Gennadij Ajgi: Veronikas Heft

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Gennadij Ajgi: Veronikas Heft

Ajgi/Morris-Veronikas Heft

LIED DER LAUTE

o /Sonne Etwelche/
am a-Himmel /Etwelchem auch/
für e-i-u-y-Andere /Welten/
und die a-ä-u-Andern
für die bäume-ju die käfer-je a-kinder

(6. Juli 1983)

 

 

 

Kindheit und Dichtung?

– Antwort auf die Frage eines Freundes. –

Mag sein, daß man sich auf die Kindheit-als-Phänomen in der zeitgenössischen Dichtung nicht bloß „emotional-angerührt“, sondern auch prinzipiell-programmatisch beziehen sollte. Es geht ja nicht allein darum, daß wir der uns erinnerlichen „Frische der Eindrücke“ bedürfen. In der Kindheit haben wir der Welt weit mehr vertraut – sie war für uns, in ihrer ganzen Offenheit, wahrhaftig eine ALL-Welt.
Sich daran zu erinnern, wäre wohl gut. Denn wir haben in unserer Welterfassung (und nicht in den Kenntnissen) die Welt-als-All unwahrscheinlich eingeengt, haben sie verwandelt in einen kleinen Welt-Markt, der nicht weiter reicht als bis zu den „Erdumlaufbahnen“. Ist es nicht so, daß wir gerade im „kosmischen Zeitalter“ des Gefühls der Weltallheit, des Gefühls der Welt-als-All verlustig gehen? Eine kleine Welt irdischer Angst und Ängste… – leben wir denn von etwas Größerem?
Seien wir also nicht hochmütig gegenüber dem Phänomen der Kindheit, die sich bezaubern läßt vom Wunder der Existenz einer unerklärlich-bedeutsamen Welt (und gar vieles in der Natur beweist, daß sie keineswegs für den Menschen allein geschaffen wurde).
Das „Thema der Kindheit“ mag heute nicht nur ein nostalgisches sein, es kann in der zeitgenössischen Dichtung auch „theoretische Fragen“ provozieren. So leben-wohnen wir zum Beispiel, all unsern Kenntnissen zum Trotz (und – im „Zeitalter des Wissens“ – auf die allerparadoxalste Weise) in einer seltsamen Atmosphäre… – die Schöpfung ist für uns beendet und tot, in ihr gibt es keine fortdauernde Selbstbekundung einer schöpferischen Kraft, sondern nur die anonymen „Gesetze des Alls“, die angeblich ein- für allemal „vorgegeben“ sind – alles wird dafür getan, daß die Welt als eine abgeschlossene begriffen werde (ich wiederhole, daß ich nicht von Kenntnissen rede, sondern von der Welterfassung) – wo mag da noch Dichtung „schweben“? – und gleichwohl, sag ich mir, hab ich noch nicht alles verloren, wenn ich als einstiges Selbst-Kind mich daran erinnern kann, daß ehedem etwas weit Entfernteres als Licht auf mich zugekommen ist, etwas, das einzig in der Sonne verkörpert war, die überm Dorf stand.
Es gibt bei mir auch einen „persönlichen“ Grund, in Gedanken-und-Versen zur Kindheit zurückzukehren. Selbst die damals erblickte, mit jenen fernen Wahrnehmungen verbundene menschliche Welt war edler als die, mit der ich später kollidieren sollte. Ich denke, daß ich hier nichts idealisiere. Es war dies eine Welt von wahrhaft duldsamen Menschen – von „Dorf-und-Feld“-Menschen, deren hauptsächliche Schönheit die für heute, für morgen mindest-notwendige Arbeit war… – ich lebte in einer Welt, wo die menschliche Einbildungskraft (und diese ist vielleicht gerade das, über dessen Erschaffung gesagt ward, daß es „nach Seinem Ebenbild“ gemacht worden sei), ich fahre fort – ich lebte in einer Welt, wo die menschliche Einbildungskraft gemäß ihrer eigentlichen Bestimmung ausgerichtet zu sein schien – sie war schöpferisch „wie bei Gott“, und nicht zerstörungs-geil.

Statt eines Vorworts

für meine Tochter

Noch redest du nicht in worten. Du drückst dich aus – mit dem gesicht, durch dein lächeln, dein lallen, mit „neugeboren-werdenden“ (noch nicht erlernten) bewegungen, – und dies erinnert häufig an den zustand der vor-arbeit derer, die mit poesie zu schaffen haben (manch einem sind diese „etwas in sich schliessende“ stille und ein gewisses „rumoren“ vertraut, ihre unausgeformtheit in der intonation und die ihnen eigene suchende kraft; die leerstellen im rhythmus und die gespanntheit der pausen, die oft gehaltvoller sind als irgendein „sinn“), – mit einem wort, du – schaffst, ohne „dich ganz auszusprechen“… – und ich habe mich, soweit es mir möglich war, bemüht, von diesem „nicht-ganz-ausgesprochenen“ etwas aufzuzeichnen, das im wesentlichen du mir eingeflüstert hast.
Und so ist dieses büchlein ganz bewusst deinem „wortlosen“ (aber – wie ich schon sagte – schöpferischen) lebensabschnitt gewidmet. Später werden wir in worten reden (doch das wird bereits etwas anderes sein).
Du wirst beschenkt. Mit liebe. Mit spielzeug. Meine liebe – du kennst sie. „Spielzeug“? Als solches schliesse ich in dein büchlein einige meiner frühen bagatellen ein.
Bisweilen singe ich für dich (schlecht). So wie deine urgrossmütter und urgrossväter väterlicherseits für dich gesungen hätten. Mögen einige ihrer lieder an dein ohr dringen – als variationen deines vaters. Ich füge diesem büchlein auch zwei märchen aus meiner jugendzeit bei. Ob ich mir damals vorzustellen vermochte, dass mir ein vierteljahrhundert danach eine solche tochter geboren würde?

(14. Juli 1983)

Gennadij Ajgi, Vorwort

Noch etwas vom Verfasser

Meine Tochter Veronika (mein sechstes Kind) wurde am 14. Januar 1983 geboren.
Die Gedichte zu diesem Buch wurden im wesentlichen verfasst in den Stunden meiner unmittelbaren Kontakte mit der Tochter: während meiner Spaziergänge mit ihr, beim Schaukeln der Wiege usw. Von daher rührt die Miniaturhaftigkeit mancher Gedichte und eine bestimmte „Notations“-Form für meine Beobachtungen.

(21. August 1983)

Gennadij Ajgi, Nachwort

 

 

1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.

 

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Zum 75. Geburtstag des Autors:

Volker Sielaff: Die Welt als Welt-All und Welt-Markt
poetenladen.de, 21.8.2009

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