Gerard Manley Hopkins: Geliebtes Kind der Sprache

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gerard Manley Hopkins: Geliebtes Kind der Sprache

Hopkins-Geliebtes Kind der Sprache

DIE KERZE DRINNEN

An einem klaren Kerzenlicht gehe ich irgendwo
aaaaavorbei.
Ich denke nach, wie denn ihr Sein selig
aaaaazurückscheucht
Geschmeidig gelblich-mild das Schlaf-all-Schwarz der
aaaaaNacht
Oder hin-her sanft Balkenstrahlen der Tram trudeln
aaaaaans Aug.

An diesem Fenster tun welche Finger welcherlei Verrichtung,
Grüble ich fort, verlangend, nur aus Antwortmangel,
Heftiger noch verlangend, daß Hilde oder Hans
Dort / Gottes Ruhm vermehren, Gott verherrlichen. –

Nach drinnen komm, komm heim; sieh zu zuerst nach deinem
Schwachen Feuer, der Kerze lebenswichtig im engen Herzgewölb;
Du bist dort Meister, mach’s nach deinem Willen;

Was hindert? Bist du denn balkenblind, doch flink zur Hand
Bei Nachbars Fehlen? Bist jener Lügner du,
Geschüttet vom Gewissen aus, kraftloses Salz?

 

 

 

Wortkaskaden von lauterer Schönheit

– Gedichte von Gerard Manley Hopkins in neuer Übersetzung. –

Auch wenn das lyrische Œuvre von Gerard Manley Hopkins (1844-1889) vergleichsweise schmal blieb, setzte es Massstäbe durch seine Gestaltungs- und Innovationskraft. Nebst einer repräsentativen Auswahl der Gedichte in neuer Übersetzung liegt auch eine Neuauflage von Hopkins’ Journal auf Deutsch vor.

Am Morgen des 5. Dezember 1875 lief die „Deutschland“ mit dem Ziel New York von Bremerhaven aus. An Bord befanden sich unter anderen fünf franziskanische Nonnen aus Salzkotten, die wegen der Falkschen Gesetze, mit denen Bismarcks Regierung die Religionsfreiheit einschränkte, von ihrem Orden nach Übersee geschickt wurden. In der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember havarierte das Schiff vor der englischen Küste. Die stürmischen Wetterverhältnisse erlaubten keine sofortige Bergung; als am nächsten Tag ein Rettungsschiff eintraf, waren bereits ein Drittel der Passagiere ertrunken, darunter eben auch jene fünf Franziskanerinnen. Angeregt von der Bemerkung seines College-Rektors, jemand solle über diese Katastrophe ein Gedicht schreiben, brach der Jesuit Gerard Manley Hopkins sein siebenjähriges, selbstauferlegtes dichterisches Schweigen und verfasste das 35-strophige Gedicht „The Wreck of the Deutschland“, dessen sprachliche Wucht und Originalität mit keiner zeitgenössischen englischen Dichtung vergleichbar war.

Begabung und Entsagung
Gerard Manley Hopkins, geboren 1844 in Stratford, Essex, zeigte bereits in Jugendjahren künstlerische und dichterische Begabung. Im Oktober 1863 trat er in das Balliol College Oxford ein und studierte vier Jahre lang klassische Philologie. Hier wurde Hopkins mit der ihn prägenden Geisteswelt von John Ruskin und den Präraffaeliten bekannt, aber auch mit dem Oxford Movement, das die katholischen Lehren im Anglikanismus stärker hervorheben wollte. Hopkins trat im Oktober 1866 in die katholische Kirche ein und schloss sich nach reiflicher Prüfung 1868 der Gesellschaft Jesu an, durchlief deren Noviziat und studierte anschliessend Theologie und Philosophie. 1877 wurde er zum Priester geweiht, wirkte für vier Jahre als Pfarrer und übernahm 1884 einen Lehrstuhl für Griechisch in Dublin, den er bis zu seinem vorzeitigen Tod 1889 innehatte.
Nach der Entscheidung, Priester zu werden, verbrannte Hopkins Kopien seiner frühen Gedichte, weil ihm das Schreiben als unvereinbar mit seiner Berufung galt. In dem von 1863 bis 1875 geführten Tagebuch spricht er in diesem Zusammenhang nur lakonisch vom „bethlehemitischen Kindermord“ („Slaughter of the innocents“). Hopkins’ Journal ist offenkundig eine Kompensation für seine literarische Entsagung und Enthaltsamkeit. Von persönlichen Empfindungen und Erlebnissen berichtet es gar nicht oder nur am Rande; dafür finden sich, neben zahllosen Wetternotaten, Beobachtungen vor allem von Landschaft und Architektur.
Die Farben und Formen der Natur beschreibt Hopkins wie sich vor ihm ausbreitende Gemälde. Hier skizziert und probiert er originelle Formulierungen und Metaphern, die gleichsam Materialsammlungen zu nicht ausgeführten Gedichten scheinen und den Stil der späteren Dichtung bereits erahnen lassen. Die Neuauflage des vollständigen Journals ist zu begrüssen, dennoch bleibt bedauerlich das Fehlen jeglicher Anmerkung, die die Texte in einen biografischen Bezug stellen würde, und die zuweilen recht bizarre Übersetzung, die etwa „a spray-end of ash“, wörtlich: das Zweig-Ende einer Esche, in „das Sprüh-Ende einer Eiche“ verwandelt.

Komplexe Schönheit
In einem Brief aus dem Jahre 1877 teilte Hopkins dem Freund Robert Bridges mit: „Ich schreibe nicht für die Öffentlichkeit.“ Tatsächlich ist zu Hopkins’ Lebzeiten keines seiner Gedichte veröffentlicht worden. Erst 1918 brachte Bridges einen schmalen Band aus dem Nachlass heraus. Ein im Manuskript erhaltenes „Vorwort des Verfassers“ belegt aber, dass Hopkins später wohl doch an eine Publikation dachte. Dort erklärt er vor allem, warum manche seiner Gedichte im „Running Rhythm“, andere im „Sprung Rhythm“ und wieder andere in einer Mischung aus beiden geschrieben seien. Diese Ausführungen zu formalen Strukturen lesen sich wie eine Bestätigung für die dem Gedicht innewohnende Schönheit. Denn Schönheit, komplexe Schönheit, sei „eine Mischung von Regelmässigkeit und Unregelmässigkeit“, behauptete Hopkins in einem Dialog, den er bereits als Student geschrieben hatte. Und komplex – von manchen Kritikern manieristisch gescholten – sind Hopkins’ Gedichte allemal.
Der Autor Hopkins ist vom Priester Hopkins so wenig zu trennen wie Natur und Religion in seiner Dichtung. Darüber dürfen Konflikte, die beispielsweise in dem die Inspiration betreffenden Aufschrei „Ich bin ein Eunuch“ zum Ausdruck kommen, nicht hinwegtäuschen. Vor allem in den Gedichten des Jahres 1877, des Jahres seiner Priesterweihe, zelebriert Hopkins eine ekstatische Daseinsfeier der Schönheit. „Mit Gottes Pracht die Erde ist aufgeladen“ und „Gott sei gerühmt für das Getüpfelte – / Für Paarfarbhimmel wie geflecktes Vieh“ sind nur zwei berühmte Beispiele für diesen Jubel. „Poetry is praise“, Dichtung ist Lobpreis, lautet eine von Hopkins‘ Definitionen, die er selbst pointiert umgesetzt hat.
Später, wenige Monate vor seinem Tod, als Hopkins die zahlreichen Schwierigkeiten als Priester und mit den Studenten, seine Erschöpfung und seine Kränklichkeit betrachtet, schlägt er ganz andere Töne an. Der Sehsinn ist erschlafft, und mit ihm auch die Inspiration. Als „Gicht der Augen“ bezeichnet Hopkins dies in einem Brief an Bridges. Noch in dem letzten Gedicht, das beinahe aller früheren Sinnlichkeit entbehrt, heisst es meditativ: „Süssfeuer, Musenzeuger, das fehlt meiner Seele; / Die eine Inspirationsverzückung brauche ich.“ Ihm kommt der Verdacht, dass man wohl „in meinen trägen Zeilen // Brausen, Beflügelung, Jubel, Schöpfung“ vermisse.
Hopkins’ Sprache ist in ihrem Klang- und Bedeutungsreichtum derart straff strukturiert, dass eine Übersetzung grundsätzlich nur eine Annäherung sein kann. Dorothea Grünzweig ist sich dieses Umstands sehr wohl bewusst und spricht in dem Zusammenhang von einer „Suchbewegung“ der Übersetzung. Trotz dieser Einschränkung ist ihre deutsche Fassung diejenige, die bis heute am überzeugendsten Hopkins‘ Duktus im Deutschen nachzubilden versucht. Erstmals erhalten die Eigentümlichkeiten und Neologismen eine nachhaltig überzeugende deutsche Stimme, erstmals sind die Mehrdeutigkeiten in der Wortwahl und die klanglichen Strukturen angedeutet.

Textnah und poetisch
Bei allen hohen Verdiensten, die man anderen Übersetzungen zugestehen muss, ist Grünzweig oft eine Spur näher am Originaltext und poetischer. Ein Beispiel, die erste Strophe von „Hurrahing in Harvest“, mag dies verdeutlichen:

Summer ends now; now, barbarous in beauty,
the stooks rise
Around; up above, what wind-walks!
what lovely behavior
Of silk-sack clouds! has wilder, wilful-wavier
Meal-drift moulded ever and melted
across skies?

Ursula Clemen und Friedhelm Kemp haben in ihrer monumentalen Ausgabe von 1954 (ern. 1973) poetischen Duktus und exakte Wörtlichkeit miteinander zu verbinden gewusst:

Sommer endet nun; nun richten, barbarisch
in ihrer Schöne, die Garben sich
Ringsum auf; hoch droben,
welche Windbahnen! welch anmutig Gebaren
Von Seidensack-Wolken! ist wildere,
eigenwillig-gewelltere
Mehl-Drift je himmelüber geflockt
und zerschmolzen?

Stefan Döring verleiht seiner Übersetzung (1995) ein etwas poetischeres Flair, nimmt dafür aber unnötige Freiheiten in Kauf:

Sommer geht nun; nun schroff in Schönheit,
die Garben rings
Sind gerichtet; hoch droben, welch Wind-Wege!
welch liebliches Streben
Von Seidensack-Wolken! ward jemals wilderer
verwegen-
Gewellter Mehlfarn geformt, zerfliessend
himmelhin?

Auch die Version von Dorothea Grünzweig nimmt sich kleinere Freiheiten heraus, wirkt jedoch in der rhythmischen und klanglichen Struktur geschlossener als ihre Vorgänger:

Der Sommer hört auf; schockend in Schönheit
erstehen Hocken
Rundum; hoch oben, welcher Windwurf!
welch süsse Allüren
Von Seidensack-Wolken! hat sich wilder,
ichwillig-welliger
Je Mehl-Drift geschmiegt und ergossen
übers Blau?

Die zweisprachige, trotz einigen störenden Druckfehlern sehr schön gestaltete Ausgabe der Edition Rugerup ist nicht ganz so umfangreich wie die Übersetzung von Clemen und Kemp, enthält jedoch sämtliche wichtigen und für ihre Originalität gerühmten Gedichte aus der englischen Edition von Robert Bridges und W.H. Gardner, nämlich 70 von insgesamt 122. Überdies wartet sie mit profunden Anmerkungen und zwei sympathischen, geistvollen Essays der Übersetzerin auf, die Hopkins’ Werk bis in etymologische Details erhellen. Aus diesen Gründen ist diese Ausgabe nichts Geringeres als ein Meilenstein in der deutschsprachigen Hopkins-Rezeption. Als Ergänzung kann man auf einem in Kooperation mit dem Lyrik-Kabinett München produzierten Tonträger eine zweisprachige Rezitation der prächtigsten Gedichte Hopkins’ hören, die durch zwischengeschaltete Erläuterungen von Dorothea Grünzweig an Tiefe gewinnt.

Jürgen Brôcan, Neue Zürcher Zeitung, 3.4.2010

Errötende Landschaften

– Gedichte bilden nicht ab, sie erzeugen vielmehr die Wirklichkeit: Dorothea Grünzweig übersetzt Gerard Manley Hopkins und führt in das Werk des Engländers ein, der zu den eigensinnigsten Poeten des neunzehnten Jahrhunderts zählt. –

Wie soll man einen Dichter beschreiben, der den Beschreibungsvorgang selbst immer wieder zum Thema seiner Gedichte gemacht hat? Und noch schlimmer: wie einen übersetzen, dem die Sprache so flüssig wie die Phänomene flüchtig waren? Es kommt hinzu, dass wir Gerard Manley Hopkins (1844-1889) literaturgeschichtlich nur schwer einordnen können. Er war weder Viktorianer noch Romantiker oder Modernist. Er ist in seiner Haltung mit Hölderlin zu vergleichen, in seinem lyrischen Wagemut jedoch auch mit Dadaisten und Imagisten. Nicht nur in der Literatur, auch in seiner Zeit stand er quer: Mit 22 Jahren konvertierte er zum Katholizismus, zwei Jahre später, 1868, entschied er sich, Geistlicher zu werden, und schloss sich den Jesuiten an. Seine Gedichte verbrannte er und gab für die nächsten Jahre das Schreiben auf.
Im Jahr 1874 jedoch regte ihn der Rektor seines Colleges an, doch einmal ein Gedicht über ein Schiffsunglück zu schreiben. Auf dem Weg nach Amerika war die „Deutschland“ in einer Dezembernacht vor der Küste Kents gesunken. Unter den 57 Toten waren fünf Franziskaner-Nonnen aus Salzkotten, die Deutschland wegen der Religionsbeschränkungen durch Bismarck verlassen wollten. Bei Hopkins führte der Schiffbruch zu einem poetischen Durchbruch. „The Wreck oft the Deutschland“ ist eines seiner bekanntesten Gedichte geworden, ein schmerzensvoller Dialog mit Gott und Christus, mit den Elementen und dem „Gezeitenmeister“, und vor allem mit sich selbst, einem Selbst, das im fernen, pastoralen Wales unter einem Dach geschützt sitzt. In einem frühen Gedicht sprach er noch von dem Himmelshafen, den die Nonne sucht, wo alles zahm ist, fern von „des Meeres Beben“. Vielleicht erkannte er in der Niederschrift über den Schiffbruch, dass Religion kein Schutzmantel war.
Die Rückkehr zur Poesie hatte auch einen theologischen Grund. Hopkins beschäftigte sich damals mit dem mittelalterlichen Philosophen Duns Scotus, für den das konkrete Ding mit seinem besonderen Sosein Zugang zum Göttlichen bedeutete. Die Hinwendung zur Natur und ihren Phänomenen war demnach ein richtiger Weg, und Hopkins beschloss, ihn zu beschreiten.
Erst 1918, rund dreißig Jahre nach Hopkins‘ Tod, brachte sein Freund Robert Bridges, der spätere Poet Laureate, eine Sammlung heraus. So konnte er auch auf den längst entstandenen Modernismus kaum noch wirken, immer segelte er am Wind der Zeit vorbei: War der im selben Jahr wie Nietzsche Geborene spätromantisch, präraffaelitisch, symbolistisch, imagistisch? Seine Gedichte sind nicht nur eine Herausforderung für die Übersetzer, sie sind so opak, schwirrend und echohaltig verwirrend, dass es sogar Übersetzungen in die englische Normalsprache gibt.
Nicht in jedem Fall dürften Lyriker die besseren Übersetzer von Lyrik sein, aber bei Hopkins muss man davon ausgehen. Kein Zufall, dass der Lyriker Peter Waterhouse vor einigen Jahren die Tagebücher übersetzt hat – auch sie enthalten schwierigste poetische Naturskizzen zuhauf. Dorothea Grünzweig ist Lyrikerin, lebt in Finnland und hat sich seit ihrem Anglistik-Studium mit Hopkins auseinandergesetzt. Ein Umweg über die Beschäftigung mit finnisch-uigurischen Sprachen und die Zusammenarbeit mit einer britisch-finnischen Germanistin führte zu ihren eigenen Übersetzungsversuchen. Übersetzer aber sind nicht nur dem Text ausgesetzt, sie müssen auch vergleichen, wie andere Fährschiffe die Überfahrt über den reißenden Fluss geschafft haben. Doch die alten Fährschiffe taugen bei den heutigen Strömungen nicht mehr, zumal das Bildungsufer viel flacher geworden ist. So wurde die Hopkins-Übersetzung von Kemp und Clemen von 1954 für Grünzweig dauernde Stimulation und Herausforderung. Man kann in ihrer Übersetzung eine Art Trialog hören zwischen Hopkins, ihr und anderen deutschen Übersetzern. Wie Hopkins alte Wörter wiederbelebt, so erinnert uns die Übersetzerin an einen vergessenen Wortschatz in der eigenen Sprache: Erde hudert, Gelitzt, dätschig, Zockelholz. Oder sie lässt sich von Hopkins’ Erfindungen anregen und dichtet der deutschen Sprache neue Verben hinzu: vatern, kindern, muttern, inseln. Mehrfach setzt Grünzweig zu einem Verständnis dieses exzentrischen Dichters an und diskutiert Varianten in den Anmerkungen. All das sind Annäherungen an eine Sprache, die sich religiösen Impulsen verdankt, selbst wenn diese politisch, patriotisch oder erotisch gefärbt sind. Hopkins’ Ergriffenheit vor der Schönheit der Dinge und Menschen sucht stammelnd nach Worten, man möchte von einer lallenden Präzision sprechen, einem kindlichen Sprechen mit den Werkzeugen der Erwachsenen.
Erst wenn Sprachen zu hallen und lallen beginnen, werden einem die Verwandtschaften klar. Einer seiner deutschen Bewunderer, der Naturlyriker Wilhelm Lehmann, sprach vom Fest der Sinne bei Hopkins, der immer neu zu erobernden Identität von Gedanke und Empfindung. Identität ist nur als Verwandlung erlebbar. Für diese dynamische Einheit fand Hopkins die kaum übersetzbaren Begriffe von „inscape“ und „instress“ – Grünzweig übersetzt sie einmal als „Ingefüge“ und „Inwirkung“, ein andermal als „Einschaft“ und „Einkraft“. Es geht um eine Energie, die Identität bildet, und um deren Übertragung auf den Betrachter, und diese Prozesse teilt die Dichtung mit der Natur. Hopkins erneuerte die romantische Lyrik durch Rückgriffe auf die Akzentverteilung des Altenglischen, aber auch durch eine musikalische Lenkung von Sprache. Gedichte bilden hier nicht mehr ab, sie sollen geradezu Wirklichkeit erzeugen. So sind wir bei Hopkins Zeugen von unaufhörlichen Schöpfungsprozessen.
Auf dem Umschlag des Bandes zeigt eine Zeichnung von Hopkins ein Kind, das von einer Brücke aus einen Wasserfall betrachtet. Zwischen uns und diesem Kind ist ein Abgrund, so wie zwischen Original und Übersetzung; aber der Abgrund ist eine Zeichnung. Grünzweigs neue, insgesamt sehr überzeugende Übersetzung wird begleitet von einem Hörbuch, das den wunderbaren Titel „Auf dem Rückflug zur Erde“ trägt. Gedichte Hopkins‘ werden auf Deutsch und Englisch vorgetragen, eingeschoben sind Ausschnitte aus einem Vortrag der Übersetzerin, und begleitet wird diese erhellende Mischung von Cembalosuiten Henry Purcells, den Hopkins so sehr bewunderte, dass er ihm ein Gedicht widmete. Die letzte Zeile dieses Gedichtes kann man getrost auf sein eigenes Werk anwenden: „Errötet alle Landschaft jählings bei dem Klang.“

Elmar Schenkel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.2.2010

Hooligans des Himmels

– Fabelhaft neu übersetzt: die Poesie des großen Briten Gerard Manley Hopkins. –

Seine Gedichte sind, wie wenige andere ihrer Zeit, von Empathie getragen. Sie sind wild-schöpferisch, eruptiv und berauscht. Liest man etwa die oft anthologisierte „Gescheckte Schönheit“ mag man kaum glauben, dass man es mit einem Dichter des 19. Jahrhunderts zu tun hat. Für Gerard Manley Hopkins war es ein unlösbarer Konflikt, Ästhetik und Askese zu verbinden. Nur im Zeugungsmoment eines Gedichts war dieser Konflikt für ihn aufgehoben.
1844 in Stratford, Essex geboren, konvertierte Hopkins 22-jährig zum Katholizismus; zwei Jahre später trat er in den Jesuitenorden ein. Es folgten ein Theologiestudium sowie seelsorgerische Tätigkeiten an ständig wechselnden Orten. Man kann sich diesen Mann als eine Art konfessionellen Streetworker vorstellen, mit allem, was das für die Seele eines Schöngeistes wie ihn bedeutet haben muss. Sein langjähriger Freund Robert Bridges machte sogar die strengen Regeln der Jesuiten (Briefzensur, Selbstbestrafungsexerzitien) für Hopkins’ frühen Tod 1889 verantwortlich.
Hopkins hat zu Lebzeiten nichts veröffentlicht. Mit Horaz glaubte er, dass ein Gedicht neun Jahre auf seine Veröffentlichung warten sollte, damit es wachsen und reifen könne. Es war ein Ordensoberer, der ihn 1875 zu dem Poem „The Wreck of the Deutschland“ (Der Schiffbruch der Deutschland) aufforderte. Mit ihm setzte die zweite, wesentliche Schaffensphase des Dichters ein.
Hopkins forscht darin seiner eigenen Hinwendung zum Katholizismus nach. Doch mit seinen eigenwilligen sprachlichen und rhythmischen Neuerungen hatte er zunächst wenig Erfolg, und so blieb auch dieser Text ungedruckt, nachdem die Jesuitenzeitschrift The Month ihn sogar schon angenommen hatte.
Hopkins ist ein Dichter des Rühmens und Preisens. Sehen, Schauen, Aufnehmen – das war für ihn ein fast erotischer Vorgang. Eine andere Verkündigung. Doch nicht einmal der spätere Poeta laureatus Robert Bridges, der 1918 eine erste Hopkins-Ausgabe besorgte, konnte einen Zugang zu dieser Poesie finden. Hopkins ist schwer übersetzbar. Ursula Clemen und Friedhelm Kemp haben sich daran versucht (1954 bei Kösel, 1973 bei Reclam), Wolfgang Kaussen (1993 im Verlag SPQ) sowie Stefan Döring, Gerhard Falkner, Henryk Gericke und Andreas Koziol (1995 bei Galrev). Nun also die in Finnland lebende Dichterin Dorothea Grünzweig, die eine lebenslange Liebe zu Hopkins verbindet, worüber sie in einer Nachbemerkung Auskunft gibt.
„Geliebtes Kind der Sprache“, zu dem parallel eine Hörbuch-Einführung des Münchner Lyrik Kabinetts erscheint, ist ein Buch, dem man anmerkt, dass es aus einer poetischen Leidenschaft geboren ist. Dorothea Grünzweig befindet sich mit ihren Übertragungen ganz auf der Höhe von Hopkins’ bestürzend neuartigen Wortschöpfungen.
Man könnte ein eigenes Wörterbuch des Grünzweig’schen Hopkins-Deutsch zusammenstellen. Wörter und Wortschöpfungen wie „Gefetz, Gelitz von Grünerei“ (Eschenäste), „die tüpflige Hinschwinde-Wange“ (Morgen-, Mittag- und Abendgabe), „Lustiglaschen, an Lindenbäumen“ (Heiterer Bettler) oder gar „Himmels-Hooligans“ und der „lichte Randaliererwind“ müssten darin Platz finden. Da die Ausgabe zweisprachig ist, kann jeder selbst ihre Leistung überprügen: „Wolken-Bauschball, Fledderbüschel, Flatterhaipfel / brüsten sich, / tollen dann fort auf luft- / Gebauter Durchgangsstraße: Himmels-Hooligans, Gebrüder Lustig, / sie wimmeln; glitzern in Paraden…“. Dorothea Grünzweig, die für ihr eigenes Werk am kommenden Dienstag den ersten Anke Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis der Deutschen Schillerstiftung in Weimar erhält, hat uns einen Hopkins geschenkt, mit dem wir es lange werden aushalten werden.

Volker Sielaff, Der Tagesspiegel, 23.10.2010

 

Arnfrid Astel: Ingestalt und Inkraft bei Gerald Manley Hopkins

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Dorothea Grünzweig

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDb + Internet Archive

 

Gerard Manley Hopkins – Dokumentarfilm To seem the Stranger, Teil 1/5.

 

Gerard Manley Hopkins – Dokumentarfilm To seem the Stranger, Teil 2/5.

 

Gerard Manley Hopkins – Dokumentarfilm To seem the Stranger, Teil 3/5.

 

Gerard Manley Hopkins – Dokumentarfilm To seem the Stranger, Teil 4/5.

 

Gerard Manley Hopkins – Dokumentarfilm To seem the Stranger, Teil 5/5.

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