Gennadij Ajgi: Beginn der Lichtung

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gennadij Ajgi: Beginn der Lichtung

Ajgi-Beginn der Lichtung

TOD

Ohne ihr kopftuch abzulegen stirbt mutter,
und das einzige mal weine ich bei dem kläglichen
aaaaaanblick
ihres selbstgewebten kleides.
Oh, wie still ist der schnee, wie von flügeln
des gestrigen dämons geebnet, oh,
wie hoch sind die schneewehen, als lägen darunter −
berge von heidnischen opfergaben.
Und die schneeflocken tragen und tragen
ununterbrochen zur erde
Die hieroglyphen gottes…

 

 

 

Kurz über mich

Ich bin am 21. August 1934 im Dorf Schajmurshino, Kreis Batyrjew, im Tschuwaschenland geboren. Das Dorf lag inmitten endloser Wälder und zählte zweihundert Gehöfte. Ajgi – der Name unserer Sippe – stammt aus heidnischer Zeit und bedeutet derselbe. Vater hatte die Tschuwaschische Arbeiter-Fakultät beendet und an einer Siebenklassen-Schule Russisch unterrichtet. In seiner Jugend hatte er Gedichte geschrieben, von denen einige in tschuwaschische Lesebücher aufgenommen worden sind. Er mochte Puschkin und übersetzte ihn ins Tschuwaschische. Sein Wesen war gesellig, expansiv, zu Improvisationen und unschuldigen Mystifikationen neigend, kontaktfreudig und unverträglich zugleich, so daß er in einem Dorf nicht länger als zwei, drei Jahre arbeiten konnte. Auf diese Weise lebten wir in verschiedenen tschuwaschischen, tatarischen und mordwinischen Siedlungen; von 1939 bis 1941 in der Karelo-Finnischen Republik. Vater fiel 1942 bei Smolensk. Nach seinem Tode erzählte mir Mutter, in seiner Studentenzeit sei der großartige tschuwaschische Dichter Waślej Mitta Vaters Freund gewesen. Sie bat mich, den Namen dieses Dichters in der Schule nicht zu erwähnen; er war seit langem, des Nationalismus beschuldigt, verhaftet und galt als verschollen. Manchmal, an Sonntagen, ließ man mich auf den Markt, ins Nachbardorf, wo Mitta geboren war. Ich betrachtete das Haus, in dem seinerzeit der Dichter gelebt hatte. Später habe ich erfahren, daß Mitta 1948 aus dem Lager entlassen und in seinem Heimatort als Feldhüter eines Erbsenfeldes eingesetzt war. Ich erinnere mich, wie ich mit meinen Freunden auf diesem Feld Erbsen „klaute“, doch ich erinnere mich nicht, daß uns ein Feldhüter jemals vertrieben hätte. Im Frühling des nächsten Jahres wurde Mitta wieder verhaftet. 1955, in Tscheboksary, begegnete ich „unserem Wašlej“, wie wir ihn alle nannten, auf der Straße. Er erzählte mir von meinem Vater und von dessen Vorliebe für Puschkin. Außer Mitta hatte nur noch Pasternak einen so klaren Eindruck von geistigem Adel auf mich gemacht. Mitta starb 1957 in seinem Dorf. Die Beerdigung, an der eine vieltausendköpfige Volksversammlung teilnahm, war für die Tschuwaschen ohne Beispiel. Seit 1941 lebten wir wieder in unserem Heimatdorf. Etwa dreihundert Dorfbewohner waren aus dem Kriege nicht heimgekehrt. Wenn ich an diese Zeit denke, kann ich nicht umhin, die harte Arbeit der Bauern, die Hungersnot des Jahres 1946, den frühen Tod meiner Mutter und meine Schulfreunde zu erwähnen, von denen viele die Mittelschule nicht beenden konnten. Die wenigen Bücher, die es im Dorf gab, waren bald alle gelesen. Eine der Broschüren, die ich mir bei der Kolchosverwaltung zum Lesen erbeten hatte, weiß ich noch genau: es war eine Anweisung über die Bekämpfung der Speichermilbe. Auch im Kreisstädtchen, dessen Pädagogische Lehranstalt ich besucht hatte, waren Bücher knapp. Bis zum Herbst 1953 (vor meiner Ankunft in Moskau) kannte ich von den russischen Dichtern des XX. Jahrhunderts nur Majakowskij. Geschrieben habe ich seit meiner Kindheit, damals allerdings mehr aus Begeisterung für die Literatur schlechthin als aus Begabung zu etwas Ernstem, das um sprachlichen Ausdruck rang. Vater hatte es gerade noch geschafft, erster Leser meines ersten Werks zu sein. Es war in Karelien, im Herbst 1940. Als ich mit der Mutter eines Tages aus dem Wald kam, wunderte ich mich über einen Baum, der eben zu gilben anfing, während die anderen Bäume bereits kahl waren für den Winter. Mutter sagte etwas über die besondere Widerstandskraft dieses Baumes. Die kurze Erzählung, die ich darüber niedergeschrieben habe, freute Vater sehr. Seine Meinung dazu war für mich wie ein Vermächtnis. Dieser naive Ernst sollte erst viel später wirksam werden. Die folgenden Jahre sind in meinem Gedächtnis deutlich, dramatisch mit dem Bild meiner Mutter verknüpft. Ihr früher Tod fiel in die Zeit, da ich heftigen Angriffen, mündlichen und in der Presse, ausgesetzt war. Mutter war die einzige, die die Gründe voll verstanden hatte, warum ich auf meiner Vorstellung von der Verpflichtung der Kunst beharren mußte. Ihre Haltung im Leben glich der sittlichen Vollendung eines Künstlers. Ernste Einsicht, Vorsicht gegen alles, was vulgär und oberflächlich war, zeichnete sie aus vor allen, die mich in meiner Kindheit umgaben. Mein Großvater mütterlicherseits war der letzte heidnische Priester unseres Dorfes. Dieses Amt war an seine Sippe gebunden. Heidnische Bräuche, die von der Kirche verworfenen und auch die nicht verbotenen, waren Mutter geläufig. Sie und ihre Schwester kannten viele heidnische Gebete und Beschwörungen, die sie mir auf Wunsch vorlasen. Möglich, daß diese Rhythmen, die sie mir eingeprägt hatten, den Anfang meiner späteren Begeisterung für die Rhythmen von Michail Sespelj, dem begabtesten der tschuwaschischen Dichter, bedeuteten. Zu publizieren fing ich im Jahre 1949 an, doch unter den ersten Gedichten aus jener Zeit ließe sich kaum etwas Wertvolles finden. Im Jahre 1953 kam ich an das Moskauer Literarische Institut. Ich hörte die Vorlesungen von W.B. Schklowskij, W.F. Asmus, S.M. Bondi, nahm an den Seminaren von M.A. Swetlow teil. Allerdings, sooft ich an den Beginn meiner ernsthaften geistigen Selbstbesinnung denke, sind mir stets Baudelaires Mon cœur mis à nu und Nietzsches Geburt der Tragödie gegenwärtig. Im Jahre 1956 lernte ich Boris Pasternak kennen; er hatte mir bis zum Tode seine Freundschaft bewahrt. Im Gegensatz zu den häufig geäußerten Meinungen bin ich davon überzeugt, daß Pasternaks Poetik meine Lyrik nicht beeinflußt hatte. Mehr könnte ich vom Einfluß seiner Persönlichkeit, der ungewöhnlich starken, unvergeßlichen, erzählen. Die Struktur meiner Jugendgedichte hatte eher eine Beziehung zum frühen Werk von Majakowskij. Nach Beendigung des Instituts, 1959, bereiste ich Sibirien und den Altai, auch Südrußland. 1962 besuchte ich Dagestan; diese Reise wurde zu einem der wichtigsten Ereignisse meines Lebens. Ich habe dieses Land lieb gewonnen, und es wurde mir zur zweiten Heimat. Seitdem unternahm ich viele Wanderungen kreuz und quer durch das „Land der Berge“; die Größe dessen, was wir „Volkskultur“ nennen – was wir rings um uns kaum mehr wahrnehmen −, finde ich in Dagestan bei jeder Begegnung biblisch-überzeugend, immer noch im Vollbesitz seiner „Urkraft“. Die Kontakte mit meinen dortigen Freunden halfen mir, zum eigenen „Ausgangspunkt“ zurückzufinden. Seit 1961 arbeitete ich einige Jahre im Majakowskij-Museum, wo ich mich unter anderem des zeichnerischen Nachlasses des Dichters angenommen, dessen vollständige Ikonographie zusammengestellt und publiziert habe. Im Jahre 1958 war mein erster Gedichtband auf tschuwaschisch erschienen, zwei Jahre später die Übersetzung des Poems von Alexander Twardowskij Wassil Tjorkin, danach Majakowskijs Wolke in Hosen, Perec Markisch’ Die Tänzerin aus dem Getto, Dantes Sonette, Gedichte von Shelley, Whitman, Lorca, Lyrik ungarischer und bulgarischer Dichter. Im Laufe vieler Jahre waren dichterische Übertragungen aus dem Französischen meine Lieblingsbeschäftigung. Im Jahre 1968 erschien in Tscheboksary, im Tschuwaschischen Staatsverlag, meine Anthologie französischer Poesie mit Gedichten von 77 Dichtern – von Villon bis Yves Bonnefoy. Im Augenblick bereite ich für denselben Verlag eine Anthologie italienischer Poesie vom XIII. bis zum XX. Jahrhundert vor. Die tschuwaschische Sprache wird für mich zusehends zum Feld übersetzerischer Betätigung. Seit 1960 schreibe ich russisch. Erster Schriftsteller, der meine russischen Arbeiten gutgeheißen hat, war Nazim Hikmet, der mir schon früher, zusammen mit Pasternak, geraten hatte, mich auf diese Sprache zu verlegen. Manche behaupten, in meiner Poesie seien Einflüsse von Whitman sichtbar, aber das ist nicht richtig. Am meisten mochte ich stets Baudelaire, wenn auch meine ersten Gedichte unter der Schutzherrschaft von Majakowskij gestanden haben, was ich selbst sehr gut weiß. Verwandtschaften sind häufig etwas Unerwartetes – so hat zum Beispiel niemals Eluard auf mich gewirkt, während ich ziemlich viel dem tschechischen Dichter Jiři Wolker verdanke. Poesie ist für mich – unverändert – eine Art von „sakraler“ Handlung. Als ich den Namen Poesie in meiner Kindheit noch nicht kannte, hatte sie für mich schon damals ebendiese „Funktion“ erfüllt. Später überzeugte ich mich mehr und mehr, daß sie notwendig ist, geistige Kräfte zu mobilisieren und einzusetzen, Seelenverwandtschaften zwischen den Menschen aufzuzeigen und zu fördern. In meiner Syntax kommen deshalb, wahrscheinlich, Elemente aus der „Meta-Poetik“ und „Meta-Grammatik“ vor. (Im Endergebnis erweisen sich gerade sie als eigentliche „Poetik“ und „Grammatik“; es gibt Fälle, wo das „äußerlich Falsche“ im Sinne der „Meta-Form“ richtig ist.) Im Augenblick empfinde ich eine immer stärkere Bindung an die tschuwaschische Volksdichtung. Ich möchte, daß meine Gedichte derart vollkommen wären wie die Werke der tschuwaschischen Poesie, denn darin ist sie eine sehr „literarische“ Poesie. Es beschäftigt mich fortwährend die Problematik des Krieges und des Faschismus. In der europäischen Literatur gab es eine Vorahnung des Faschismus bereits im Surrealismus. Es scheint, die Freudsche Analyse werfe auf diese Frage ein gewisses Licht… Das größte Übel, das gegenwärtig die Kultur bedroht, wäre der Sieg des Funktionalismus. Der Kampf von Chlebnikow, Majakowskij war ein Kampf im Namen der Freiheit des Geistes gegen den Automatismus. Bei den Epigonen der neuesten Kunst dagegen beobachtet man die Mechanisierung, die Kybernetisierung der Kunst. Ein Neuerer muß nicht unbedingt ein Feind der alten Formen sein. Die Fortentwicklung der Mittel ist dann wertvoll, wenn sie der Aussage durch Kunst dient. Ich meine, Lyrik sei eine autonome Erscheinung im geistigen Schaffen des Menschen… Als ich anfing, russisch zu schreiben, fand ich die suprematistischen Ideen und poetologischen Theorien Malewitschs interessant. – „Wesensnah“ waren für mich und für das, was in mir nach Ausdruck verlangte, in den letzten Jahren Menschen, die – wie Kierkegaard es sagen würde – „die Wahrheit bezeugen“. Seit ich Pascal kenne (ich las ihn zum ersten Mal 1957), haben meine „Studien“ im wesentlichen „ein Flußbett“. Alles, was jetzt meine Aufmerksamkeit erregt, ist nur noch eine Bestätigung dessen, was in mir schon „aufgegangen“ ist. In dieser Situation – da das „Begriffene“ und „Bewußtgewordene“ den „Schicksalspreis“ zu fordern anfing – ist mir Kierkegaard wie ein Symbol für etwas „endgültig Wichtiges“. In der Kultur der Gegenwart schätze ich ganz besonders das, was man, und sei es perspektivisch, sehr bedingt, den „geistigen Widerstand“ nennen könnte.

Gennadij Ajgi, Moskau 1962 – November 1970

Zwei Versuche,

Gennadij Ajgi in deutscher Sprache bekannt zu machen 1971–1988. Einführung in die Lyrik des Gennadij Ajgi.

Die Frage, ob es in der Sowjetunion zeitgenössische Dichter – außer Jewtuschenko und Wosnessenskij – und vor allem junge Dichtung gibt, muß heute nicht mehr gestellt werden. Die literarischen Reserven dieses riesigen Landes, in dem hundert verschiedene Volksstämme leben und ebenso viele Sprachen gesprochen werden, sind schier unerschöpflich. Nur sind uns die Erzeugnisse dieser Literaturen genauso fremd wie schon die Namen ihrer Sprachen selbst: Adygeisch, Burjatisch, Chantisch, Darginisch, Ewenkisch, Kumykisch, Lesginisch, Nanaiisch, Tatisch, Uigurisch, um nur einige von den vielen zu nennen. Dabei bezieht sich dieses Hundert nur auf Sprachen, die sich ihre Selbständigkeit bewahrt haben, von denen die meisten unterrichtet werden und ein eigenes, älteres oder jüngeres Schrifttum besitzen. Seit Jahren reizt mich der Plan, auch einen Lyriker aus dem Bereich dieser „kleinen“ Sprachen der Sowjetunion vorzustellen: zu erfahren, was außerhalb der scheinbar monolithischen Mitte, am Rande ihrer Sprache und Grenze existiert, wie es – sofern es Eigenes überliefert oder zeugt denkt und deutet, zu welchen Bildern es hinstrebt. Seit vielen Jahren stand ein Name für mich fest – der des Tschuwaschen Gennadij Ajgi. Seine Gedichte waren die ersten und einprägsamsten, die mich auf Umwegen erreicht haben. Der Lyriker Ajgi beeindruckte mich als Sonderfall eines Andersdenkers, aber in erster Linie und vor allem als Poet. Der andere Grund, den ich nicht leugne, ist sekundär und nur eine Bestärkung der vom ersten ausgelösten Anteilnahme: immer schon waren es die Sprachen und Ausdrucksformen von kleiner Reichweite, und innerhalb dieser gerade „die Erniedrigten und die Beleidigten“, zu denen ich mich besonders hingezogen fühlte. Ajgis Gedichte sind ein Phänomen der äußersten Nonkonformität. Man muß sie als solches zur Kenntnis nehmen. Als schwache, zerbrechliche Flötenstimme innerhalb eines Chorus von Pauken und Trompeten. Als Komplementärfarbe zu einem Einheitsbild. Keine Agitation, kein Ausdruckstanz, keine Bildungsdichtung; aber ein äußerst sublimer und intimer Rechenschaftsprozeß, der von sehr komplizierten Zuständen Zeugnis ablegt, einem „absolut-zwingenden“ Willen gehorchend. Eine Kunst, die etwas autonom Authentisches in den vernachlässigten Bezirken bezweckt, ihre Feststellungen deshalb nicht spekulativ und spektakulär, sondern spontan und spezifisch trifft – um des Menschen und seiner Rechte willen – in einem, seltsam genug, kierkegaardschen Sinne. Ein existenzphilosophischer und dialektisch-theologischer Zwang zu ständiger persönlicher Entscheidung. Gedichte also als „Haltepunkte“ des Geistigen, als „Stufen“ zum immateriell Lebendigen. Die meisten Gedichte betreffen „mein entblößtes Herz“ (wie es im Titel des Baudelaire-Tagebuches heißt, das der stärkste poetische Eindruck in Ajgis Jugend gewesen war). Diese Art der Aussage ist zwar betont subjektiv, trägt aber ebenso stark der Objektivität Rechnung; Wiedergeburt der Empfindsamkeit, die bescheiden gegen einen kritiklosen Kult der Materie und der Masse als sterile Gewohnheit aufbegehrt. Woher kommt diese Lyrik heute, mitten in Moskau, woher kommt Gennadij Ajgi?
Ajgi ist Tschuwasche. Die Tschuwaschen sind Nachkommen des alten Bulgarenvolkes und der alten Suwaren (oder Suwasen), eines der größten Hunnenstämme; in persischen Quellen werden die Suwaren Weiße oder Silberne Hunnen genannt. Vom VI. bis zum XIV Jahrhundert gehörten sie, als Teil der Bulgaren, dem Verband des Wolga-Kamsker Bulgarenstaates an. Im Jahre 1551 wurden sie Rußland angegliedert. Heute zählen die Tschuwaschen 1,5 Millionen und besiedeln hauptsächlich ihre Autonome Republik an der mittleren Wolga. Die materielle und geistige Kultur der Tschuwaschen hat ihre Wurzeln in der bulgarisch-suwarischen Kultur. Die tschuwaschische Sprache, zum westhunnischen Zweig der türkischen Sprache gehörig, entspringt einer sehr alten Formation und hat bis auf den heutigen Tag ihre Besonderheit bewahrt, die den Schluß zuläßt, daß sie in sehr frühen Perioden im Einflußbereich der skythisch-sarmatischen und ugro-finnischen Sprachen gestanden hatte. Bis zum XIII. Jahrhundert hatte sich das Tschuwaschisch einer Hieroglyphenschrift bedient, die nach dem tatarisch-mongolischen Überfall untergegangen ist. Das neue Schrifttum der Tschuwaschen hat spät, erst in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, seinen Anfang genommen. Das Alphabet wurde im Jahre 1871–1872 auf der Grundlage des Russischen und unter Anleitung des tschuwaschischen Aufklärers I.J. Jakowlew (1848–1930) geschaffen.
Mit der Gründung der Simbirischen Tschuwaschischen Zentralschule hatte Jakowlew vor hundert Jahren etwas in der Art einer tschuwaschischen Renaissance eingeleitet, den Grundstein für die neuere tschuwaschische Literatur, Musik, Malerei, Linguistik, Ethnographie und Geschichte gelegt. Aus dieser Schule kam auch die poetische „Plejada“ des Landes mit dem Klassiker K.W. Iwanow an der Spitze. Iwanow (1890–1915) war zugleich erster bedeutender Übersetzer klassischer Dichtung ins Tschuwaschische: er übertrug Goethe, Lermontow, Ogarjew, Nekrassow. Das erste tschuwaschische Gedicht, das in russischer Transkription bekannt geworden ist, stammt aus dem Jahre 1767. Es war die Ode eines unbekannten Dichters an die Kaiserin Katharina II. Außer dieser Ode sind noch ein paar geistliche Lieder aus dem XVIII. Jahrhundert erhalten geblieben. Das erste größere Originalwerk der tschuwaschischen Literatur ist das Erzählgedicht Arsjuri (Waldgeist) von M.F. Fjodorow (1848–1904) aus dem Jahre 1879. Die bekanntesten Tschuwaschen-Dichter dieses Jahrhunderts heißen M. Sespelj (1899–1922), W. Mitta (1908–1957) und P. Chusangai (1907–1970).
Ajgis Bindung an Herkunft und Umwelt, die Quellen seiner Vorstellungskreise und das Brauchtum seiner Heimat, auch Karelien, das Land seiner Kindheit, zu kennen, erleichtert das Verständnis seiner Gedichte. Die häufig mit einer Konjunktion (und, aber, doch) beginnenden und mit einem Doppelpunkt oder Gedankenstrich endenden (besser unvollendeten) Zeilen, ihre Staccati, Verzögerungen, Abschweifungen, Übergriffe, Richtungswechsel und Pausen, diese ganze „semantische Polyphonie“ Ajgis, könnten als prätentiöser Anspruch auf Exklusivität mißverstanden werden, sind es aber nicht. Ajgis Denken bewegt sich am Rande der Kommunität nicht aus Laune, sondern aus Zwang. Und weil sein scharfer Blick nach Zeichen – Hieroglyphen − der Ewigkeit Ausschau hält, wo ihm Vergänglichkeiten den Blick verstellen, ist dieser Duktus so biblisch, magisch und nicht anders. Dieser Lyrik kommt es auf das Artikulieren des Unterbrochenen, Gestörten, Verhinderten an. Begriffe und Dinge sind in einer so gearteten Phantasie und in einem so schwebenden Bewußtsein niemals scharf abgegrenzt, „ausgemacht“, „dingfest“, sondern unbegrenzt und dunkel. Die Bilder aus den Kindheitserinnerungen – Zweig, Kragen, Flosse, Schlitten, Rücken, Hals – gleichen Zauberwörtern. Nichts will hier „allgemein“, noch weniger „gültig“ sein, nichts plakativ, nichts kanonisierend darstellen, sondern impulsiv zeugen. Was man in Verbindung mit Ajgis schwierigen Gedichten sagen müßte, ist so einfach, daß man das Einfache wiederum in Anführungsstriche zu setzen hätte, um es nicht zu banalisieren. Oft, vor allem in den späteren Gedichten, wird das Thema der ersten, der apriorischen Idee der Dinge aufgenommen. Ajgi meint, daß jedes Ding, jede Erscheinung zuerst als Idee, in der Idee gegeben, vorgegeben ist, bevor es sich als Ding offenbart oder realisiert. So sind ihm also die Dinge selbst sekundär, Zwillingswesen, Doppelgänger in bezug auf „ihre Idee“. Ein intuitiv vom Lyriker wahrgenommenes Phänomen, das auch in Platos Ideen enthalten ist. Seine „unsere“ Felder (Feld = Freiheit) sind für ihn also ein Doppelgänger-Wesen, ein Ähnliches, aber Anderes, ein ähnlich Genanntes, Aussehendes, Gegebenes, aber anders Geratenes, Wirkendes, Seiendes. Etwas, das mit der Feld-Idee nicht identisch ist. Feld, Felder – ein Zentralbild fast aller Gedichtzyklen Ajgis („Feld-Geist“, „Feld-Seele“) – hat seinen Ursprung in den tschuwaschischen Gebettexten, in denen das Feld das Urwort der geistigen Freiheit ist. („Ein Kindheitserlebnis von sehr starkem Eindruck: ich wurde einmal um Mitternacht wach und sah meine Mutter – die kurz davor in einem Zwischenfall verleumdet worden war – Beschwörungen aufsagen, in denen sie auf ihr reines Feld schwor. Zuletzt war meine Mutter orthodox gläubig.“) Das Bild des Feldes erfährt bei Ajgi mit den Jahren mehrere Metamorphosen infolge weniger „abstrakter“ als „realer“ Erlebnisse. Demzufolge – diesem neuen Feld-Gefühl zufolge – sei vieles, Wesentliches, Wichtiges bereits „in der Idee selbst“ zum Untergang verurteilt. In einigen Gedichten sind die bei Ajgi sehr intensiven karelischen Kindheitserinnerungen nachgezeichnet. („Vorläufig“, „Garten im Dezember“, „Morgen in der Kindheit“, „Ohne Titel“) Mehrere Gedichte sind Ajgis Freunden gewidmet oder mit ihnen verbunden: K. und T. Erastow; seinem alten Freund und (unter den Zeitgenossen) Lieblingsmaler W. Jakowlew (geb. 1934), dem berühmten Altisten F. Drushinin; dem Komponisten A. Wolkonskij (geb. 1932), den Ajgi (nach Prokofjew und Schostakowitsch) für den bedeutendsten hält; O.W. Iwanskaja, Pasternaks Lebensgefährtin, und anderen. Zu Pasternak und den Erinnerungen an ihn kehrt er oft zurück: in den Gedichten „Morgen in Peredelkino“, „Nacht des ersten Schnees“, „Vorahnung des Requiems“.
Ein paar Wurzeln seiner poetologischen Herkunft hat Ajgi in den autobiographischen Aufzeichnungen selbst aufgedeckt: Majakowskij, Chlebnikow, Nietzsche, Baudelaire, Wolker, die tschuwaschische Volksdichtung. Am interessantesten (weil aufschlußreich) ist eine häufige Hinwendung zu den Gedankengängen und zur Malerei des Suprematisten Kasimir Malewitsch. Im Amsterdamer Stedelijk-Museum habe ich die größte mir zugängliche Sammlung von Bildern dieses Malers betrachtet, um eine Beziehung zu den Auffassungen Ajgis zu entdecken. Malewitsch stellte die gegenständliche, zersplitterte, praktisch-wissenschaftliche Welt der ungegenständlichen, Übergeordneten (suprematistischen) Welt des Künstlers gegenüber. Er war davon überzeugt, daß „der praktische Fortschritt zur Vernichtung der gegenständlichen Welt“ führe. Man darf, nach Malewitsch, „von der Zukunft keine praktische Vollkommenheit erwarten, weil die Natur, die unser Bewußtsein lenkt, nicht praktisch ist, und alle praktischwissenschaftlichen Errungenschaften nur Scheinerrungenschaften sind. Die Zukunft beweist immer die Unzulänglichkeit dessen, was gestern noch zukünftig“ und zuversichtlich war. In seinem 25. Satz legt Malewitsch die Überzeugung von der Fragwürdigkeit des auf Grundsätzen des praktischen, gegenständlichen Realismus aufgebauten Lebens dar, das er mit einem Irrenhaus vergleicht, in dem allerdings die Gesunden von den Irren regiert werden. „Irre haben die Macht an sich gerissen und veranstalten ein organisiertes, wissenschaftlich fundiertes Gemetzel.“ Das, was wir heute Leben nennen, seien nur zweckdienliche Handlungen. Im Zusammenhang damit sprach Malewitsch des öfteren von der „Futtertrog-Ideologie“ und von ihrem „animalischen Nutzen“. Der Mensch schaffe sich zwar Ideale, aber er erreiche Ideales nur in der Gegenstandslosigkeit. Eine Alternative sei also die suprematistische Kunst – als Kunst der reinen, unverfälschten Erkenntnis.
So betrachtet erfahren zwei bei Ajgi mehrmals auftretende Metaphern – Hieroglyphen und Gott – eine eigene Bedeutung. Hieroglyphen hatte das Volk der Tschuwaschen länger als andere als Verständigungszeichen benutzt. Inzwischen sind diese mit einem zusätzlichen Inhalt belastet, wie er bei Ernst Ludwig Kirchner als Begriff in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts vorkommt: als eine „aus der Beobachtung der Realität gewonnene Entsprechung, die äußere Gestalt und inneren Charakter als Formel verbindet“. So – mit Kirchner belegt, bebildert – sind wohl Ajgis Hieroglyphen Gottes zu verstehen. „Ich glaube, daß man in der Kunst, ohne Priester nötig zu haben, zu Gott kommt“ (E.L. Kirchner). Oder: alle Kunst, als sinnliches Erscheinen des Nichtsinnlichen, wird von der Metaphysik bestimmt. Religion als Begrenzung der sinnlosen End- und Ziellosigkeit durch den Begriff Gott – als Ausdruck der Sehnsucht nach dem Vollendeten, dem Absoluten. Und das trotz – oder gerade wegen – der eigenen Erfahrung mit der „Gottlosigkeit“ und der „Diesseitigkeit“ von Ajgis „hier“. Sicher auch im Sinne von Karl Jaspers’ Diskurs über die Sprache: „Die Befestigung der Bedeutung in der Sprache verlangt die sinnliche Grundlage des Lautbildes, des Schriftbildes … Diese sinnliche Grundlage ist im Laut, im musikalischen Klang, in der Lautgestalt und der Satzmelodie, im Schriftbild … In dem Maße, als die Sinnesgestalten endlich, Übersehbar, fest und machbar werden, haben sie Zeichencharakter…“ Interessant, daß Ajgi nicht der einzige ist, der auf diese Vorzeichen zurückgreift. Vor nicht allzu langer Zeit ist uns ähnlich überraschend die Lyrik eines anderen sowjetischen Dichters, Jossif Brodskij aus Leningrad, heute in den USA, bekannt geworden, der an die „metaphysical poetry“ des englischen Dichters John Donne (1572-1631) anknüpft und wie der Engländer damals auch heute wieder geistliche Lieder von der Unsicherheit des Irdischen dichtet. Pathos und Alltagssprache, Sinnliches und Geistiges werden religiös empfunden und fügen sich zu – „conceit“-Bildern, zu Hieroglyphen Gottes. Bei Brodskij ist das Geistige primär im Dinglichen zu Hause, bei Ajgi findet es seine Erfüllung im Über-Dinglichen.
Das Ziel von Malewitschs architektonischen Experimenten war die Aufhebung der Schwere, die Schwerelosigkeit. Dasselbe ist das Ziel von Ajgis lyrischen Experimenten. Lautbildungen eines verwunderten und verwundeten Naturwesens wollen aus dem rationalen (materiellen) Dickicht ausbrechen und eine verlorengegangene Dimension im Irrationalen (Metaphysischen) zurückgewinnen. Bei Ajgi begegnen wir dem gleichen „archaischen, meditativen und fast mystischen Klang“ wie bei Malewitsch. Beide haben eine ernste, fast priesterliche Einstellung zu ihrer Kunst, die sich als Pflicht zur absoluten Form versteht. Ihre Reflexe und Reflexionen sind transzendent, sind „konen“ eines Bewußtseinszustandes, der Zwischenzeichen ist, wie ein Uhrzeiger in der Bewegung – zwischen den Sekunden. Malewitsch wollte alles zu einem „farbigen Glühen“ bringen, Ajgi zu einem „sprachlichen Glühen“. Malewitschs Malerei ist ikonographisch, Ajgis Lyrik liturgisch. Malewitschs Grundsymbol ist das Quadrat, Ajgis Hauptfigur das Kreuz. Es weist in alle vier Himmelsrichtungen und bedeutet mit den vier ausgestreckten Armen eine leise Hoffnung auf Harmonie. Die suprematistische Kunst ist wahrscheinlich ein Ausdruck für das russische, seit Dostojewskij dem westlichen Bewußtsein klargewordene „Mißtrauen gegen die Kraft des Verstandes“ (Gorkij in einem Essay über Blok), für die Verachtung logischer Deduktionen. Der Unmut gegen die Ratio hat eine Hinwendung zur Ir-Ratio zur Folge, die Befreiung aus dem Rituellen führt zwangsläufig zum Spirituellen. Während Malewitschs kubo-futuristische Bilder den Zerfall der Gegenstände zeigen, zeigen Ajgis Psychogramme die Risse im Einheitsdenken, Einheitsglauben und Einheitshoffen. Sie können a-Iogisch anmuten – sie sind aber analogisch; sie könnten a-typisch sein – sie sind aber archetypisch; sie können a-topisch wirken – sie sind aber utopisch.
Eine zur Ausnahme verdammte und doch symptomatische Existenz berichtet von den kaum artikulierten Erfahrungen, von dem, „was im schatten ist“ (Hier), was „hier“ – immer wieder hier – hier – hier – „verstummend die wirklichkeit verlegen“ macht. Seelisches sehen lassen. Räume; doppelt gesichtete, wie gespiegelt, als Doppelgänger erkannte, andere und doch gleiche; Raum-Überwindungen; Fluchtwege aus Schneeverwehungen, aus Wäldern, Umzäunungen − wörtlich und metaphorisch – und die kleinen Lichtungen der Verstecke; Loblieder auf bewährte Freundschaften, Klagen über Begräbnisse von Dichtern und Mädchen, die verblühten, ehe sie erblüht waren; Stimmen aus dem Unterholz, Unterstimmen, hervorgekehrte Hintergründe sprechen lassen. Solange etwas farblos ist, ist es ein Nichts, solange etwas sprachlos ist, ist es ein Nichts. Malewitschs Bilder sind ein Ausbruch zum A-Realistischen und A-Perspektivischen, Ajgis Gedichte zum A-Priorischen und A-Syntaktischen. Wie sehen Ajgi seine Kollegen, seine Lehrer?
Darüber kenne ich zwei positive Veröffentlichungen. (Die negativen, die ich kenne, stammen von Funktionären, nicht von Sachkennern.) Die Lyrikerin Bella Achmadulina erinnerte sich am 10. März 1964 im Allunions-Funk an das gemeinsame Studium mit Ajgi am Literarischen Institut, an ihre Begegnungen mit dem tschuwaschischen Lyriker auf dem Twerskij-Boulevard und in Peredelkino. „Ich erinnere mich, lang ist es her, wie wir uns einmal im langen, leeren Korridor des Instituts bei abendlicher Dämmerung begegnet waren; ich stellte fest, daß er nicht groß von Gestalt war, und daß es in seinem bescheidenen, stillen Gesicht so etwas wie einen zweiten, tiefen Ausdruck gab, den einer leidenschaftlichen Konzentration und einer guten Trauer. Möglich, daß seine bohrend schwarzen, unverwandt und hartnäckig blickenden Pupillen den einfachen Zügen Mehrdeutigkeit verliehen (…) Er erzählte mir von seinem Dorf, wie groß sein Heimweh nach ihm sei, wie kräftige Farben dort alles habe: der Himmel, die Beeren, die Augen der Pferde, alles in ein wunderschönes Blau getaucht. (…) Von seinen Gedichten hatte ich zuerst von Michail Arkadjewitsch Swetlow gehört, von dem wir zwar manches Gute, aber selten ein Lob erfahren haben. Den Jüngling im Schlittschuhläuferanzug hatte er uneingeschränkt gelobt. Später hatte ich diese Gedichte gehört, gelesen, sie ins Russische zu übersetzen versucht. Sie konnten kompliziert scheinen, etwas geschraubt, aber ich meine, daß sie es nicht aus Vorsatz waren, sondern aus authentischer und ernster Kompliziertheit, die dieser naiv-eindringliche junge Mann, der seinen Blick, sein Gehör, seine Hände leidenschaftlich dem Leben hinstreckte, in der Welt und in sich selbst wahrnahm. Er sieht die Umwelt unverwandt an, und es gibt keine Kleinigkeit, die ihm nicht bedeutsam schiene, die ihn nicht nachdenklich stimmte. Im Alltäglichen und Gewohnten ahnt er Erhabenheit und Schönheit und macht daraus Gegenstände der Kunst. Er läßt sich von vielen Wunderdingen überraschen: von den Eisenbahnzügen, von einer flackernden Laterne, vom weißen Archipel des Gartens, vom seltsamen Oval eines Gesichts … Er – ist ein Dichter. Das ist es“. Ajgis Lehrer am Literarischen Institut in Moskau, Michail Swetlow, hatte in der Literaturnaja Gaseta am 26. September 1961 über seinen Schüler geschrieben: „Die Jugend eines Poeten ist – wie noch geschlossene Fensterläden, durch die sich das Sonnenlicht seine Bahn bricht. In meinem Seminar am Literarischen Institut war ich davon überzeugt, daß Gennadij Ajgi eine sich bahnbrechende Sonne ist. Es geht nicht darum, ob einem jungen Dichter der Jambus, der Choräus oder ein anderes beliebiges Metrum geläufig sind. Ich traue mir zu, jedem mehr oder weniger gebildeten Menschen diese Versmaße in kürzester Zeit und für wenig Geld beizubringen. Für mich war es wichtig, daß er, nach Überwindung des Wirrwarrs seiner frühen Jugend, in der sowjetischen Poesie zum Ereignis würde. Mit Gennadij zu arbeiten war nicht einfach. Im Scherz nannte ich ihn den sowjetischen Baudelaire, was praktisch ein Unding ist. Er konnte beispielsweise keinen gewöhnlichen Hund zeigen. Er mußte ihn unbedingt in einen Ichthyosaurus verwandeln, allein deshalb, damit sein Hund nicht wie die anderen Artgenossen belle. Für einige Jahre hatte ich meinen Schüler aus den Augen verloren. Ich hörte, daß er viel schreibt, überhaupt viel arbeitet. Jetzt habe ich die neuen Gedichte Gennadijs gelesen. Er verdient Dank, daß er meine Hoffnung gerechtfertigt hat. Obwohl das zu erwarten war. (…) Als ich Gennadij begegnet bin, konnte er nur schwach Russisch, und jetzt liest er sogar Louis Aragon im Original. Und wie es jetzt um sein Poesie-Russisch bestellt ist, werden Sie hier selbst festellen. (…) Lesen Sie diese wenigen Gedichte. Das ist klug, begabt und ungewöhnlich frisch. Und das Wichtigste, es ist – menschlich.“ Im Kulturni život (Nr. 48, S. 4 ) besprach Dušan Slobodnik die tschechischen Übersetzungen Ajgis von 1967 und fand: „Während den größten Teil in den Werken sowjetischer Dichter in jüngster Vergangenheit Deklarationen und allzu gradlinige, vereinfachende Beziehungen zur Wirklichkeit und, vor allem, zum Leser kennzeichnen, ist G. Ajgi, ein junger Tschuwasche, der russisch schreibt, einer von denen, die der sowjetischen Poesie ihre Vielfalt, ihre Polyphonie wiedergeben.“

Karl Dedecius, Nachwort, Frankfurt am Main, Dezember 1970

„Felder – Wälder – Schnee“

– Sechs Notizen am Rande der Gedichte des Tschuwaschen Gennadij Ajgi. –

Die letzte Nachricht über den Lyriker Gennadij Ajgi kam zu mir aus Köln von Wolfgang Kasack, dem jener im Mai 1987 aus Moskau geschrieben hatte: „(…) Für mich bleiben die Türen hier nach wie vor verschlossen (…) Freunde haben einiges versucht (…) Die Ablehnungen folgten (im März-April) eine nach der anderen – von Novyj mir, Oktjabr’, Druzba narodov; die Antwort war stets die gleiche: ,Das ist nicht in unserem Geiste‘ (was durchaus wahr ist). Kurz: alle diese ,neuen Tendenzen‘ gehen an mir vorüber (…) Alle guten Nachrichten, wie früher schon, sind die ,europäischen‘. In diesen Tagen bekam ich die niederländische Ausgabe (Geoormerkte winter, Meulenhoff-Amsterdam) (…)“ Also waren „glasnost’“ und „perestrojka“, die von Gorbačev beabsichtigte und versprochene „Öffentlichkeit“ und „Umgestaltung“, in den ersten Monaten des Jahres 1987 noch nicht bis in die Redaktionsstuben der führenden literarischen Zeitschriften und Verlage vor- oder durchgedrungen; sie waren jedenfalls noch nicht so ernst genommen, daß sie Lyrikern wie Ajgi, seit drei Jahrzehnten (außer in tschuwaschischer Sprache) fast nicht gedruckt, verschwiegen, zur Offenheit und zur Öffentlichkeit verhelfen konnten. Ajgis „Dunkel“ und „Mystik“ kamen zwar unbestritten aus der realen, gegenwärtigen Sprache und Vorstellungswelt eines der vielen Sowjetvölker, stießen aber aus Gründen des „Geistes“ auf beharrliche Ablehnung. Diese Nachricht aus Köln und Moskau veranlaßte mich, in meinem Gedächtnis und in meinen Notizen nachzukramen, mich an Ajgi und sein „deutsches Schicksal“ zu erinnern. Denn, wie es scheint, ist Kasacks Ausgabe der Gedichte von Ajgi bis heute immer noch die einzige, und immer noch zu wenig beachtet. Wer ist dieser Gennadij Ajgi, der so viel Schweigen um sich versammelt? Ich blättere in meinem Dossier und finde dort in der Krakauer Wochenschrift Tygodnik Powszechny einen Beitrag von Zbigniew Podgórzec, worin Ajgi zu den „hervorragendsten Dichtern der Gegenwart des russischen Sprachbereichs“ gezählt wird. Und in diesem Zusammenhang erwähnt der polnische Kritiker Wolfgang Kasacks wissenschaftliche Edition von Ajgis Gedichten in russischer Sprache, die er behutsam „die erste im Westen“ nennt, während es in Wirklichkeit die erste Buchausgabe der Originalgedichte in der Welt überhaupt ist, West und Ost, auch die Sowjetunion selbst, inbegriffen. Die polnische Rezension schließt mit der Feststellung: „Kasacks Ausgabe ist ein bedeutender Beitrag zur Völkerfreundschaft und ein Beweis mehr dafür, daß wahre Schönheit weder Sprachbarrieren noch Staatsgrenzen kennt.“ Ich setze bei diesem polnischen Beitrag an, weil er, meines Wissens, die erste – wenn auch kurze, so doch richtige – Reaktion im slavischen Sprachraum auf den 1975 im Verlag Otto Sagner in München in Kommission erschienenen Band Gennadij Ajgi, Stichi 1954-1971. Redakcija i vstupitel’ – naja stat’ja V Kazaka. (Arbeiten und Texte zur Slavistik. 7.) darstellt. Die Edition, vom Verein der Freunde und Förderer der Universität zu Köln mitfinanziert, ist ebenso mutig wie würdig und verdienstvoll zugleich, darüber besteht kein Zweifel.

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Einige Auskunft von Ajgi und über Ajgi enthalten eine erste deutsche Bekanntmachung in der Zeitschrift Akzente Nr. 4/1968 und die deutsche Buchauswahl seiner Gedichte von 1971. Das Biographische sei kurz wiederholt: Gennadij (tschuwaschisch Hunnadi, „Sohn der Hunnen“) Ajgi (tschuwaschisch „Derselbe“) ist am 21. August 1934 im Dorf Šajmuržino, Kreis Batyrev, an der mittleren Wolga als einer der 1,5 Millionen Bürger der Autonomen Tschuwaschenrepublik geboren. Zu publizieren fing Ajgi im Jahre 1949 an. Dank seiner Begabung kam er 1953 an das Moskauer Literarische Institut, wo er Vorlesungen von Šklovskij (Literaturtheorie), Asmus (Logik), Bondi (Geschichte der russischen Literatur) hörte und an den Seminaren von Svetlov teilnahm. Sein Gedichtmanuskript wurde als Diplomarbeit vom Wissenschaftlichen Rat des Instituts verworfen, worauf sein ihn hoch schätzender Lehrer, der Dichter Michail Svetlov, ostentativ das Institut verließ. „Diplom-Dichter“ wurde Ajgi dann mit einer Übersetzung von Aleksandr Tvardovskijs Erzählgedicht „Vasilij Terkin“. 1956 lernte Ajgi Pasternak kennen, der ihm moralisches Vorbild wurde und bis zum Tode Freundschaft bewahrte. 1958 erschien Ajgis erster Gedichtband auf Tschuwaschisch. Nach Absolvierung des Instituts bereiste Ajgi 1959 Sibirien und den Altai, Südrußland und 1962 Dagestan. Seit 1960 schreibt Ajgi russisch, darf allerdings seine Gedichte in Rußland nicht publizieren. Er verlor auch, vorübergehend im Majakovskij-Museum beschäftigt, seinen Arbeitsplatz und lebt nun seit Jahren schon mehr schlecht als recht von Übersetzungen französischer, polnischer und italienischer Lyrik ins Tschuwaschische. Seine Anthologie französischer Lyrik Die Dichter Frankreichs (vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, Gedichte von 77 Dichtern von Villon bis Bonnefoy), Ende 1968 im Tschuwaschischen Staatsverlag erschienen, fand ein breites, gutes bis begeistertes Echo sowohl in der sowjetischen als auch in der französischen Presse. Namhafte Poeten, Institute (Unesco, Sorbonne, die Französische Nationalbibliothek, Roger Caillois, René Char, Pierre Emmanuel u.v.a.m.) lobten Ajgis ungewöhnliche übersetzerische und herausgeberische Leistung. Le Monde nannte sie pathetisch „ein glückliches Wunder“, und die Académie Française zeichnete sie mit einem Preis aus. Nichtsdestoweniger blieben Ajgis eigene Gedichte, von seinen Lehrern (Svetlov) und Kollegen (Achmadulina) mit höchstem Lob bedacht, im Lande unbekannt, weil aus Gründen des „common sense“ – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ungedruckt. Erst das Ausland (Polen, Tschechoslowakei, Bundesrepublik Deutschland, Ungarn, Jugoslawien, Frankreich, Südamerika) nahm sich des jungen Lyrikers an und sorgte für eine teilnahmsvolle, wenn auch nur geringe Resonanz.

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Um an die Quelle zu kommen, muß man gegen den Strom schwimmen.
St. J. Lec

Die meisten Übersetzer, Förderer und Freunde hat Ajgi in Polen gefunden: E. Balcerzan, M. Grześczak, A. Międzyrzecki, S. Pollak, J.M. Rymkiewicz, B. Sadowska, A. Słucki, J. Waczków, W. Woroszylski. Lyriker verschiedener Couleur, scheinbar entgegengesetzter Auffassung, zeigten sich fasziniert von seiner „Magie“ und übersetzten und kommentierten ihn für ihre Zeitschriften und Anthologien: in Breslau, Krakau, Posen oder Warschau. Der Posener Polonist, Linguist und Lyriker Edward Balcerzan würdigte Ajgis Gedichte als originäre Ereignisse innerhalb der heutigen Poesie. Er spürte in dieser Lyrik mehrere „unterschiedliche Versuchsreihen sprachlicher Operation“ auf, die sich sowohl treffend ergänzen als auch gegenläufig, sich überschneidend, merkwürdige Satzformationen bilden. Ganz besonders augenfällig schienen ihm „vier Stile, vier Poesien, vier Weltbetrachtungsweisen“ hier zusammenzuwirken: die erste in der Wörtlichkeit, mit der Substantive und Verben, sich selbst bedeutend – und sonst nichts −, neu-alte Bindungen eingehen; die zweite besonders dann deutlich, wenn sich in der dargestellten Welt plötzlich ungewöhnliche Dinge ereignen, wenn durch syntaktische Urwüchsigkeit die Gleichnisse magische Kraft auszustrahlen beginnen; weiter- drittens − wenn das Wort-Spiel, die Wort-Wahl, die Wort-Erfindung bis auf den Ursprung des Sprechens zurückgreift („ooj“, „Aa“, „u“) und Elementares oder Naives zu geradezu mythischen Figuren erhebt. Im vierten Glied schließlich kommt ein Ereignis zustande, das als Folge dieses Wort-Spiels oder vielmehr Wörtlichkeitsspiels, kindlich verspielt, aber auch ungewöhnlich reif, erfahren, ein Drittes schafft: die aus dem Bedeutenden und Bedeuteten gewonnene Über- oder Meta-Deutung. Die eigene und eigentliche dichterische Qualität. Oder anders: Das metaphorische Befinden wird zum Befund:

und dort auf dem hügel im wind hinter dem weiten herz des goldenen regens spielt die tanne ohne die tanne das „ju“ ohne das „ju“

Ajgis Dichtung ist aufgewachsen im Grenzland einiger Kulturen, mehrerer Sprachen, verschiedener Symbole. An seiner Poeten-Wiege standen Pate die Tschuwaschen V. Mitta und M. Sespel’, die Russen V. Majakovskij, V. Chlebnikov, B. Pasternak, die – nur scheinbar – ferneren Franzosen Ch. Baudelaire, J.A. Rimbaud, G. Apollinaire, der Deutsche R.M. Rilke (der ihm von Anfang an aus Übersetzungen vertraut war) und der Grenzlanddichter P. Celan (den er nicht kannte). Aus diesem Grenzland der Poesie fließt Ajgi Unbegrenztes zu, sowohl in der Wahrnehmung des Lebens, der Landschaft, als auch in der Art, sie zu deuten. Seinen Versen wohnt eine Universalität des Raumgefühls inne, wie wir sie aus den frühesten Naturgesängen und aus der Bibel kennen – so sehr sie auch dem „Hier“, dem Heimischen, dem Heimatlichen verbunden sein mögen. Damit wahrscheinlich wäre das vielfache Interesse so divergierender Lyriker – wie der oben genannten Polen – an Ajgis Poesie zu begründen. Am sachkundigsten, wohl auch intimsten, da er mit Ajgi in Moskau 1956 einige Zeit am gleichen Institut als „Aspirant“ studiert hatte und in Gesprächen ihm nähergekommen war, drang in Polen in die Lyrik des Tschuwaschen der Russist, Poet und Erzähler Wiktor Woroszylski vor, und zwar sowohl als Übersetzer wie auch als Rezensent. In seinem Beitrag finden sich interessante Details zum Verständnis von Ajgis Metaphorik, so zum Beispiel die Deutung des in verschiedenen Gedichten, Zusammenhängen und Funktionen ins Bild gebrachten Schnees. Woroszylski erschließt dieses Schneebild, Schneefeld, Schneetreiben nicht nur im multivalenten Kontext der Zyklen oder in Verbindung mit der ethnisch-magischen Tradition der Tschuwaschen; auch im Hinblick auf die archetypischen Elemente des russischen Symbolismus eines V. Solov’ev, eines V. Gofman oder eines A. Belyj – wo der Schnee das Chaos des Seins versinnbildlicht, die gegen die göttliche Harmonie rebellierende Seele bedeutet oder später – bei A. Blok – das blinde Schneetreiben der revolutionären Destruktion anschaulich macht. (Auf die Metapher „Feld“ – als den tschuwaschischen Bildbegriff für „Freiheit“, die zu meinen sei – habe ich bereits in der Einführung hingewiesen.) Woroszylski nennt seine Begegnung mit Ajgi ein „poetisches Abenteuer, halsbrecherisch, kompliziert, aber zauberhaft“, und den Dichter selbst eine „intensive, reiche, schöne Gestalt … einen heroischen Künstler und ungewöhnlichen Menschen“. Das von Woroszylski übersetzte und am 8. September 1962 in der Warschauer Polityka veröffentlichte Gedicht „Schnee“ (1959) ist, soweit mir bekannt, Ajgis allererste Publikation in einer fremden Sprache.

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Die Subjektivität ist die Wahrheit.
S. Kierkegaard

Seit einigen Jahren lese ich mit Vorliebe, fast ausschließlich, Kierkegaard.
G. Ajgi

An der Quelle der Existenzphilosophie, bei einem Sonderling und Einzelgänger, der zu Lebzeiten kaum ernst genommen wurde, findet Ajgi Halt. Kierkegaard wird ihm „ungewöhnlich teuer“ und zum Symbol für etwas „Endgültig-Wichtiges“. Der Umgang mit seinen Gedanken stärkt seine Beständigkeit in der Abwehr alles „Oberflächlichen“, „Vulgären“. Dort findet er sein Gleichgewicht: zwischen der Bodenständigkeit – eines Nomaden freilich – und der „Jenseitigkeit“ des „hier“ gefährdeten, den Fluchtpunkt suchenden und diesen in metaphysischen Reflexionen findenden Außenseiters. Die Existenzphilosophie wird Ajgi zu einem seiner hauptsächlichen Aufenthalts-„Orte“; bei Kierkegaard aufgespürt und in Richung Jaspers und Marcel (nicht Heidegger und Sartre) weitergedacht. Nicht Sartres Atheismus ist es, sondern Jaspers’ offener Ausblick auf eine jenseitige Wirklichkeit, die Ajgi als sein „reines Feld“ wiedererkennt. Jenseits des Todes, dessen Schrecken, Tragik oder auch nur Melancholie in seinen Gedichten anwesend sind. Und sei dieses Jenseits nur das des Fortlebens im Gedanken, im Bild, in der Kunst, die hilft, an der Wehrlosigkeit gegen den Tod nicht zu scheitern. Ein christlicher Existentialismus also, der die Spannweite zwischen Rublev und Oktoberrevolution zu verkraften hilft, der die unwegbare Strecke von der heidnischen Beschwörung bis zum Selbst-losen Kollektivbewußtsein leichter zu durchmessen erlaubt. Auf dieser Strecke begegnen wir Ajgis „Hieroglyphen“, ganz im Einvernehmen mit Jaspers’ „Chiffern“: „Tatsachen sind allgemeingültig für alle. Chiffern sind schwebend für eine geschichtliche Existenz und sprechen allein zu ihr. Tatsachen werden erforscht, Chiffern durch Phantasie und Spekulation entfaltet. Tatsachen sind unerschütterlich, Chiffern erhellen den Weg der Freiheit.“ Kierkegaard ist für Ajgi in mehrfacher Hinsicht „wichtig“. Wichtig als Begründer des Rechts auf Subjektivität und der Überzeugung, die Wahrheit könne nicht objektiviert werden, sie werde sonst in Unwahrheit verfälscht. Wichtig als der Verfechter des ethischen Begriffs der „Wahl“ seiner selbst und der Verantwortlichkeit dieses Selbst, der Selbstverantwortlichkeit – im Gegensatz zur Kollektivverantwortung. Und wichtig schließlich als Präger des Begriffs vom „Wahrheitszeugen“, der bei ihm eins ist mit dem Begriff des „Märtyrers“. Ajgi findet Stärke in Kierkegaards Einstellung zum „Einzelnen“ als einer sittlich-religiösen Grundkategorie, die der Philosoph für eine seiner wichtigsten Entdeckungen hielt. In dem „Einzelnen“ sah Kierkegaard nämlich die einzige Möglichkeit, den nivellierenden und zerstörenden Tendenzen des Massenzeitalters entgegenzuwirken. Kierkegaards Kritik richtet sich gegen die Irreführung des Menschen, er wäre seiner Gewissensentscheidung enthoben, sobald er als Glied einer Mehrheit denkt und handelt. Ajgi konnten Passagen wie die über das „Scheinchristentum“ und die „Unschuld der Unwissenheit“, die sokratische, die im „echten Heidentum“ steckte, nicht gleichgültig bleiben. „Ein Heide wie Sokrates, der die Scheinhaftigkeit aller natürlich-menschlichen Idealität durchschaut und sie ironisch in Frage stellt, steht hoch über dem in natürlicher Unmittelbarkeit dahinlebenden Namenchristen und befindet sich ethisch-religiös unmittelbar vor der Schwelle der Wiedergeburt.“ Und dann die Kierkegaardsche Diagnose, unsere Infektion mit der „Krankheit zum Tod“: sie drückt sich im „Begriff Angst“ aus, den Ajgi treffend, weil ihn selbst betreffend, erlebt, als Dichter wie als Bürger. „Poesie ist für mich – unverändert – eine Art sakraler Handlung.“ Ohne diese Handlung wären für ihn Angst, Einsamkeit und Schweigen nicht zu ertragen.

Ajgi: laßt mich in eurer mitte sein wie eine staubige münze zwischen raschelndes papiergeld verschlagen in der glatten seidenen tasche;

Kierkegaard: O die Zeit des Schweigens, wenn ein Mensch einsam und verlassen deine Stimme nicht hört da ist es ihm, als sollte die Trennung für immer sein. … laß ihn nie vergessen, daß du auch dann noch redest, wenn du schweigst; schenke ihm diesen Trost, wenn er auf dich baut…

Ich weiß nicht, ob Ajgi über Camus und Kafka, die er beide zu seinen wichtigsten Leseerfahrungen zählt, zu Kierkegaard gekommen ist. Jedenfalls sieht er sich bei den beiden in seinem Verhältnis zu dem dänischen Philosophen bestätigt. Camus nannte Kierkegaard einen „Don Juan der Erkenntnis“, und Kafka fand dessen „Fall trotz wesentlicher Unterschiede“ dem seinen „sehr ähnlich“. „Zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie ein Freund.“ (Tagebuch-Eintragung vom 21.8.1913).

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„Ich schreibe“ ist für mich gleichbedeutend mit „ich bin“ – „noch bin ich“.
G. Ajgi

Eines von Ajgis Interviews enthält Aufschlüsse über sein Verhältnis zur Poesie im allgemeinen und insbesondere zu der eigenen Lyrik. Für Ajgi ist Poesie der einzige Lebensbereich, in dem er sich frei fühlt. In allen anderen Bereichen fühlt er sich unfrei, ganz gleich, ob es sich um einen „Auftritt“, einen Brief oder eine Rezension handelt. Statt die Poesie zu definieren, beruft er sich auf einen Ausspruch von Innokentij Annenskij: „Es gibt Realitäten, die man besser undefiniert lassen sollte.“ Ajgi hält die Dichtung nicht für das Medium, das der „Widerspiegelung des Lebens“ zu dienen habe. Für ihn ist Kunst kein Abklatsch des Lebens, sondern Lebenserscheinung an sich. Damit hänge sein „konkretes“ Bestreben zusammen, im Gedicht auf keinen Fall – das am allerwenigsten – seine Ansichten oder Überzeugungen darzulegen. Ein Gedicht, wie er es versteht, ist Teilchen des Lebens selbst, muß also nach Kräften und Möglichkeiten „alles“ in „einem“ enthalten: die Geistigkeit wie die Gegenständlichkeit, das Werden genauso wie das Vergehen, da beides in einem Tropfen Leben jederzeit zugegen ist. „Wenn ich einen Baum beschreibe, dann möchte ich ihn nicht in einer klassisch gereinigten Zeichnung festhalten, sondern alles, was ich über ihn weiß, einschließlich der Wirkung, die er auf mich ausübt, sagen … das heißt seinen Lebensprozeß mitteilen.“

Im Handwerklichen ist die ständige Weiterentwicklung der eigenen Ausdrucksmittel das erklärte, konstante, besser: dynamische Ziel von Ajgis Poesie. „Man könnte auch sagen, die Poesie sei eine eigene Art des Denkens – ein Denken durch Rhythmus. Ich bin unfähig, etwas niederzuschreiben, dessen inneren Rhythmus ich nicht spüre. ,Ich höre die Musik nicht‘, pflegte bei solchen Gelegenheiten Blok zu sagen. Was mich inspiriert, ist mehr der Rhythmus, ich verspüre ihn geradezu physiologisch. Ist er nicht da, habe ich nichts, worauf ich mich stützen könnte … Für mich ,wogt das Meer nicht metrisch, sondern rhythmisch‘, wie es A. Kručenych einmal im Gespräch mit mir gesagt hat.“ Ajgi reagiert also nicht unmittelbar auf die Wirklichkeit. Er beabsichtigt, er versucht im Gedicht die Entwicklungsgeschichte der Dinge und Gedanken einzufangen, sie mit Ursache und Wirkung, als Wellenbewegung, die sich auf freien Versfüßen selber folgt, ohne Reimzwang oder kunstvolle Metren, zu bezeugen. Auch wenn er im Gedicht sehr oft den „Ort“ herbeiruft, in vielfacher Form (den Wald-Ort, den Feld-Ort, den Mensch-Ort, den Ich-Ort), so hält uns dieser Ort niemals auf, da er selbst nicht statisch ist, nicht „festzunageln“: er reißt mit, läßt seine Bewegung mitvollziehen. „Infolgedessen ist der schöpferische Prozeß in mir adialogisch: Ich beantworte im Gedicht keine Fragen, polemisiere nicht mit der vordergründigen Wirklichkeit, ich arbeite vielmehr im Gedicht fortwährend an meinem ,Rechenschaftsbericht‘weiter…“ Dennoch, meint Ajgi, sei seine Poesie konkret, nicht abstrakt. Nur ist es ein Konkretum des Gedächtnisses, dem Wesen zugewandt, nicht der äußeren Schale oder den äußeren Umständen. Die Bedeutung der oben erwähnten „Orte“ in seinen Gedichten erklärt Ajgi folgendermaßen: Sie sind, scheinbar abstrakt, durch und durch konkret, sogar geographisch exakt bestimmbar. „Eins meiner Felder habe ich den Gott-Brennpunkt genannt. Dieser Ort befindet sich sieben Kilometer vom tschuwaschischen Dorf Šigaly entfernt. Ich erinnere mich stets tief bewegt an diesen meinen äußerst bestimmten Ort auf Erden.“ Als weiteres Schlüsselwort, Bildwort ebenso wie Wortbild, als Summe aller Wortbilder und Oberbegriff aller Bildbegriffe, steht bei Ajgi (unzeitgemäß geheimnisvoll wie sein Ruf- und Familienname selbst) das Wort „Hieroglyphen“. „Es wäre unmöglich, die nicht sehr präzisen tschuwaschischen Begriffe mit Worten wiederzugeben.“ Also sucht Ajgi, kramt Ajgi im Erinnerungsvorrat seines Volkes nach Verständigungszeichen, die nicht „Schale und nicht Kleid sind, sondern Akt, Aktion“. Nicht selten eine Aktion im Vorfeld des Traums. Den Traum erklärt Ajgi nämlich, eigenwillig, als den Zustand eines potenzierten Denkens, bei höchster Anspannung der geistigen Kräfte, des Denkens, das ein gesteigertes, intensives Sehen, Hören, Bilden, meinetwegen Ein-Bilden einbezieht. Dieser Traumzustand äußerster geistiger Wachsamkeit – Traumwachsamkeit – und Spannung ist natürlich mit dem Begriff „Denken“ allein nicht zu umschreiben. Traumdenken ist hier der Gegensatz von Zwangsdenken, also befreites Denken. „In meiner Jugend berief man sich gern auf die linguistischen Arbeiten Stalins und auf das Beispiel vom Taubstummen, der in Bildern denkt. Zweifelsohne haben wir es im dichterischen Schaffensprozeß mit jenem Denken eines Taubstummen zu tun, wobei uns die Worte nur insofern zu Hilfe kommen, als sie bereits Begriffenes im nachhinein faßbar machen. Anschaubar und hörbar bewußtmachen.“ Folgerichtig waren Ajgis erste und treueste Leser und Zuhörer, die ihm Freunde wurden – die Musiker und die Maler: Andrej Volkonskij, Vladimir Jakovlev, Igor’ Vorošilov.

5

Ich wollt; ich könnte überall Zum Kern gelangen…
B. Pasternak

Die Frage, ob er sich für einen russischen Dichter halte, beantwortet Ajgi eindeutig: Er halte sich für einen tschuwaschischen Dichter, der russisch schreibt. „Mein Schreiben wird oft in Beziehung zu den Futuristen gebracht. Ich persönlich halte mich seit langem für einen Antifuturisten, weil ich die Einstellung der Futuristen zum Menschen – als Mittel zum Zweck – ablehne. Als Mittel zu dem Zweck beispielsweise, diversen ,erwählten‘ Führern dienstbar zu sein, was ich für verbrecherisch halte. Dagegen verdanke ich vieles den russischen Avantgardisten, vor allem denen, die der oben erwähnte Vorwurf nicht trifft; ich meine Chlebnikov und Malevič.“ Womit er diese Bewunderung für Malevič begründet? „Malevič ist ein Meister, ein Künstler-Vorbild vom Typus der Väter, dominant, ganz von der Idee der patriarchalen Verantwortung besessen. Nur solche Künstler sind imstande, der heutigen Zügellosigkeit der Söhne überzeugend entgegenzutreten. Schade, daß es gegenwärtig so wenige Väter jener Art für so viele Söhne dieser Art gibt. Ionesco wäre einer.“ Aber auch Pasternak ist für Ajgi einer gewesen. Das wiederholt er oft in seinen Erinnerungen, das bestätigen seine Gedichte. Pasternak war es, neben Nazim Hikmet, der den scheuen, unscheinbaren, fremden jungen Mann aus dem Tschuwaschenland als erster ermutigt hatte weiterzuschreiben, vor allem russisch zu schreiben; seine tschuwaschische urwüchsige und trotzdem äußerst modern sensibilisierte Vorstellungskraft in russischen Sätzen kund-zu-tun. Die „gängige“ Prosa von heute sieht Ajgi skeptisch. Seine Abneigung richtet sich insbesondere gegen die anmaßende, brutale, zynische, menschenfeindliche „Dichtung“, die das Bewußtsein mit ihrer Maßlosigkeit entmachtet und die seelische Umwelt mit den Abfallrequisiten der Zivilisation verschmutzt; die geistige Landschaft, von Meilenstein zu Meilenstein anders, in ein Einheitstrümmerfeld, in eine Müllhalde verwandelt. Sie weide sich an Horrorerlebnissen, die ihr Erfolgserlebnisse sind, an Rufmorddelikten und Greueltaten des Gewissens, und schaffe so ihre eigene, menschenfeindliche „Kraft und Herrlichkeit“ nach Maßgabe rücksichtsloser „Ausnahmegesetze“ oder eigener, nicht antastbarer „Unwiederholbarkeit“. „Mein Gott, wie weit entfernt das doch ist von der schlichten Liebe zum Menschen des tschuwaschischen Dichters V. Mitta, von der Nächstenliebe, die uns Generationen von Ahnen als Erbe hinterlassen haben und ohne die es keine Zukunft gibt!“ Ihm scheine, als hätten zu viele „Dichter und Denker“ heute zu leichtfertig, bewußt oder unbewußt, den Standpunkt des Henkers, nicht den des Opfers bezogen. So oder anders. Billige literarische Effekte, Blasphemie oder Heuchelei, locken in ihren Hinterhalt oder verbreiten Haltlosigkeit, und sei es nur die scheinbar harmlose, passive, hinter vorgehaltener Hand. Alles das zeitige verheerende Folgen in den zwischenmenschlichen Beziehungen – von den zwischenvölkischen ganz zu schweigen. Da helfen keine noch so gut gemeinten Exkursionen, Delegationen, Kommissionen oder Spekulationen. „Es liegt mir daran, ein etwas anderes Bild von Rußland, von meinem Land zu vermitteln. Ich möchte im Gedicht, so gut ich kann, nicht davon erzählen, wie unsere Felder und Wälder sind, wie sie ihre Bewohner bereichern, sondern vielmehr etwas von ihrer ,Substanz‘ vermitteln und darauf hoffen, daß meine Wort,räume‘ sich dem Leser öffnen mögen.“ Ajgi erinnert sich gern daran, was ihm Pasternak 1959 gesagt hatte: „Rußland ist für den Künstler ein glücklicher Mutterboden. Hier ist das Band zwischen Mensch und Natur noch nicht zerrissen.“ Der Umgang mit Pasternak drückt sich sehr stark in Ajgis Gedichten und in seinen Definitionen der Poesie aus, die bei ihm, wie bei Pasternak, im Wesen der „Natur“ und in der Vitalität des „Lebens“ gesucht und gefunden werden. (Was B. Zelinsky, im Sinne Pasternaks, auf folgende summarische Formel zu bringen gelingt: „Poesie ist reines Leben in seiner Übertragungsspannung.“) Das Verhältnis zu Natur und Mensch verdeutlicht Ajgi in der Bildreflexion. „Ein Mensch stirbt, aber mein Schmerz darüber ist keinesfalls meine ausschließliche Privatangelegenheit. Dieser Mensch setzt sein Leben in meinem Schmerz fort. Er lebt fort, bleibt Wirklichkeit, auch die Umstände seines Todes bleiben es; er bleibt Bestandteil des Lebens, des gegenwärtigen wie des künftigen.“ Die Obsession des Todes ist Ajgis Schicksalsthema. Ajgis Dorf, in dem er aufwuchs, zählte zweihundert Gehöfte. Von den wenigen Bewohnern waren aus dem letzten Krieg dreihundert nicht wieder heimgekehrt. Aber auch später, immer wieder, läßt das Erlebnis des Todes ihn nicht los. Der Tod ist in seinen Gedichten allgegenwärtig, von den ersten bis zu den letzten: in dem auf den Tod von „Baudelaire“, im Lied von der Verantwortung der Täter „Vorahnung des Requiems“,

ihr werdet keine ruhe finden in der klaren gegenwart seines grabes,

in den Versen von der Vorbereitung auf den Tod „Zur Vorahnung des Requiems“, von einem anderen Abschied in „Blutsverwandte:

sie überlassend den menschenschlangen und verstecken der kleinen schrecklichen städte Sibiriens

von ihr fahrend für immer in das gemetzel der menschen meines jahrhunderts,

in der 1958 gemachten Erfahrung, oder einer um zwei Jahre späteren, „Zum Abschied“ eines Freundes:

Und mir prägten sich, wie offene klappfenster, alle deine kosenamen ein, ich allein hatte sie gekannt, und nun blieben sie, wie der schnee jenseits der gefängnistore –

leiser als der Tod und leiser als du.

Im gleichen Jahr 1960 schließlich das Erlebnis des Todes der Mutter: „Wolken“ und „Tod“, 1961 das „Requiem für ein Mädchen“, „Vorwinterliches Requiem“ für B. Pasternak, in memoriam O.V. Ivinskaja und andere. Bis auf jenes mich besonders erschütternde Gedicht „Wieder: Wiederkehr der Angst, für K. Bogatyrev“, seinen Freund, datiert 1971, nach dessen Rückkehr aus dem Straflager. Das Lied von der wiederkehrenden Angst, das – wie die anderen auch – von einem flüchtigen Leser als Verfolgungswahn eines Überempfindlichen gedeutet werden könnte – bis man in einer Zeitungsmeldung zu lesen bekommt: Konstantin Bogatyrev, der Rilke-Übersetzer, der Ajgi in die deutsche Lyrik eingeführt hatte, der meine Ajgi-Übersetzungen zusammen mit dem Dichter revidiert hatte, von dem ich eine Handvoll Briefe – die reine Freundschaftsbriefe sind und nur Übersetzungsfragen behandeln – besitze, ist am Donnerstag, d. 17. Juni 1976, in der Intensivstation des Burdenko-Instituts der Akademie der Wissenschaften in Moskau seinen Verletzungen erlegen, heißt es in der Meldung lapidar. Am 28. April war er vor seinem Wohnhaus, mit einer Flasche niedergeschlagen, in einer Blutlache aufgefunden worden. Das Opfer kämpfte sechs Wochen lang, bewußtlos, gegen den Tod. Vergeblich. Die Ursachen der Gewalttat sind ungeklärt, die Täter unentdeckt geblieben. Bogatyrev stand außer Ajgi auch Pasternak, Kopelev, Böll, Sacharov nahe. Ich halte in der Hand einen von Ajgis Briefen, den vom 29. September 1969: „Lieber (…) ich bin einverstanden, daß Sie mein Buch herausgeben. Vor allem deshalb, weil ich zu meinen Sachen stehe, als wären sie gedruckt – eine andere Erklärung dazu wäre in unseren Verhältnissen unwirklich, man könnte sogar sagen unwürdig (…) Jedermann, der von Ihnen nach Moskau kommt, findet mich leicht durch K. Bogatyrev oder im Majakovskij-Museum.“ Heute – beides nicht mehr. Weder dort noch dort. Ajgi wird nun zu seinen vielen Trauergesängen noch einen für K. B. hinzufügen müssen oder hinzuzufügen unterlassen:

ich hatte damals gekämpft um mich wiederzufinden in der amorphen masse von feinden genannt die zeit um raum zu haben ……. mein platz hat sich als eine menschenleere wüste erwiesen

Befragt nach seinem Verhältnis zur „europäischen Kunst“, antwortet der Lyriker: „Ich habe mir in letzter Zeit mehrere französische Filme angesehen. Ausstattung, Flitter, bedrückende Leere, Sadismus und andere Gewalttaten, die die Schöpfer dieser Filme wohl kaum selbst am eigenen Leibe erfahren möchten. Im Theater wiederum hat man den Eindruck, die Kunst rase auf ihr letztes Ziel zu: die wirkliche Tötung des Menschen auf der Bühne keine nur gespielte mehr, sondern eine tatsächliche, in authentischer Happening-Aktion vollzogen. Etwa im Sinne Bretons – ,Schießen Sie in die Manege!’“ An der Gegenwartsdichtung, den vordergründigsten ihrer modischen Strömungen, befremden Ajgi die Kälte, die Menschenfeindlichkeit, die Bösartigkeit, die Aggressivität, der Zynismus, die Maßlosigkeit, die Gossenhaftigkeit. „Was bleibt zu tun in einer solchen Situation? Versuchen, nicht daran teilzunehmen, weder in der Vorstellung noch im geringsten Wort.“

Karl Dedecius, Nachwort, 1971/1988

Notiz des Herausgebers

Die Auswahl der Gedichte hat der Autor für die deutsche Ausgabe persönlich besorgt. Sie stammt aus allerletzter Zeit (1970) und beschränkt sich auf die Gedichte der Jahre 1958-1963; sie ist die bisher umfassendste und geschlossenste Auswahl aus dieser Periode. Die Übersetzungen sind in allen Arbeitsgängen vom Autor revidiert und autorisiert… Die Selbstdarstellung des Autors Kurz über mich hat der Herausgeber aus mehreren Fassungen (aus der Presse) und Zitaten (aus seiner Korrespondenz) zusammengestellt.

Ajgis Lyrik, ein Sonderfall

innerhalb der zeitgenössischen Literatur seines Landes, ist beeinflußt von Baudelaire, Wolker, Majakowskij, Nietzsche und dem Suprematismus Malewitschs. Er verbindet eine hochverfeinerte, moderne Metaphernsprache mit Elementen der tschuwaschischen Volkspoesie. Das charakteristische Kompositionselement seiner Gedichte ist die sprachliche Verdichtung und Verkürzung der Wirklichkeit zum Zeichen. Beginn der Lichtung erschien erstmals 1971 – als erstes Buch Gennadij Ajgi (geb. 1934) in deutscher Sprache.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1992

 

Der Dort – Ajgi

Inna Murawjowa: Gennadij Nikolajewitsch, ist Ajgi Ihr Pseudonym? Was heißt „Ajgi“ auf Tschuwaschisch?

Gennadij Ajgi: Ajgi heißt in wörtlicher Übersetzung „der dort“, „der Mensch dort“. Ich betone immer wieder, daß dies kein Pseudonym ist, sondern ein von unseren Vorfahren überlieferter Sippenname. Die heidnischen tschuwaschischen Namen haben sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Mein Großvater mütterlicherseits war der letzte heidnische Priester in unserem Dorf. Der tschuwaschische Priester ist der Hüter des Ortes der Opferdarbringung, er wacht über den Kiremeti (so wird dieser Ort genannt). Er lenkt das religiöse Leben seines Dorfes. Wahrscheinlich hat meine Mutter vom Großvater sowohl den unabhängigen Charakter als auch eine gewisse Verwegenheit geerbt. Sie war ein starker Mensch von intensiver Leidenschaftlichkeit. Eine dramatisch veranlagte Natur. Auf sie konnte man sich verlassen. Überhaupt, je älter ich werde, desto häufiger gerate ich ins Nachsinnen über die Weisheit meines Volkes, über die Eigenständigkeit seiner Kultur, seines Lebens. Im Leben der Tschuwaschen gab es vieles, was den Europäern gänzlich unbekannt ist. Es gibt zum Beispiel ein ganzheitliches Erziehungssystem. Das Verhalten gegenüber den Gestirnen – der Sonne, dem Mond – ist in einer bestimmten Weise vorgeschrieben. Sie sind heilig, sie sind „sehr lebendig“. Wenn ein Mensch, der mit dem Gesicht zur Sonne oder zum Mond dasteht, schlechte Gedanken hegt, muß er an sich arbeiten, er muß sich läutern… All dies wird uns von klein auf anerzogen. Wissen Sie, wir haben eine Art pantheistischer Erziehung. Sie umfaßt ein besonderes Verhältnis zu den Gestirnen, zu den Bäumen, zum Wasser, zum Wind, zu allem, was uns umgibt – alles ist in unsere heidnischen Gebete hineingelegt. Das ist es, worauf sie beruhen.

Murawjowa: Sie haben heidnische Texte in Ihre Anthologie der tschuwaschischen Literatur aufgenommen, und die Spezialisten haben darauf hingewiesen, daß dies die vollständigste Anthologie überhaupt ist. Warum galt diese Arbeit lange Zeit als subversiv.

Ajgi: Ein Drittel dieser Anthologie besteht aus volkstümlicher Poesie, einschließlich wertvoller heidnischer Texte. Seit es eine tschuwaschische Schriftsprache gibt, wurden bei uns höchstens fünfzig dieser Texte publiziert, obwohl glücklicherweise eine beträchtliche Anzahl erhalten ist. Es war extrem schwierig, sie zu publizieren, – es galt als „religiöse Propaganda“. Aber unsere heidnischen Texte gehören ja nicht nur Tschuwaschien, sie sind Teil der Weltkultur. In Rußland beispielsweise sind leider keine Texte aus heidnischen Zeiten erhalten geblieben… Ja, es war tatsächlich so – meine Arbeit galt als unbotmäßig. Ich habe zwanzig Jahre an der Anthologie gearbeitet. Sie erschien 1986 in Italien. Das tschuwaschische Gebietskomitee der Partei instruierte damals sämtliche tschuwaschischen Zeitungen und Zeitschriften sowie Rundfunk und Fernsehen, sie mit keinem Wort zu erwähnen. Die Parteibosse werteten diese Arbeit als „subjektiven Zugang zur tschuwaschischen Kultur und ihren Schöpfern“. Die „Subjektivität“ bestand ausschließlich darin, daß ich sämtliche Dichter, die Opfer von Repressionen geworden waren, namentlich aufzählte, einschließlich ihrer Lebensdaten. Aber in der bolschewistischen Sprache hieß das Subversion. Für mich waren diese Jahre, besonders die Jahre 1975-1986, wohl die schwierigsten überhaupt. Ich lebte in schrecklicher Armut, mit drei Kindern, an verschiedenen Ecken und Enden…

Murawjowa: Zu jener Zeit waren Sie aber bereits Preisträger der Académie Française, Ihre Gedichte wurden in „Kontinent“ gedruckt, viele Ihrer Freunde waren emigriert… Hatten Sie eigentlich nie ähnliche Pläne?

Ajgi: Als ich zwanzig war, dachte ich tatsächlich manchmal im stillen für mich… wissen Sie was? Ob ich nicht irgendwo über die Grenze gehen sollte! Aber als nun die Möglichkeit ganz real wurde… das ist allerdings etwas zutiefst Privates… Allerdings war für diejenigen, die emigrierten, das Russische die Muttersprache, die sie mit der Muttermilch eingesogen hatten. Für mich dagegen, einen Nichtrussen, war der Eintritt in die russische Kultur, zu der es mich hinzog, ein besonders verantwortungsvoller Schritt. Ich war stets dessen eingedenk. Und wenn dann grade wieder eine Hetzkampagne begann, habe ich mich immer damit beruhigt – und dies gab mir Kraft, Ehrenwort! – „daß ich es nicht für sie tue!“ Es galt, die grandiosen Beispiele der Volksdichtung, die Jahrhunderte hindurch von einfachen Dorfgeistlichen, von kaum des Lesens und Schreibens kundigen Bauern, meinen Landsleuten, geschaffen worden waren, zu bewahren, nicht zuzulassen, daß sie spurlos verschwänden… Du liest…, und plötzlich ertappst du dich bei dem Gedanken, daß du die Stimme eines Dorfmädchens hörst, das im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert gelebt hat… Es gibt die Rede vom kleinen Volk… Für mich ist jedes Volk groß in dem Sinne, daß der Begriff VOLK alle Toten einschließt, alle, die in ihm gelebt und existiert haben; alle, die heute leben und, wie wir hoffen wollen, in der Zukunft noch dazukommen. Denn all dies bleibt in der Kultur, in der Sprache, im Gedächtnis bestehen. In einem meiner Gedichte in tschuwaschischer Sprache schrieb ich: „… solange ich gesund und klar bin, will ich sagen, daß jedes Volk groß ist und daß es kein kleines Volk gibt“.

Murawjowa: Gennadij Nikolajewitsch, seit 1960 schreiben Sie in russischer Sprache. Man nennt Sie einen Dichter der russischen Avantgarde. Was hat Sie zur russischen Literatur gebracht, wie sind Sie zu dieser nichttraditionellen und damals so sehr verfolgten Kunst gelangt?

Ajgi: Bis 1953 (das war das Jahr, in dem ich nach Moskau kam, ins Literaturinstitut) kannte ich aus der russischen Lyrik nur Puschkin, Lermontow, Nekrassow. Ich liebte Majakowskij. Der Mensch braucht aber außer den Klassikern auch Zeitgenossenschaft. Er sucht nach übereinstimmenden Gedanken und Gefühlen. Als Tschuwasche, für den die russische Kultur, das russische Volk sehr wichtig waren, wurde ich von bestimmten klar hervortretenden Zügen seiner Psychologie angezogen. Allgemein gesagt gefielen mir an der russischen Kultur, an der russischen Kunst die fakturhaft-konstruktiven Züge, sagen wir, wie bei Peter dem Großen – umwälzen, aufbauen, „ein Fenster nach Europa aufstoßen“… Mir gefällt der alte Tolstoj, der ewig unzufrieden ist, permanent etwas bauen, bewegen will, der an sich selbst etwas verändern will, nicht zur Ruhe kommen kann… Das war es, was mich zu Malewitsch, zu Chlebnikow führte. Mich hat dieses, ja, Nationalformen Schaffende angezogen, das noch vom Protopopen Awwakum herrührt, all dies Aufsässige, Rebellische. Dieses nicht Nationalistische, nicht Selbstverliebte. Was die Avantgarde betrifft… Sie wissen, in Europa spricht niemand von Avantgarde oder Nicht-Avantgarde, sondern von Picasso, von Apollinaire… Das ist längst klassisch, ist Teil der National- wie der Weltkultur geworden. Bei uns dagegen präsentiert man bis heute den großen Persönlichkeiten der Weltkultur wie der nationalen russischen Kultur die Abrechnung wegen einer Innovation, die, entschuldigen Sie, bald hundert Jahre zurückliegt.

Murawjowa: Und Ihre eigene Suche nach sprachlicher Innovation, nach dem Wort, „das lebendig sein soll“, hatte mit dem sowjetischen „Totwort“ des sozialistischen Realismus nichts zu tun…

Ajgi: Ja, schon 1958 stießen meine Verse, es handelte sich noch um Interlinearübersetzungen aus dem Tschuwaschischen, auf Ablehnung. Weil sie nicht „sowjetisch“ waren. Wenn man in seiner Umgebung nur Wildwuchs sieht, diese Wort- und Leblosigkeit, sucht man das Eigene – ob das nun wenig ist oder viel – mit ganzer Kraft zu verteidigen. Das ist eine elementare Pflicht vor einem selbst, eine Notwendigkeit, es ist das Leben selbst. Wegen der Suche nach dem, wie Sie sagten, „lebendigen Wort“ wurde ich im fünften Jahr aus dem Institut ausgeschlossen und aus dem Komsomol verjagt. Im Schriftstellerverband wurde eine Personalakte geführt. Den Vorsitz hatte Aleksandr Sharow…

Murawjowa: Gennadij Nikolajewitsch, ich möchte gerade Sie als jemanden, der in die Kultur eines anderen Volkes eingetreten ist, jedoch auch seine Pflicht gegenüber der Kultur des eigenen Volkes erfüllt hat, fragen: Die nationale Krise in unserem Vielvölkerstaat ist nicht mehr von der Hand zu weisen, − es fließt Blut; was ist passiert in unserem „unzerstörbaren Bund freier Republiken“? Warum hat die „weise Leninsche Nationalitätenpolitik“ versagt?

Ajgi: Das ist ja gerade der Punkt, daß der Nationalitätenpolitik die Weisheit abging. Die Kommunisten, die Bolschewiki interessierten sich nicht für die nationalen Probleme. Sie waren keine Vertreter des Volks, sondern eine bestimmte politische Partei, für die die Nationalität keine Rolle spielte; was für sie zählte, war politische Einförmigkeit. Lenin besaß übrigens meiner Meinung nach überhaupt kein Nationalgefühl. Und was erstaunlich ist – er hatte einen unglaublichen Haß auf die Bauern. Dabei sind die Bauern doch das Volk! Außerdem hatte er einen schlichtweg satanischen Haß auf die Religion und ihre Träger. Wenn aber ein Volk die Religion verliert, werden die ethischen, weltanschaulichen WurzeIn vernichtet, – die Folge ist Sprachverlust, Selbstverlust. Die Bolschewiki brachten eine Pseudoreligion mit, den Glauben an einen Führer, ohne nationale Kennzeichen. Das war der eigentliche Grund, warum sie all diese Internationalen schufen, die Erste Internationale, die Zweite usw. Sie konnten gar nicht anders, als eine solch egalitäre, das heißt von jeglichen, vor allem aber nationalen Merkmalen freie Sklaverei einzuführen. Übrigens hat das russische Volk wohl am meisten gelitten; kein Volk hat solch gigantische Werte, solche Denker verloren; mit keinem Volk wurde so grausam ins Gericht gegangen. Heute sieht es meiner Meinung nach so aus, daß in vielen ehemaligen Autonomen Gebieten die eingefleischten Apparatschiks zur entscheidenden destruktiven Kraft geworden sind. Was bei ihnen am meisten entwickelt ist, ist das „Sessel“-Gefühl. Ein Nationalgefühl ist bei ihnen ursprünglich nicht vorhanden, und wenn sie heute versuchen, ihrem „Sessel“-Gefühl noch das Nationalgefühl aufzupropfen, so schreit es zum Himmel, wie plump, ungerecht, unsittlich das ist. Ich bin davon überzeugt, daß das Nationalgefühl entweder etwas Erhabenes ist, wie die Liebe oder religiöse Verehrung, oder daß, wenn es nicht auf dieser Ebene zum Tragen kommt, eine – entschuldigen Sie – extrem niedrige Erotik zu wirken beginnt, die nicht von Liebe geheiligt ist… Die „Sessel“- Typen zielen heute gerade auf die niedrigen, blinden Leidenschaften, sie schüren sie. Ich bin der Meinung, daß es heute entscheidend darauf ankommt, Rußland zu erhalten. Wenn wir es nicht erhalten, zerstören wir unser eigenes Leben. Heute müssen wir alle zusammenstehen. Ich riskiere natürlich, diesen oder jenen vor den Kopf zu stoßen, aber ich sage dennoch: gerade das russische, gesamtrussische Leben hat über lange Zeit hinweg die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß wir heute zusammenhalten müssen.

Murawjowa: Bei weitem nicht alle denken wie Sie…

Ajgi: Die Menschen meiner Generation, scheint mir, verhalten sich klüger gegenüber den neuen Realien. Wir meinen, daß jetzt nicht der Zeitpunkt ist, sich gegenseitig die manchmal gewaltigen, manchmal weniger bedeutenden Kränkungen vorzurechnen. Ich wiederhole, es ist nicht der Zeitpunkt. Rußland, das heute von den Jelzin-Kräften zusammengehalten wird, dieses Rußland ist letztlich die einzige Hoffnung gegen die furchtbaren, bedrohlichen Kräfte der Reaktion. Wenn erst der Richtige kommt… er wird es Euch schon zeigen, er wird alles mit dem Lineal aufteilen. Dies ist eine sehr gefährliche Zeit. Ich wende mich an die Intelligenzija, an alle, die einfach nur nachdenken. Wir müssen zusammenhalten. Wenn ruhige Zeiten für ruhige Gespräche kommen, erst dann, scheint mir, kann es um andere Haltungen, andere Entscheidungen gehen. Bis dahin aber ist wichtig, daß wir alle zusammenstehen.

Gespräch zwischen Inna Murawjowa und Gennadij Ajgi 1991, Rossijskaja gazeta, 6.8.1991

 

 

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