Gabriel Celaya: La Poesia es un arma cargada de Futuro gesungen von Paco Ibañez.

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