Georg von der Vring: Nachgelassene Gedichte

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Georg von der Vring: Nachgelassene Gedichte

Vring-Nachgelassene Gedichte

STERNBILDER

Wie zu jenen Silberzeichen
Aufwärts unsre Blicke reichen,
Wenn die Bergeshäng’ in Nacht versanken:

Woll’n dem Widersprühn der Zeichen
Einst die eignen Blicke gleichen,
Brechend aus der Enge der Gedanken.

 

 

 

Ein Schriftsteller fällt aus seiner Zeit

– Er schrieb sehr erfolgreiche Romane. Dabei hat er eigentlich viel mehr von Gedichten gehalten – der gebürtige Braker Schriftsteller und Maler Georg von der Vring (1889–1968). –

Seine Rolle im Literaturbetrieb der 60er Jahre hat er selbstironisch und – wie es sich für einen Dichter gehört – in Reimform gesehen:

Lästig dem Ozonverbraucher nämlich Pfeifenraucher.
Beim Konzert der Fingerzeiger lustlos, nämlich Schweiger.

Dabei hat für  Georg von der Vring, der vor 50 Jahren, am 1. März 1968 in München Suizid verübte, die Lyrik mehr gegolten als das erzählerische Werk. Sein erfolgreicher Gedichtband Kleiner Faden blau, 1954 erschienen, hat seinen Titel aus einer ebenfalls ironischen Selbstbeobachtung: „Kleiner Faden blau, aus der Pfeife steigend, freut mich, wenn ich schweigend sitz und Zeilen bau“, schrieb der passionierte Pfeifenraucher.
Nun, Tausende Zeilen hat von der Vring „gebaut“, darunter so wunderbare wie das „Jägerlied“ von 1939:

Wär ich ein Wild und lebt ich in Wäldern! Unter der Neige stäubender Zweige ging mir der Winter dahin.

Erfolg hatte der aus Brake stammende Schriftsteller mit seinen Romanen, von denen gleich der erste ein Paukenschlag war. Soldat Suhren war der erste Antikriegsroman noch vor Ludwig Renns Krieg (1928) und vor Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929), als Buch erschienen 1927 und vorab veröffentlicht in der Frankfurter Zeitung ab 10. Dezember 1926.
In ihm schildert er – als Soldat Suhren (eine Anspielung auf den Geburtsnamen seiner Mutter und eine Zeit lang nannte er sich selbst Suhren) – seine Erlebnisse als Frontsoldat des 1. Weltkriegs an der Ost- und Westfront, wobei er gleich zu Beginn der Romanhandlung, die in einer Oldenburger Kaserne beginnt, den Schwerpunkt der Schilderungen auf innere Haltung und nicht auf kriegerische Handlungen fokussiert:

Der untere Rand meiner Mütze ist rot, er umsaust mein ganzes Gehirn und ist innen fettig vor Alter. Der rote Streifen sagt mir, dass sie mich gänzlich in der Gewalt haben. Der Garnisonpfarrer nennt es: die Entselbstung.

Im Roman gibt es nur eine Schilderung militärischer Handlungen. In der Schluss-Sequenz schildert von der Vring ein Gefecht an der Ostfront, das mit der Verwundung des Protagonisten endet. Der Roman Soldat Suhren, erschienen im  Berliner Verlag  Spaeth, ist ein kommerzieller Erfolg. Er erlaubt es dem Autor, seinen Broterwerb als Zeichenlehrer am  Mariengymnasium  in Jever aufzugeben und fortan als freier Schriftsteller zu wirken.
Von der Vring zieht mit seiner kleinen Familie zunächst ins Tessin, später nach Stuttgart, veröffentlicht in kurzer Folge eine ganze Reihe von Romanen, die einen Bezug zum Krieg oder historische Themen haben: Auf Adrian Dehls folgt Camp Lafayette (spielt in einem Kriegsgefangenenlager) und Station Mariotta – 1955 erscheint sein letzter (und autobiografischer) Roman Die Wege tausendundein.
In ihnen geht es um Haltungen von Menschen, in den Romanen mit Bezügen zum Krieg oft darum, wie man sich gegenüber dem Gegner verhält. Heute erscheinen dem Leser Sprache und Konflikte, um die gerungen wird, antiquiert, aus der Zeit gefallen wie der Dichter, der seinem Leben am 1. März 1968 in München ein Ende setzte. Das entwertet nicht ihre schriftstellerische Qualität, ihr Aus-der-Zeit-gefallen-sein hat freilich den Grund in dem zeitgeschichtlichen Kontext, in dem die Texte entstanden: Bei Soldat Suhren etwa hilft sie als stille wie aufrüttelnde Beobachtung des furchtbaren Kriegs dem Leser bei einer moralischen Einordnung des Geschilderten. Ähnlich ist auch der Effekt beim Lesen von Camp Lafayette.
Von der Vring konnte auch unterhalten: Die Spur im Hafen wurde sein erfolgreichster Roman mit mehr als 440 .000 Exemplaren, ein früher Heimatkrimi, in dem Brake erkennbar ist und der als De Fall Hansen auch als Theaterstück auf Niederdeutsch erschien (und noch zu den Repertoirestücken der niederdeutschen Bühnen gehört).
In den 50er Jahren wurde es stiller um von der Vring. Ein Verlag deutet bei der Ablehnung eines Manuskripts an, es werde deutlich „wie weit sich die Entwicklung des Zeitbewusstseins von dem inneren Standort entfernt hat, den ihre Dichtung einnimmt“.
Wenige Wochen vor seinem Tod besuchte von der Vring noch einmal seine Heimatstadt Brake. Am 1. März 1968 verließ von der Vring grußlos seine Wohnung. Tage später wurde sein Leichnam von Pionieren aus der Isar geborgen. Er wurde auf dem Friedhof in Hammelwarden beigesetzt. Der Schriftsteller  Heinz Piontek  hielt die Grabrede.

Hans Begerow, Nordwest Zeitung, 16.1.2018

Der letzte Meister des Liedes

– Erinnerung an den Dichter Georg von der Vring, der am 30. Dezember 1889 geboren wurde. –

Seine Lieder, meint man, müßten in aller Munde sein. So betörend ist ihr Ton, so süchtig machend, daß man sie auswendig kann, ohne sie je auswendig gelernt zu haben. Sie scheinen von sehr weit herzukommen – und sind doch in unserem barbarischen Jahrhundert entstanden, in dem kein anderer deutscher Dichter Schwermut des Gefühls und Leichtigkeit des Verses so vollendet zur Deckung zu bringen verstand wie Georg von der Vring. Tatsächlich ist aber dieser Georg von der Vring den Jüngeren nicht einmal mehr als Name und den Älteren meist nur als Name ein Begriff. Dabei ist sogar schon dieser Name wie im Bunde mit der Klangzauberkraft dieses Dichters, der weit mehr als die vier oder fünf „hinterlassungsfähigen Gebilde“, die Gottfried Benn einem Dicherleben zugestand, geschaffen hat. Auf Anhieb wüßte ich aus den über tausend Gedichten von der Vrings mindestens zwei Dutzend zu nennen, die sich in jeder Anthologie neben dem Besten von Matthias Claudius, Mörike, Lenau oder Loerke behaupten könnten.
Bezeichnenderweise stellte von der Vring selbst Claudius noch über Goethe und Hölderlin: Claudius schien ihm „nicht bedeutender, aber reiner“. Und er selbst war wohl so etwas wie ein Matthias Claudius unseres Jahrhunderts, der mit Karl Kraus über die deutschen Leser hätte klagen können: „Ihr lyrischer Fall war nicht Claudius, aber Heine“, was in Vrings Fall so zu übersetzen wäre: Ihr lyrischer Fall war nicht Vring, sondern Hesse. Verkannt wie Vring zuletzt war, verkannte er sogar sich selbst: „Es lebt, weil ihr nicht lebt, kein Sänger mehr“, schrieb er in seinem späten Gedicht „Schröder und Hesse erinnernd“ und war doch selbst dieser letzte Sänger. Nicht eine Zeile lang erlag er dem trockenen Klassizismus eines R.A. Schröder, und bei aller Natürlichkeit und Schlichtheit war von der Vring zugleich viel gesammelter und kunstvoller als Hesse, der lyrisch doch viel Leerlauf produzierte.
Von der Vrings Verse zeichnet eine fast schon rückertsche Virtuosität – vor allem auch Reim-Virtuosität – aus, die sich gerade darin zeigt, daß man ihnen die Anstrengung ihrer Entstehung nie ansieht. Die besten wirken wie zugeflogen, als wäre der Dichter nur ein Medium, dessen sich die Natur als Sprachrohr bediente. „Man mag nicht sagen Gedanken – und man mag nicht sagen Naturlyrik, vielmehr ein Gespinst aus beiden, als ob die Natur denke“, so charakterisierte W.E. Süskind, der treueste Vring-Freund, diese Gedichte. Aber was wie zugeflogen wirkt, verdankt sich angestrengtester Arbeit, oft arbeitete von der Vring seine Verse jahrelang um, bis sie schließlich jene Magie der Mühelosigkeit ausstrahlten, die sich jetzt an ihnen bewundern läßt.

NACHT OHNE DICH

Wer wird mein Herz bewahren?
Der Mond erblich.
Die Vogelwolken fahren.
Vorüberstrich
Ein Schwarm von schwarzen Jahren.

Wie staunte ich, daß von diesem Gedicht, das sich mir schon nach dem ersten Lesen unauslöschlich ins Gedächtnis grub, sieben verschiedene und aus verschiedenen Jahrzehnten stammende Fassungen existieren! „Jedes echte Gedicht ist vorhanden, bevor es gefunden wird“, notierte von der Vring einmal, „unter dem Erarbeiten geschieht das Kennenlernen des Gedichts durch den Autor. Dieser Prozeß muß bis zum vollständigen Kennen geführt werden.“ So verdüstert manche, vor allem die späteren Verse von der Vrings winken, nie herrscht in ihnen jedoch jenes unangenehme, dumpfe Dunkel, das in vielen Gedichten zeitgenössischer Autoren nur Ausdruck dafür ist, daß sie den Prozeß, von dem Vring sprach, nicht bis zum vollständigen Kennenlernen ihres Gedichts führten. Georg von der Vrings Gedichte sind klar wie große Musik – und das Allererstaunlichste ist, daß sie es von allem Anfang an sind.
„Es ist für mich ein Phänomen, daß Sie nun beinahe 60 Jahre lang Gedichte von gleichbleibender Qualität schreiben können“, schrieb dem 75jährigen der junge Christoph Meckel, der immer wieder für diesen größten Melodiker unter den modernen deutschen Dichtern warb. Mag mancher hinter modern zunächst auch sein Fragezeichen machen, weil er in Vrings Versen die harten Brüche, das Dissonate und Subversive vermißt, so wird er vielleicht doch stutzig werden, wenn er unter Vrings Verehrern nicht nur Karl Krolow und Günter Eich findet, sondern auch einen so unbedingten Experimentator wie Helmut Heißenbüttel. Und er wird beim sorgfältigen Lesen dieser Vringschen Verse vielleicht selbst entdecken können, daß sie schon deshalb nicht mit der gelegentlich an ihnen gerühmten Zeitlosigkeit zu tun haben, weil der Zeitgeist in ihnen keineswegs ignoriert, wohl aber konsequent überwunden wird mittels Zartheit und zärtlicher Ironie. „Unzeitgemäß“ statt „zeitlos“ sollte solche Subversivität des leisen Sprechens genannt werden, schlägt Christoph Meckel vor.
Unzeitgemäß war Georg von der Vring schon, als er auf das schlechthin Zeitgemäße der Epoche, nämlich den Krieg, mit einem Roman reagierte, seinem 1927 erschienenen Soldat Suhren, der nicht heroische oder hysterische Hingabe an den Rausch der „Stahlgewitter“ war, sondern sich durch den Gegenton auszeichnete. Auf die gigantische Vernichtungsmaschinerie des modernen Weltkriegs antwortete von der Vring mit dem einzig Unzerstörten, was dem geborenen Unsoldaten Suhren nach seiner „Entselbstung“ geblieben war: mit seiner Sprache, einer stillen, „schönen Prosa, wie in den Treibhausbeeten eines Robert Walser gezogen“ (so Hans Jürgen Fröhlich, der den Soldat Suhren neben Hašeks Schwejk und Arnold Zweigs Grischa zu den „überzeugendsten Büchern gegen den Krieg“ rechnete).
Der Erste Weltkrieg hat Georg von der Vring auch zum lyrischen Gegenton erzogen, hat ihn von expressionistischen Anwandlungen geheilt, die nur Entsprechungen zum grausamen Geschehen wären statt Gegensprache, wie sie die von Vring favorisierte Liedform garantierte. Ich erinnere mich noch, wie mir nur wenige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg von der Vrings Gedichtband Dumpfe Trommel, schlag an! mit „Soldatenliedern“ in die Hände geriet und wie alles in mir bereit war, diese samt ihrem Urheber vor dem Tribunal meines jugendlichen Antimilitarismus und Avantgardebewußtseins erbarmungslos abzuurteilen. Aber dann stieß ich als erstes auf das Gedicht „Im Laubgang“ und gab mich nahezu willenlos seiner Melodie und seiner Melancholie hin:

Am liebsten habe ich gelebt
Im Schleier verregneter Gärten,
Hier fanden mich gute Gefährten,
Wir haben nach Hohem gestrebt.

Sie fielen. So blieb ich allein
Und lebte, da niemand mich störte,
Ein Leben, das keinem gehörte,
Und also war es nicht mein.

Bald zieht mich der Abend hinaus.
Kühl hängt das Laub in die Gänge.
Bald schallen im Regen Gesänge
Der alten Gefährten ums Haus.

Eines dieser „Soldatenlieder“ begann so:

Am Kap der guten Hoffnung
Liegt meines Freundes Grab.
Was reim’ ich da auf Hoffnung?
Auf Hoffnung reim’ ich Grab.

So ohne jeden Hurra-Patriotismus kamen alle diesen angeblichen Soldatenlieder, die in Wahrheit Klagelieder waren, daher; keines stand im siegesreichen Flammenzeichen der Sonne, sondern das kühle Licht des Mondes regierte hier, wie etwa im Gedicht „Der Mond von Flandern“, einem der schönsten überhaupt:

Nachtgesell der andern,
Die mit uns gelebt,
Kamerad von Flandern,
Der im Klaren schwebt.

Ach, wo sind geblieben,
Die bei deinem Schein
Einst ihr Herz verschrieben,
Freunde uns zu sein.

Ihre niederen Hügel
Liegen weit von hier.
Dein umflorter Flügel
Reicht von dort zu mir.

Bis die Wolken wandern,
Eh die Nacht erfüllt –
Kamerad von Flandern,
Der sein Haupt verhüllt.

Von Feinden sprach keines dieser Soldatenlieder, wohl aber vom Jäger, der morgen schon das Los des Wildes erleidet. Und von „Grabgewölbe dieser Nacht“, in dem das durch den Krieg deformierte Ich sich auf ein „ungesehenes Nichts“ und ein „wankend Ohnewas“ reduziert sieht, dem „der Sand im Stundenglas / Fällt mit Windesschnelle“. Versteht sich, daß von der völkischen Presse diese Soldatenlieder entweder ignoriert oder harsch gerügt wurden. Sein Soldat Suhren trug von der Vrings in Oldenburg sogar eingeschmissene Fensterscheiben und Morddrohungen ein, die ihn 1928 veranlaßten, Deutschland zeitweilig zu verlassen und erst nach Ascona, später nach Wien zu ziehen.
Im Jahr 1930 kehrte er nach Deutschland zurück und nahm seinen Wohnsitz in Stuttgart, wo er 1934 sein Lektorat am Südfunk aufgeben mußte, weil er den „Hitlergruß“ verweigert hatte. Nicht zu verweigern wagte er sich später freilich der sogenannten „Truppenbetreuung“, die er von 1940 bis 1943, als er „mangels Verwendungsmöglichkeit“ aus der Wehrmacht entlassen wurde, mit der Frontzeitschrift Furchtlos und treu besorgte. Moralisch völlig unbefleckt kam also auch dieser in seiner Dichtung so vollkommen Reine in diesen schmutzig-braunen Jahren nicht davon.
Wo kam Georg von der Vring ursprünglich her? Aus einer gewiß nicht als musisch verschrieenen Gegend, aus Friesland, aus Brake an der Unterweser, einem um die Jahrhundertwende noch recht idyllischen Städtchen, das von der Vring bis zuletzt teuer blieb und in dem er auch begraben sein wollte.

Wo ich hergekommen bin,
Hat niemand Gedichte gemacht.
Sie haben abends bei Licht gelesen,
Und dann: Gute Nacht.

Aber sie hatten ein zartes Herz,
Sagten zu mancher Zeit
Worte, ich habe sie nicht verstanden,
Ob Leid, ob Streit.

Vrings Vorfahren waren alle Seeleute und Schiffsbauer gewesen, und das Unstete lag ihnen im Blut. Ein Onkel war in Amerika geblieben, und auch Vrings Vater verlor sich lange an die Ferne; er verließ, als Georg von der Vring gerade dreijährig war, die Mutter und kehrte erst wieder nach Brake zurück, als sein Sohn bereits Lehrer an der Zwergschule im nahen Pysum war und gelernt hatte, den frühen Vaterverlust mit ersten Versen und mit Bildern zu kompensieren, deren Originalität eine Maler-Karriere nicht aussichtslos erscheinen ließ. Von 1912 bis 1914 war von der Vring jedenfalls in Berlin, um Malerei zu studieren, und nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft arbeitete er von 1919 bis 1928 in Wilhelmshaven und Jever als Zeichenlehrer. Erst 1926 entschied er sich endgültig für die Literatur.
Die erste Begeisterung für Verse hatte ein Lehrer am Oldenburger Lehrerseminar mit Lenau-Gedichten erweckt, in ihm, der sich sonst eher wenig aus Büchern und weit mehr aus Fußball und Mädchen machte. Wenn auch nach Lenau noch diverse Dichter von Verlaine bis Liliencron und George, von Hermann Bang und Jens Peter Jacobsen bis zu Knut Hamsun den jungen von der Vring entzückten und beeinflußten, so kamen ihm doch aus dem „Schatten junger Mädchenblüte“ lange seine intensivsten und innigsten Inspirationen.

Ach, auf die Stund zu warten,
Wo niemand mehr hier geht,
Durch den tropfenden Garten
Lauschen bis abends spät.

Und endlich unter Zweigen,
Wenn du durchs Dunkel herrennst,
Dir meine Augen zu zeigen,
Was du in ihnen erkennst.

Georg von der Vring ohne Verliebtheit ist fast so undenkbar wie ein unverliebter Robert Walser. Und bis ins hohe Alter erhielt beiden diese nur auf Erwartung und Staunen, nicht aber auf Erfüllung gerichtete erotische Empfindsamkeit – ihre Kindhaftigkeit, jenen höheren Grad von Unzurechnungsfähigkeit, der wohl eine Voraussetzung für große, reine Poesie ist – eine Poesie, die nicht schwitzt. Was sich in Vrings Versen paart, sind nicht so sehr Geschlechtswesen als vielmehr Zärtlichkeit und Trauer, diese schönen Töchter jener entsetzlichen Einsamkeit, die diesem Dichter bestimmt war.
Resi Oberlindober, eine Kommilitonin aus Bayern, die der junge Kunststudent 1914 in Berlin kennengelernt hatte und die bald seine Braut und 1917, durch eine Kriegstrauung, seine Frau und die Mutter seiner beiden Söhne Peter und Lorenz wurde, Resi starb im Mai 1927, und diesen Verlust hat Georg von der Vring nie mehr verwunden, auch wenn er sich noch zweimal verheiratete. Bis zuletzt hat der Dichter mit der Toten in seinen Gedichten Zwiesprache gehalten:

Bei meines Lebens Narretein
Da ward ich einmal klug,
Ich liebte mich in dein Herz hinein,
und tat’s doch nie genug.

Dein Mund, so schön, dein Auge klar,
War alles, was ich frug,
Bis dass ich gar verwandelt war,
Und war’s doch nie genug.

Du wurdest unsre Mutter dann,
Die meine Kinder trug,
Ich saß bei dir und sah dich an,
Und tat’s doch nie genug.

Und als das Unheil lauerte,
und als der Tod dich schlug,
Da weint ich hin und trauerte,
Und tat’s doch nie genug.

Wie dank ich’s dir? Das Leben hier
Ist eines Vogels Flug.
Was ich noch bringe, bring ich dir,
Doch nie und nie genug.

Viele Verse, die Vring im Alter schrieb, überraschen durch eine fast an Goethe erinnernde Kombination von Anmut und heiterer Gelassenheit, die Vring freilich nur noch im Vers und längst nicht mehr im Leben gelang. Bitter: Unter diesem Namen erscheint Georg von der Vring im Roman Tagebuch vom Überleben und Leben von Hermann Lenz, als gebrochene und in ihrem Dichtermut und ihrer Liebeskraft dennoch imponierende Figur. Bitter war dem Dichter, der 1951 von Stuttgart in einen gesichtslosen Münchner Wohnblock gezogen war, inzwischen sein Leben geworden, nicht zuletzt deshalb, weil er sich von einer literarischen Jugend, die nach 1945 erst einmal einen ungeheuren Nachholbedarf an bislang vorenthaltener Avantgarde befriedigen mußte, aufs literarische Abstellgleis gestellt sah. Junge Dichter, die seine Nähe suchten, waren selten und lernten, wie Christoph Meckel, „einen gepeinigten Menschen kennen, von Leidenschaften und Zweifeln außer sich, in Verlusterfahrung des Alterns ohne Trost“. Und wenn er auch seine Verse vom Tumult, der in der Welt war, freizuhalten verstand, den Tumult, der in der eigenen Brust herrschte, vermochten sie nicht mehr zu besänftigen. Das „sanfte Gesetz“, dem er anhing, garantierte kein sanftes Ende: Am 1. März 1968 wählte der fast schon Achtzigjährige den Freitod in der Isar, er verband sich zuletzt wieder jenem Element, das er von seinem Anfang in Brake an als sein eigentliches empfand, dem Wasser.
Wenige Wochen vor seinem Freitod hatte er ein Gedicht mit dem Titel „Zuletzt“ angefangen:

Jede Nacht
Um den Tod beten –
Es hat mich die Welt
Zu Boden getreten

Doch Selbstmitleid gestattete er sich sonst im Vers sowenig wie Empörung. Bei aller Bitterkeit und allem Gram war er doch ein Mann von lutherischer Zuversicht, wovon das späte Gedicht „Das Schweigen“ zeugt:

Die letzten tauben Jahre,
Die nimmt ihm niemand ab;
Sie sind die sonderbare
Vernebelung vor dem Grab.

Wenn je die Wand sich lichtet,
Sein Zauberland erscheint,
So ist’s von ihm erdichtet
Und nicht für ihn gemeint.

Man sagt, er sei jetzt weise;
Doch wer so spricht, der irrt.
Es schweigt in jedem Greise,
Was ihm begegnen wird.

Wo alle ringsum sprechen,
Sinnt er dem Einen nach;
Gott wird sie unterbrechen,
Wie er ihn unterbrach.

Es lassen sich in unserem Jahrhundert nicht viele vollkommenere lyrische Gebilde als das vorstehende im Deutschen denken, und man fragt sich, wie unsere Lesebücher und unsere Lyrikleser ohne solche Schätze auszukommen vermögen. Zu diesen Schätzen zählen übrigens genauso Vrings kongeniale Übertragungen englischer Poesie, die er 1953 in seiner Anthologie Englisch Horn sammelte, die leider seit langem vergriffen ist. Der Vergleich mit den Übertragungsleistungen Georges, Rilkes und Celans ist nicht zu hoch gegriffen. Vring ist ein traumwandlerisch sicherer Anverwandter vom Fremden ins Vertraute und Eigene, wobei ihm bezeichnenderweise, obwohl er selbst doch keine Ariel-Natur war, die geisterhafte Leichtigkeit Shakespeares und seiner in die Stücke eingestreuten Lieder am meisten liegt.
„Daß Tränen der Bitternis Licht sind“, das war für Georg von der Vring ein ästhetisches Credo; Bitternis in Süße und Schwermut in Leichtigkeit zu verwandeln, darauf verwandte er ein langes Dichterleben. Das „Zeitalter der Prosa“, das Hegel heraufkommen sah, hat er nie akzeptiert oder gar bedient. Wie reich dieser Dichter die Deutschen beschenkt hat, wenn sie denn das Geschenk nur endlich auch annehmen würden, zeigt die zum hundertsten Geburtstag des Dichters erschienene Gesamtausgabe aller veröffentlichten Gedichte sowie einer Auswahl aus Vrings Nachlaß, die Barbara Bondy, Heinz Piontek und Christoph Meckel getroffen haben. In seinem mit freundschaftlicher Emphase geschriebenen Nachwort weist Christoph Meckel darauf hin, wie deutsch die Motive der Vringschen Verse sind. Sollte das in einem Moment, da Deutsches auch im guten Sinne wieder gefragt ist, nicht eine Wiederentdeckung Georg von der Vrings begünstigen? Es war Friedrich Sieburg, der 1954 in einer Besprechung von Vrings Gedichtband Kleiner Faden Blau schrieb, „daß von der Vring sich mit seinen Gedichten in eine solche Einsamkeit begeben und sich hinter soviel machtvoll empfundener Natur verschanzt hat, daß seine Poesie sich ins Gesellige des bewohnten Tages zurückzusehnen scheint, wie die Toten, denen Odysseus begegnete, aus der Schattenwelt hinaus nach oben drängten“.

Peter Hamm, Die Zeit, 5.1.1990

 

GEORG VON DER VRING ZUM GEDÄCHTNIS

Der Gletscherfluss war nicht sein Ziel!
Schwamm tapfer aus, versank.
Die Sternnacht kam herauf so kühl,
den Becher Tod er trank.

Vom Mond beschienen, das Gesicht
vertrotzt, im Wasser blass,
ging mit der Strömung fort. Ein Licht
fuhr in das Schaukelnass.

Die Fragen, die er stellen wollt,
sind von ihm selbst getan.
Verblieb das Grün, verblieb das Gold,
das seine Träume sahn.

Jürgen Eggebrecht

 

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Georg Schneider: Der Mann am Fenster
Die Tat, 23.12.1964

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Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Georg von der Vring: Die Tat

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