Gert Ueding: Zu Christoph Meckels Gedicht „Geerntet der Kirschbaum, der Juni zu Ende“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christoph Meckels Gedicht „Geerntet der Kirschbaum, der Juni zu Ende“ aus dem Band Christoph Meckel: Säure. –

 

 

 

 

CHRISTOPH MECKEL

Geerntet der Kirschbaum, der Juni zu Ende

Geerntet der Kirschbaum, der Juni zu Ende,
aber im Traum trug ich Kirschen zurück in die Bäume,
hängte sie zwischen die Blätter und rief:
Die Kirschenzeit ist gekommen, bring Körbe und Leitern
und flieg in den Kirschbaum zu mir, wir träumen nicht lange!

 

Die Zeit zurückdrehen

„Ich denk daran / Daß wir nutzlose Dinge liebten, wo immer wir waren“, heißen die Schlußverse eines anderen Gedichts aus dem Zyklus, den Christoph Meckel „Säure“ überschrieben hat. Die Dinge spielen eine so wichtige Rolle darin, daß sie manchmal vor das eigentliche Ziel der Erinnerung, die verlorene Geliebte treten und es verdrängen. Auch der Einfall, den Kirschbaum gleich nach der Ernte wieder mit Früchten zu bestücken, im Raum also die natürliche Reihenfolge umzukehren wie einen Film, den man rückwärts laufen läßt, dieser Einfall verselbständigt sich, weitet sich aus zu der Allegorie des allgemeinen und allezeit populär gewesenen Wunsches, die Zeit zurückdrehen zu können. Der Bezug zur geliebten Frau, um deretwillen doch diese Verkehrung geschehen soll, geht dabei fast verloren.
Oder genauer: Er wird ersetzt durch die Beziehung zu den Dingen, und das ist möglich, weil diese Dinge eine sehr intensive Beziehung zu den beiden Liebenden hatten, die mit ihnen umgegangen sind. Die Suche nach der verlorenen Zeit kann die Dinge nicht entbehren. Proust hat eindringlich beschrieben, wie das gesamte Gebäude der Erinnerung in unscheinbaren Gegenständen gleichsam verschlossen ist, sich aber öffnet, wenn wir sie berühren, schmecken, riechen. Auch das in Tee aufgeweichte kleine Stück Madeleine dreht in einem einzigen Augenblick die Zeit zurück, vermittelt jenes unerhörte Glücksgefühl, das aber schon wieder mit der Wehmut des Vergangenseins, die gleich nachher folgt, seltsam vermischt ist.
Für den Liebenden, der die Geliebte verloren hat, ist seine ganze verbliebene Welt angefüllt mit Gegenständen, an denen die Erinnerungen hängen, weil sie Teile eines glücklichen Stück Lebens waren. Ja, er findet seine schmerzliche Wollust darin, sich ganz in den Anblick, die Empfindung solcher Dinge zu vertiefen, sie in der Einbildungskraft wieder zu ergänzen, also etwa zum „Gürtel ihres roten / Bademantels“ (in einem anderen Gedicht) all die Figurierungen, die sich durch ihn einst verbinden oder auflösen ließen. Danach bleibt zwar nur wieder die Erfahrung „Anfangen zu leben mit nichts / und einem Gürtel“, aber auch sie hält auf Dauer den Erinnerungen nicht stand.
Der Traum von der wiedergekehrten Kirschenzeit ist natürlich auch ein erotischer Wunscherfüllungstraum. Unser Sprachgebrauch zeigt, daß die Kirsche, dem Kirschrot, der Kirschform oft eine erotische Bedeutung zukommt, daß jemandem nachsteigen eine Redensart ist, die ebenso einen sexuellen Sinn hat wie die alte Vorstellung, daß Mann und Frau gemeinsam die Früchte des Liebesbaums genießen. Aber das sind eher beiläufige Anspielungen, die den eigentlichen Zweck des Gedichts, die elegische Erinnerung und seine eigentümliche Wirkung nur verstärken. Der Bildakzent liegt doch auf dem jahreszeitlichen Wechsel von Werden und Vergehen, und er knüpft an eine Naturerfahrung an, der wir dauernd ausgesetzt sind und die schon immer sehr gemischte Empfindungen hervorgerufen hat, weil sie als Gleichnis des menschlichen Lebens, seines unabänderlichen Ablaufs, begriffen wurde.
Im Traum freilich ist auch das anders, läßt sich die Zeitenfolge umkehren, wird unerfüllt gebliebene Vergangenheit zu Zukunft. Meckel hat hier nicht nur ein besonders schönes Liebesgedicht geschrieben, sondern auch eine treffende Metapher für die lyrische Gattung gefunden, die es vertritt. Wie die Liebe in ihren Relikten zuzeiten gleichsam über die Ränder der Vergangenheit in die gelebte Gegenwart tritt, so wird sie im Gedicht aufbewahrt und zu neuer Wirksamkeit freigesetzt. Es ruft verlorene Zeit zurück und bringt, der natürlichen Chronologie widersprechend, die unerfüllt gebliebene Liebe zur Nachwirkung und Nachreife.
Im Gedicht wird damit die Vergangenheit zur Zukunft, es korrigiert das abstrakte Nacheinander unserer Wirklichkeitserfahrung, demonstriert, daß nur Abgelebtes auch endgültig und unwiderruflich vergangen ist. Dieser Liebe, so lehrt es, steht eine solche Vergangenheit erst bevor, so unerschöpft ist sie geblieben, so ungelungen und fragmentarisch. Möglich allerdings, daß auch das nur ein Wunschtraum ist. Das Gedicht endet mit einer Warnung: auch die poetische Kirschenzeit währt nicht ewig, die ästhetische Erfüllung sprengt zwar unsere übliche zeitliche Erfahrungsweise, aber nur für den Augenblick, und danach müssen wir immer wieder aufs neue lernen, mit nichts und einem Gürtel zu leben.

Gert Ueding, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985

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