Gerhard Falkner: Das Gedicht und sein Double. Eine Polemik

Mashup von Juliane Duda zu der Kategorie „adhoc“

adhoc

DAS GEDICHT UND SEIN DOUBLE.

Ich habe es mir in diesem Aufsatz zum Ziel gesetzt, die Dinge so einfach darzustellen wie möglich. Jedenfalls so weit solche Vereinfachungen, die „Probleme der Lyrik“ betreffend, einer Erhellung von Zusammenhängen dienen.
Sobald man zum Beispiel interdisziplinäre Erkenntnismodelle heranzöge, um gerade wirksame, das heißt noch nicht tradierte Kommunikationsweisen des Gedichts zu untersuchen, könnten die Ergebnisse ja auch ziemlich kompliziert ausfallen. Ich habe zwar ein großes Faible für jede durch die Sache gedeckte Kompliziertheit, bei unserem Thema aber führt sie, wie ich inzwischen einsehe, nirgendwohin.Wenn wir das Gedicht unter überzeugender Einbeziehung der dafür geeigneten Theorieflut reflektieren, entlüften wir den Diskurs nur ein weiteres Mal in jene Höhen, in denen er akademisch sich ausrandaliert, um schließlich als Schnee von gestern auf den Boden der Tatsachen zurückzusinken oder in die leeren Patronenhülsen der nächsten Kritikergeneration zu schmelzen.

Gerade die Prozesse dauernder und nachhaltiger Entschärfung kultur- oder systemkritischer Diskurse durch hochkomplexe Regel- und Steuerungssysteme, die allen nonkonformistischen Zugriffen individuellen Denkens entzogen sind, sowie der Umstand, dass diese Diskursverfahren und ihre Ergebnisse, um philosophisch anschlussfähig zu sein, „so hoch aufgehängt sein müssen“, dass damit wirksam verhindert ist, dass sich das Blumengießen in ein Blutvergießen verwandelt, machen die ausgefeilten Theorien immer mehr zu Endlagern für die potentielle Durchschlagskraft des Gedankens.
Wenn man über Gedichte spricht oder schreibt oder zu verstehen versucht, wie – für wie lange, auf wen und warum – sie wirken, ist es sicher angebracht, die drei generellen Instanzen in ihrer gegenwärtigen Ausprägung zu definieren: den Dichter, den Kritiker und den Leser.
Bevor ich das versuche, möchte ich vorausschicken, dass in der durch den Band „Lyrik von Jetzt“ auf den Weg gebrachten Dichtergeneration derzeit wohl doch die wahrscheinlich interessantesten Dinge der jetzigen Literatur passieren, angestoßen und wirklich geschultert zwar von wenigen nur, aber wahrgenommen und weidlich ausgekostet von fast allen Beteiligten.

Die poetischen Verfahren dieser Generation und ihr Ausdrucksglanz beruhen zu einem erheblichen Teil auf von mir in den 80er Jahren bis zu dem Band „wemut“ entwickelten Sprechweisen.
Diese Sprechweisen wurden von der Kritik beschrieben als: „Durchbrechen des ideologisch motivierten Pathosverbots; Engführung von Sprache und Körper; Genauigkeit und Prägnanz als Wertkategorien; Nobilitieriung ästhetischer Bewertungskriterien; Operationen am Wort- und Satzkörper nicht unter dem Primat von Mechanik und Experiment, sondern als Steigerung von poetischen Aussagemöglichkeiten.“
Ausgenommen von diesem Einfluss sind natürlich die auf dem Mayröcker-Pastior-Komplex beruhenden Recycling- und Sinneindämmungsverfahren, welche weiterhin die Bruchstücksemblematik, das atonale, am Grammatikgerippe nagende Gedicht und das Werkstattgetöse von Altavantgarden favorisieren.
Jene Klippen also, auf denen bevorzugt Vögel nisten, die nicht fliegen können, stumm und in bedrückender Wesensverwandtschaft bewundert von jenen Fischen, die im Wasser unter ihnen stehen und das gleiche Problem mit dem Schwimmen haben.

Die Kugeln dieses „neuen Tons und neuen Materials“, die „wemut“ vorlegte, wurden ab Ende der 80er Jahre in ein paar wenigen Fällen direkt, öfter per Karambolage, in den meisten Fällen aber über Bande gespielt und schließlich klammheimlich und gut vermummt in die jeweils eigenen Texte eingelocht. Den genialsten Effet beherrschte der damals allerdings auch bei weitem Begabteste, Durs Grünbein. Aufgrund meiner vollkommenen Abwesenheit von allen Literaturbordellen, Umschlagplätzen, Hebebühnen und Lyrikbörsen war es mir versagt, meine Anteile zu reklamieren.
Unterstützt wurden die sprachlichen Anverwandlungen und die hierarchischen Umbildungen und mithin Verzerrungen von den kinetischen Kräften der Wende und Nachwendezeit, wo eine der gefühlten Inferiorität geschuldete, ästhetisch retardierte Imitationskultur, die allerdings uneingeschränkt auf den Zaubertrank der Solidarität zurückgreifen konnte, eine solipsistisch entartete, inhumane, aber damit eben auch realistische Konkurrenzkultur mühelos überwucherte und übertrumpfte.

Der Kritik jeglicher Provenienz blieb es versagt, Einblick in solche Zusammenhänge zu gewinnen, weil solche Einblicke „kontraproduktiv“ zu diesen im geistlosen Getöse der Kapitalismusverherrlichung vernebelten, knallharten Abräuminitiativen der Wirtschaft und den damit verknüpften Intentionen des westlichen Überwältigungsdiskurses gewesen wären.
Die Kunst der ehemaligen Ostblockstaaten, egal wie versumpft in kitschigen und verlebten Traditionen, wurde von einem geistlosen Medienapparat überall als widerständischer Underground nicht nur gefeiert, sondern regelrecht nachproduziert und gleichzeitig von den depersonalisierten Strategien des „freien“ Marktes so gründlich ausgehöhlt, dass sie heute, wo sie nicht eins zu eins auf Westkurs umgeschult ist, gerade mal noch als Christbaumschmuck taugt.

Was heute nun, in der Dichtungsgeneration, über die wir hier sprechen, neu ist und quasi hinzugekommen, und was neben den veränderten Verkehrsformen als faszinierend wahrgenommen wird, ist jener bis in kleinste Bewegungsabläufe hinein ausgekostete Schritt von der Postmoderne in die Post-Postmoderne, wie er derzeit auch im amerikanischen Roman von den Findungen Pynchons, Coovers oder DeLillos zu ihren Ausfächerungen etwa bei Danielewski stattfindet. In unserem Fall eben auf dem kleineren Format der Lyrik, die ja, zumindest für die Meister, noch enormere Flächen zu bieten hat als die Prosa. Natürlich gelingt dieses Spiel nur den Besten, bei den meisten verharrt es in Anklängen oder erstirbt in gebastelten oder absichtsvollen Unterlagen.
Die Vision einer kosmologischen Dimension des Austauschbaren, aufeinander Verweisenden und im Antiklimax implodierenden, welche die Postmoderne dem Rüttelfieber und der Übertrumpfungsgeste der Moderne entgegensetzte, wurde weiter minimiert. Da herrschten die gleichen Gesetze wie bei Nokia, nämlich das Primat von Design und Miniaturisierung. Die Vision ist einem Verknüpfungszwang noch kleinteiligerer Diskurse gewichen und einem nochmals neuen Sampling von Codes, die inzwischen selbst wiederum Codes von Codes von Codes geworden sind.

In Verbindung mit den schon angedeuteten neuen Verkehrsformen, und zwar einer extremen Fokussierung auf die eigene Generation, Netztreue, Dauerkommunikation und die unermüdliche gegenseitige Berichtigung, welche ich allesamt als „literaturbetriebstechnisch“ zwar sehr nützlich, aufs Ganze gesehen aber als pure Zeitverschwendung betrachte, könnte sich diese Lyrik durchaus irgendwann, wie andere post-postmoderne Themen auch, begünstigt überdies vom Zusammenbruch der Lesepopulationen, zu einem jener so genannten „campus hypes“ entwickeln, die weitestgehend via Internet rezipiert werden.
Um nun genauer zu verstehen, warum Lyrik so sinnlos ist – alle „Obwohls“ ihrer Bewunderer, deren Zahl sich mehr und mehr mit der ihrer Betreiber zur Deckung gebracht sieht, einmal dahin gestellt, um zu verstehen, warum sie lediglich die sublimste Form der Zeitverschwendung darstellt, wiewohl sie gerade die eindrucksvollste Zuspitzung eben dieser Zeit sein könnte, und um zu verstehen, warum sie als die einzige intelligente Unzurechnungsfähigkeit im totalen Marktgeschehen gelten muss, trotzdem aber ein „Hype“ sein kann, der ein gewisses „Publikum“ zeugt und nährt, müssen wir nicht nur wissen, ob etwas falsch oder richtig gedichtet, sondern auch, ob es falsch oder richtig gerichtet, also vermittelt wird.

Dazu ist es notwendig, die Kritik einer Kritik zu unterziehen, den Charakter der Bündnisse aufzudecken, die neuen Verkehrsformen zu entschlüsseln und mithilfe der gewonnenen Einsichten die Spreu vom Weizen zu trennen. Bei der hier zur Debatte stehenden Lyrik, dies vorweg, könnte es sich durchaus um eine so genannte „Intelligenzmode“ handeln, wie sie immer wieder, wie zum Beispiel im 14. Jahrhundert in den Klöstern, im Rokoko oder in der Nach-Goethe-Zeit aufgetreten ist:
Diese führt gewöhnlich zu einer Überfeinerung der Wahrnehmung, die unverhältnismäßig wird zum Wahrgenommenen selbst, sie führt zu den berüchtigten Idiosynkrasien und zur künstlerischen Nervosität, fällt dann aber rasch der Dekadenz und der Selbstreferentialität anheim, bis sie schließlich von nachrückenden, vitaleren Formen abgelöst wird.

Die Bedingungen der Selbstreferentialität sind bereits weitgehend erfüllt.
Monika Rinck und Daniel Falb, Steffen Popp, Crauss, Ann Cotten, Hendrik Jackson, Ron Winkler, Gerald Fiebig, um wenigstens ein paar der ausschlaggebenden Namen zu nennen, auch Jan Wagner und natürlich Marcel Beyer, der ja ebenfalls in „Lyrik von Jetzt“, diesem Stammbuch der neuen Szene, noch zu finden ist, den ich aber, auch weil er ein anderes Stammbuch besitzt, eigentlich einer anderen Umgebung zuordne, das sind ja unübersehbar alles Menschen von „betonter“ Intelligenz.

Und Intelligenz geht niemals spurlos an einem Körper vorüber.

Auch an dem des Gedichts nicht.
Allerdings geht an mancher Intelligenz das Gedicht spurlos vorüber.

Dann haben wir es, im Falle eines Autors von „Versen“, mit einem (poetisch behinderten) Intellektuellen zu tun, nicht mit einem Dichter.
Auch hierfür gibt es eine Handvoll prominenter Beispiele in „Lyrik von Jetzt“.
Würde ich fünf Namen hier nennen, hätte ich fünf Feinde mehr.
Das wäre der ganze Effekt.
Es ist wie im Urwald.
Und dass es in dieser interessantesten und erregendsten Kunst zugeht wie im Urwald, liegt vorwiegend an einer Kritik, die nicht oder fast nirgends mehr aus einem unbestechlichen Respekt für die Dichtung hervorgeht, sondern aus dem Verlangen, sich mit dem Dichter in eine Beziehung zu setzen und zu schunkeln. Einer Kritik, die nicht aus der Kompetenz von Urteil und Maßstab entsteht, sondern einem burlesken Aufspringen auf Trends, die von Buschtrommeln ausgelöst werden eher denn von den neuronalen Interpretationsleistungen eines so genannten Denkens.
Insbesondere dieser Umstand gewährt den zuckenden, singenden, zischenden, auch brüllenden oder sogar demonstrativ schweigenden „Rampensäuen“, die bevorzugt von den Literaturhäusern und Festivals als Remedien gegen die selbstverschuldete Langeweile gefeiert werden, eine Aufmerksamkeit, welche die häufig inkommensurable Stupidität der Texte überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt.
Dass diese vom Betrieb geklonten Witzbolde in „Lyrik von Jetzt“ fast nicht in Erscheinung treten, verdankt sich gewiss auch dem Umstand, dass die Zusammenstellung in der Hand von zwei Dichtern lag, Jan Wagner und Björn Kuhligk, welche beide, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, Ansprüche stellen konnten, gerade weil sie sich in der Lage gezeigt haben, diese auch selbst einzulösen.
Bei der Kritik von Lyrik gilt es aber, ein Phänomen im Auge zu behalten.

Das Gedicht scheint, über seine eindrucksvolle Positivität hinaus, auch ein Behältnis für besonders abstruse, persönliche Phantasien bereitzustellen.
Ein Behältnis, das wegen der vermeintlichen seligen Verschwommenheit, die man seinem Inhalt gerne andichtet, als ein Gefäß betrachtet wird, in welches Menschen, die das „Poetische“ als Selbstumrahmung missbrauchen möchten und die sich auf Grund ihrer Beziehungen diesen Rahmen leisten können, glauben, ihre schalen Säfte von Verschrobenheit, Künstlerthum oder Selbstpoetisierung abschlagen zu können.
Von oben oder von außen betrachtet sieht das etwa so aus: in einem Riesenstadion und vor so gut wie leeren Rängen toben die Poeten in die unterschiedlichsten Richtungen, der eine spielt Fußball, der zweite trainiert Aufschläge, ein dritter schleudert den Diskus, dazwischen jede Menge Hoch- oder Weitspringer ohne Latte oder Ziellinie; Punkt-, Schieds- und Linienrichter gestikulieren und pfeifen wild durcheinander, und dazwischen jagt der unermüdliche Michael Braun immer wieder einem anderen Spieler hinterher, um ihm ein Abo seiner Hauszeitung anzudrehen. Da schält sich plötzlich eine Gruppe heraus, deren Bewegungen sich koordinieren, und spielt Golf. So etwas Ähnliches war es wohl mit den „Lyrikern von Jetzt“.
Als die Kritik bemerkte, dass da Golf gespielt wird, reagierte sie erst einmal ungehalten, wo nicht mit Empörung. Sie kapierte nicht, dass es sich ja schließlich nicht um Kricket oder Polo handeln würde, sondern um etwas bereits durch die Zahl der Spieler und ihrer engeren Beobachter unter der Hand Deexklusiviertes.

Wie kommt es nun, dass insbesondere bei der Lyrik so sehr die Maßstäbe fehlen, dass jeder mit seinem selbstgebastelten Urmeter seinen urigen Bewertungskosmos absteckt und dann quasi auf Stimmenfang ausgeht, um diesen zu legitimieren?
Wie kann es, um nur mal ein Beispiel zu nennen, dazu kommen, dass das literarische „Preis-Leistungsverhältnis“ so katastrophal auseinanderklafft, dass der Peter-Huchel-Preis, der ja schließlich kein Förderpreis ist, an ein Debütantenwerk mit einem Umfang von gerade mal dreißig bis vierzig insgesamt ja recht hübschen Gedichten geht, von denen keines, deswegen natürlich auch der ad-hoc-Erfolg, auch nur im Entferntesten das allenthalben Durchgesetzte besonders eindrucksvoll durchdringt, geschweige denn in irgendeinem Sinne übertrifft.
Die Verleihung des Preises an Hans Thill oder die posthume an Nicolas Born zeigen in etwa das gleiche Kaliber. Die Preisbegründungen sind Dokumente für den sprachlichen Slapstick vollkommen desorientierter Schwätzer.
Im angeführten (ersten) Fall liegt die Ursache aber sicher auch an außerliterarischen Treibstoffen, in diesem Falle am kookbooks-Syndrom, auf das ich noch zurückkommen werde.
Wie ist es möglich, dass die Kritik in diesem Lande nicht einmal dazu fähig ist, wenigstens die Grobsortierung sicherzustellen?
Die Antwort ist eigentlich gar nicht so schwierig, deswegen aber gewiss nicht weniger bedrückend.
Schlechte Literatur hat eine den Verstand und die Nerven zerrüttende Wirkung.
Schlechte Literatur aber ist überall.
Schlechte Literatur sickert durch alle Ritzen.
Schlechte Lyrik im Besonderen ist vielleicht sogar noch schlimmer als schlechte Literatur im Allgemeinen, ein Emetikum par excellence.
Die so genannten Großkritiker (und dieser Name ist angesichts der Resultate wirklich irreführend), durch die der Schund von Jahrzehnten, wie man sieht, nicht spurlos hindurchgegangen ist, sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Dies gilt natürlich ebenso für die Großlektoren und die Großveranstalter. Die Sträucher, wenn man sie schon nicht als Gebüsche bezeichnen will, wissen das durchaus als ihre Chance zu nutzen. Sie profitieren von dieser in einem fast klinischen Sinne feststellbaren Desorientiertheit.
Einen unwiderlegbaren Beweis dafür liefert der Lyrikkritiker Michael Braun. Er hat nun wirklich mit allen Mitteln (und auch mit einigem Erfolg) versucht, es der vielleicht ersten antizipierenden Anthologie überhaupt, nämlich „Lyrik von Jetzt“, so schwer wie möglich zu machen. Er hat allen Autoren, besonders denen, die noch völlig ungeschützt waren von einem gewissen Bekanntheitsgrad, in Bausch und Bogen und mit beträchtlichem Hohn auch nur die geringste Relevanz abgesprochen, darunter vielen, die er wirklich eine unseriös kurze Zeit später versucht, mit anmutigen Besprechungen in die eigenen Taschen fließen zu lassen.4
Man muss ja schließlich nicht fürchten, dass in diesem Lande irgendjemand irgendetwas merkt.
Sein Generalverriss, ausgeführt mit den Ellenbogen eines blindwütigen Konkurrenzdenkens, war durchaus im Detail geführt, also mit Stellen belegt, die ihm für seine schlechten Noten besonders geeignet erschienen. Er hat also ganz genau und ohne Zweifel mehrmals gelesen.
Worauf es mir aber ankommt, ist Folgendes: einer der so genannten „ausgewiesensten“ Lyrikkritiker dieses Landes hat nicht im blinden Eifer einer Pauschal-ablehnung und in Unkenntnis des Abgelehnten gehandelt, was ihn in gewisser Weise sogar rehabilitieren würde, sondern er hat sehenden und suchenden Auges nicht einen einzigen Text, nicht ein einziges Gedicht dieser zahllosen, inzwischen mit Preisen überhäuften Autoren erkannt, die sich heute in allen Literaturhäusern tummeln. Nicht einen Einzigen – man muss sich das angesichts dieser Anzahl an inzwischen als erstklassig gehandelten und preisverwöhnten Autorinnen und Autoren einmal vorstellen!
Dieses Verschwimmen von Text und Urteil durch kulturbetriebstechnische Overkills im Falle von Lyrik findet sich insbesondere in den dieser Gattung besonders zugeneigten Organisationsformen, und gerade die vermeintlichen „Kenner“ entpuppen sich bei näherer Betrachtung zumeist als vollkommen abgestumpfte Jongleure von Namen, ohne dass je noch die Wirkung eines Gedichts oder wenigstens einer Gedichtstelle auf ein reagierendes Empfindungssystem oder ein der individuellen Person zuordenbares Wahrnehmen noch erkennbar wäre.

Wer aber findet denn nun diese Dichter und leistet die Arbeit, zu der die etablierte Kritik nicht fähig ist?
Zuerst einmal sind es natürlich die Dichter selbst.
Aus ihren Bündnissen und Selbstbeförderungen schälen sich im Laufe der Zeit ein paar „Bewunderte“ heraus, die ihrem engeren Kreis entrissen werden und sich „herumsprechen“. Es sind die, die dafür sorgen, dass es knistert in der Szene und auf deren Sprache man sich verständigt wie auf eine Konspiration. Mit diesen von der Begeisterung von Kollegen innerhalb der eigenen Generation Gekürten liegt man so gut wie nie falsch. Alle wollen im Grunde so gut sein wie die ganz wenigen, die es sind.
Das ist ein schöpferisches Naturgesetz.
Und obwohl keiner gerne irgendjemand über die eigenen Fähigkeiten stellt und damit oft den Grundstein für eine lebenslange und am Ende sogar todsichere Verblendung legt, so streckt sich doch keiner nach unten. Irgendwann kommt aber heraus, wer gemeint ist, trotz aller Verheimlichungskunst aus dem Geiste der „Einflussangst“.
Zum Zweiten sind es oft junge, noch wenig oder gar nicht bekannte Kritiker, häufig solche, die gerade eben durch die Filter großer Feuilletons wie die der FAZ oder der SZ gegangen sind, die sich im Sinne ihrer Karriere noch „die Arbeit machen“, zu ihrem Gegenstand aufzuschließen, die der Sache mehr Zeit und Aufmerksamkeit einräumen, als sie an ihrem Artikel über diese Sache verdienen, und die quasi den Ochsen noch als Tier im Auge haben und nicht als Lebensmittel.

Am Eindrücklichsten aber sind inzwischen, wenn man den Müll beiseite geräumt hat, sehr oft Artikel im Netz: hier findet man äußerst kompetente, scharfsinnig argumentierende und eindrucksvoll unverquaste Essays, geschrieben von Leuten, die nicht dafür bezahlt und nicht dazu verdonnert werden, die sich ihren Gegenstand selbst aussuchen und ihn ohne Zeitdruck und mit der Verve eines höchstpersönlichen Anliegens bewältigen. Gerade hier stößt man umwerfenderweise auf Kundschafter, für die Gedichte nicht bloß das Schwarzgedruckte und Abgehackte auf dem weißen Papier sind, sondern Texte, die als geistiger und emotionaler Anstoß erlebt werden – als cool und modern, als Elixier, Aufputschmittel oder Stoff.
Dass diese Kritiken/Rezensionen aus eigenem Antrieb geschrieben werden, nicht unter Termindruck entstehen, nicht von einer Redaktion zugeteilt sind, nicht als lästige Pflicht erledigt werden und nicht von der Berechnung des Kritikers getrübt sind, seine Herde zu vergrößern und gelegentlich einen Bauern abzuknallen, macht diese Beiträge oft so bemerkenswert und so wohltuend frei von diesen Phrasen und geistigen Engpässen, die einem in den Rezensionen der Großkritiker oft so bleiern aufs Gemüt schlagen.

In diesen drei Sphären – im Internet, bei den Dichtern selbst und bei den noch nicht arrivierten Kritikern (die meist für wichtige Zeitungen schreiben) – wird die eigentliche Erkenntnis- und Bewertungsarbeit geleistet. Da der Literaturbetrieb weitgehend auf großen Ohren fußt, mehr denn auf gute Augen, entwickeltem Geschmack und einem scharfen Verstand, kann man, wie dies einige Kritiker sehr geschickt tun, sich viel Arbeit und Ärger sparen, indem man nicht als Gehirn in Erscheinung tritt und so sich Angriffen aussetzt, sondern als Geschmacksverstärker.
Um das Verhältnis zwischen Lyrik und Kritik transparent zu machen und möglicherweise falschen Entwicklungen gegenzusteuern und die Position der Dichtung zu stärken, sind Zeitschriften wie BELLA triste von unschätzbarem Wert, weil sie diesem Thema einen Raum zur Verfügung stellen, den es nirgends sonst noch in Anspruch nehmen kann. Themenhefte wie die BELLA triste Nr. 17 liefern auf breiter Front poetische und poetologische Positionen, zu denen sich immerhin Stellung nehmen lässt, egal ob pro oder contra. Damit wird das Gedicht in eine beispielhafte Position gebracht und die Kommentare, die sich nicht strecken, decouvrieren sich selbst.
Jedenfalls auf längere Sicht.
Ob sich allerdings wirklich etwas bewegen lässt, bleibt abzuwarten. Und zwar vorwiegend deshalb, weil die neue Generation zwar Eleganz besitzt, aber keine Zivilcourage.
Unter den Lyrikern von Jetzt würde man sich eher die Zunge abbeißen, als sich durch echte Kritik eine Beziehung verscherzen. Gerade dies aber gestattet es den ollen Onkels, die etwas anzubieten haben, obwohl sie selbst nichts zu bieten haben, „mit von der Partie zu sein“. Mithilfe ihres Einflusses, ja, „ihrem schieren Vorhandensein“, tragen sie wirksam dazu bei, dass keine Kriterien Fuß fassen können, die sie selbst sofort aussortieren würden und sichern sich ihre Macht (soweit man auf diesem jämmerlichen Felde von so etwas überhaupt sprechen mag), durch eine hemmungslose und im Grunde entwürdigende Heiratspolitik.
Ob daher die Paarungen „Dichter – Interpret“ in BELLA triste Nr. 17 eine glückliche Lösung darstellen, ebenso wie die an den Schluss gestellten Scharfrichter, sei dahingestellt.
Immerhin war den meisten abgedruckten Gedichten bereits durch die Namen ihrer Verfasser eine Qualität zu unterstellen, die eingelöst wurde, und darüber hinaus sind sogar ein paar bemerkenswerte neuere Dichterinnen und Dichter dazugekommen.
Damit ist eigentlich das Wichtigste erreicht.

Die Texte zu den Gedichten habe ich erst gelesen, nachdem ich diesen Aufsatz entworfen hatte, ich hätte ihn sonst vielleicht anders oder gar nicht geschrieben.
Zum Teil handelt es sich unübersehbar um peinliche Andienungen und Verbündungsangebote mit einem immer wieder höchst bizarren Wortschatz. Wie die von mir als Lyrikerin wirklich sehr verehrte Kathrin Schmidt in ihrem Aufsatz über die ebenso verehrte Monika Rinck so unter ihr Niveau rutschen und diese Purzelprosa schreiben konnte, ist mir nicht nachvollziehbar. Man hätte, wie übrigens in anderen Fällen auch, der Adoration immer auch ein paar auf feinerer Beobachtung beruhende Einwände beifügen können, in diesem Falle zum Beispiel, dass manchmal eine leichte Überdüngung der Sinnlichkeit mit Schrillität und Quatsch ausm Netz stattfindet.
Oder im Falle Ron Winklers entdecken können, dass diese tendenziell ebenfalls sehr schönen und interessanten Gedichte keine Oasen idyllischer Korrespondenzen zwischen Sender und Empfänger entwerfen, sondern dass es auch ein Jammer und manchmal nicht mit anzuschauen ist, wie der Dichter immer mehr in Grünbeinsche Schablonen sich hineinkniet. Eigentlich hat nur Ulrike Draesner ein faires Verhältnis zwischen angemessener Beurteilung, beigefügter Kritik und unübertriebener Selbsteinfädelung geschafft.
Das soll nicht heißen, dass nicht eine ganze Reihe interessanter Positionen entwickelt wurden. Die aber sind auf der Basis von Blutsbrüderschaften und Klubmitgliedschaften wertlos.
Besonders skurril wird’s am Schluss.

Wenn Czernin in der Lage wäre, eben jene Vorbehalte, wie er sie bei Sabine Scho anmeldet, auf seinen eigenen Text anzuwenden, sein Urteil müsste einer vollkommenen Selbstauslöschung gleichkommen. Einer Ausradierung der Czernin’schen Sprachidendität. „Insgesamt zuviel Schaum“ würde für einen den wunderbaren „Monsieur Teste“ entsetzlich missbrauchenden Text mit diesem komischen Baum in der Mitte und jenen ihn umgebenden Wüsten der Faselei nicht reichen, hier müsste es in der Tat heißen: Alles Schaum!
Für solche literarischen Phantasien sollte man sich vielleicht eher an Stanley Laurel halten denn an „Monsieur Teste“.
Mit preziös-prätentiösen Poetismen, wie er sie Ulrike Almut Sandig unterstellt, wartet er in dieser Sonderausgabe auf, wie wirklich kein anderer auch nur annähernd. Emotive Verbosität! Es ist ja wirklich prima, dass wir jetzt endlich ein Wort dafür gefunden haben. Aber wofür gleich wieder?
Tja, und Henning Ahrens. Sein Text kommt mindestens genauso wenig auf den Punkt wie seine Gedichte. Ein Luftschwinger nach dem anderen wird ausgeteilt, und der immerzu Aufgeregte wundert sich anscheinend gar nicht, dass nie jemand zu Boden geht. S’geht ja schließlich um nichts hoch vier?
Ulf Stolterfoht hingegen hat einen wunderschönen Aufsatz geschrieben, der aber in fast allen Punkten irrt. Enzensberger war einfach, als damaliges Überohr, schon 1968, also ganz am Anfang der Postmoderne, bereits da, wo er selbst heute noch nicht ist. Stolterfoht möchte, wie der in die verwandten Umfelder gebettete, fanatisch unzeitgemäße Kritiker Kiefer, die Lyrik in die Moderne zurückschicken. Auch noch und gerade in eine Moderne, die weiß Gott Größeres hervorgebracht hat als Stramm, Holz oder Schwitters und zu der die trostlosen Heißenbüttels in den 70er Jahren ja bereits Paraphernalia waren.

Wir müssen uns, glaube ich, wirklich langsam entscheiden, ob wir die Avantgarde als Argument jetzt nur noch für alles irgendwie scheppernd „Hinterherhinkende“ gebrauchen wollen, oder ob wir nicht endlich ihre Apologeten dem Dachverband der Trachtenvereine überstellen und ihnen damit unsere Anteilnahme entziehen. Dabei ist Stolterfoht fast der einzige aus dieser Ecke, die er sich in seinem Aufsatz so gemütlich zurechtmacht, dessen Gedichte ich wirklich äußerst amüsant finde und die sehr gekonnt gemacht sind, obwohl ich daran zweifle, dass sich die Möglichkeit des Gedichts darin erschöpfen sollte, diese kuriose und Heiterkeit auslösende Wirkung zu erzeugen.
So wie Brinkmann, gegen dessen Prädominanz ich mich Anfang der 80er Jahre wandte, der einzig relevante Vertreter eines sich selbst zelebrierenden „beat-haufens“ war, der sich nach einem Jahrzehnt Feuilletonrummels sang- und klanglos der Vergessenheit anheim gab, so scheint mir heute Stolterfoht in diesem Umfeld als der einzig wirklich Bemerkens- und Auseinandersetzenswerte.
Ganz anders ist das mit Anja Utler. Auch hier hat Thomas Kling wieder einmal zu hormisch gedacht, und, kein Wunder bei diesen Texten, wohl die Libido über die Ratio gesetzt. Gesetzt den Fall, er hat überhaupt gedacht, denn seine Aussage ist ein Dokument höheren Blödsinns, angefangen vom „bestürzenden Reichtum“ für etwas, das bis zum Abwinken immer das Gleiche ist, bis hin zur komischen sibyllinischen „Klarheit“, welche ja im Sinne der Weissagung gerade eben diesen Frauen im entschiedenen Sinne mangelt. Der übliche Kling’sche Streusand für die Augen von Lyrikhoppern im Kritiker- und Kulturbereich.
Würde ich diese (Utler’schen) Texte in Brailleschrift lesen, würde ich denken, es handelt sich um die Geräuschkulisse eines Blindenporno. Die davorgestellten Motti so prätentiös wie die Bücherwand, vor der diese Pornos gerne sich abspielen.
Und dann kommt nur noch „lecken“, „Knospen“, „zucken“ – auch als Fluss, und dann Lippen und Härchen, nass, und dann auch noch „sein sich in mich“, und dann „stoßen“, und dann „schlucken“. Es ist wirklich in seiner Plattheit kaum auszuhalten.

Überhaupt nichts gegen eine sexuell aufgeladene Sprache. Die Gedichte der großen Droste-Hülshoff strotzen vor Fellatio- und Cunnilingusphantasien, aber dort sind sie eingebunden in ein machtvolles Bewegen von Sprache und ein phänomenales Begehren von Welt. Bei Anja Utler ist es ein mühsames, pseudokryptisches, effekthascherisches und die avantgardistische Ramschkiste bedienendes, konstruiertes Konglomerat von beliebigem, binnenreimangehauchten Sprachschrott.
Das wird insbesondere dadurch deutlich, dass es überhaupt keine Rolle spielt, welch ein Titel über dem jeweiligen Gedicht steht, ob „Marsyas“, „Micky Mouse“ oder „Monteverdi“, das darunter sich ausbreitende Gestöhne differenziert absolut nichts, weder seine Motti, noch seine durch die Namen evozierten Inhalte oder Bedeutungen. Es schubst sich lediglich von einer Bemühtheit zur nächsten.
Warum immer wieder Leute auf so etwas hereinfallen, liegt wohl daran, dass sie irrtümlich glauben, etwas, das sie nicht verstehen, wäre gerade deswegen vielleicht geheimnisvoll. Es ist aber meist nicht geheimnisvoll, sondern gründet eher auf einem Mangel an Durchdringung.
Zum anderen sind solche Gedichte wahre Schatzkammern für eine ganz bestimmte Sorte akademischer und vom „Lebensathem“ nicht gerade verwöhnter Kritiker, die ihre tiefinnere Biederkeit damit kompensieren, alles an Versündigungsphantasien gegen Ordnungssysteme (wie zum Beispiel die Sinnhaftigkeit oder die Grammatik) besonders gerne in Texte hineinzutragen, in denen ihnen sich nichts oder zumindest keine Stringenz entgegenstellt.
Man kann in diese heruntergeratterten Worte, wenn man sie nur genügend feucht oder splittrig gemacht hat, „ficken“, „Vergil“, „Samstag“, „Osterei“ oder „Einstein“ einfügen, ohne dass ihrem Gewicht etwas hinzugefügt oder dasselbe vermindert würde. Und man kann durch unerklärliche Häufung des nur bedingt botanisch zu verstehenden Wortes „Kiefer“ erreichen, dass ein Kritiker gleichen Namens sich angesungen fühlt und den Balzgesang erwidert.

Durch alle Zeiten hindurch ist unschwer zu übersehen, dass die Spaßmacher und die Lyriker der provokanten, leichten Muse sich gerne verbünden. Dafür sind die Dadaisten ein Beispiel, wie überhaupt die meisten „-isten“ oder die ehemalige Titanic/Der Rabe-Connection, die uns via Plebiszit einen Robert Gernhardt vor die Nase gesetzt hat, den sie besser bei sich behalten und auch mit sich selbst verabschiedet hätte.
Hölderlin, Benn oder Rilke; Baudelaire oder Wallace Stevens, eigentlich fast alle großen Dichter überhaupt sind im Haufen aber eigentlich gar nicht denkbar. Ob aber zehn an einem Seil ziehen oder einer, ergibt aufs Ergebnis gesehen eine einfache Rechnung, und wenn drüben einer zieht, der weiß, was es ist, und hier ziehen zwanzig, die nicht wissen, was es ist, werden die Zuschauer den zwanzig Recht geben, denn das Auge triumphiert immer über verborgene Zusammenhänge.

Wie also ist zu bewerten, wenn Dichterinnen und Dichter als „geschlossene Formation“ auftreten, was ja bis zu einem gewissen Grade jedenfalls auf die kookbooks-Autoren, oder bedingt auf „Lyrik von Jetzt“-Autoren zutrifft.
Berlin, Lychener Straße 73, unmittelbar nach der Wende.
Es gibt noch keinen Baum auf der Straße, aber es gibt am Ende dieser im Osten erbarmungslos, aber schön gealterten Straße bereits einen Verlag.
Sascha Anderson, sein Gründer, der genau wusste, wie die platten und durchschaubaren Zwangsvorstellungen des Westens zu bedienen waren, zäumte erst einmal alles von hinten auf.
So entstanden das Druckhaus Galrev und das Café Kiryl.
Die entsafteten Westmenschen aus dem kulturellen Bereich kamen und fanden alles „spannend“ und „undergroundmäßig“.
Sie liebten die randvollen Aschenbecher, die verschrammten Inventars, die ollen Ringelpullover und die speckigen Nappalederhosen, und deswegen liebten sie auch die schmalen Bändchen, die vorwiegend Lyrik enthielten, die anders aussahen als die Lyrikbände bei Suhrkamp oder Hanser, die plötzlich etwas vom Geist der Zeit zu atmen schienen und deren Umschläge von Künstlern entworfen waren.
Und eh man sich versah, war ein Hype entstanden.
Tout le monde redete vom Galrev Verlag, von Berlin sowieso, und vom Osten. Literaturwissenschaftler aus aller Welt, bereits im Fieber des sich anbahnenden Aufarbeitungsdiskurses und hungrig nach historischem Trophäen, mit denen die trockenen Literaturstoffe oder German Departments sich aufpeppen ließen, gaben sich mit den Journalisten, Kulturberichterstattern und Presseleuten aus ganz Deutschland die Klinke in die Hand.
Trotz schwacher Verkaufszahlen, die da schon nicht mehr an die Auflagenhöhen der gerade eben erst beendeten DDR anschließen konnten, wurde der Öffentlichkeit ein Lyrik-Boom suggeriert. Mit dem programmatischen Bändchen „PROE“, erschienen bereits 1991, wollte Anderson sich und seine Favoriten – Bert Papenfuß, Peter Waterhouse, Durs Grünbein, Thomas Kling und Gerhard Falkner – zum Grundstock seiner neuen Lyrikzentrale machen.
Die Lektorate der großen (West-)Verlage waren extrem verdrossen, und zu Recht, denn ohne Zweifel wäre ihm das alles gelungen. Schon damals habe ich ungläubigen Auges und zähneknirschend beobachtet, wie es den Beförderern des Anderson’schen Projekts gar nicht um die Texte zu tun war, sondern um Partizipation an einem diffusen Gruppenerlebnis.
Etwas noch Entscheidenderes aber kam hinzu.
Die ewig verlorenen, ewig verpeilten, ewig von ihrer Eitelkeit weich gekochten und ewig nachzügelnden Kritiker hatten endlich ein geheimnisvoll verschnürtes Päckchen, das man sich auch noch in Berlin abholen konnte, wo man eh gerne hin wollte und wo sich gut ein paar lustige Tage anschließen ließen. Man musste nicht erst umständlich durch die Republik reisen oder gar sich selbst durch die Flut der Texte bemühen.
Anderson steuerte seine Verpackungs- und Verschnürungskünste sehr geschickt, er hatte, wie schon zuvor immer wieder unter Beweis gestellt, durchwegs den richtigen Riecher und verband immer die richtigen Leute (wobei es beim Verbinden oft natürlich nicht blieb – aber das stellte sich erst später heraus).
Der erfreuliche Nebeneffekt für ihn war, dass seine Gedichte über den grünen Klee gelobt wurden und er, zusammen mit Bert Papenfuß, als die Urzelle des frischen (Ost-)Winds mit underground-Aroma gefeiert wurde.
Seine literarische Bedeutung wurde ihm regelrecht angetragen.

Dann kam der vernichtende Radierschlag der Stasiaffäre, und alles war aus. Die Kritiker, die eben noch Andersons literarische Bedeutung herausposaunt hatten, und das waren nicht wenige, fügten sich in die politisch angeordnete Rücknahme ihres literarischen Urteils nicht einmal kleinlaut, sondern stumm oder sogar mit Kehrtwendung. Im Nachhinein ist dies ein exemplarisches Beispiel für eine von außerliterarischen und szenedynamischen Kräften beeinflusste Literaturkritik ohne übergeordnete Maßstäbe und ohne wirkliche Kompetenz.
Fünfzehn Jahre später wiederholt sich das Ganze.
Ein Verlag wird gegründet, der wieder einige der besten „jungen Kräfte“ versammelt, wieder aus einer solidarischen Generationszelle hervor ging, wieder auf Lyrik sich konzentriert und wieder auf den Multiplikationsfaktor eines inzwischen zur Hauptstadt avancierten Berlins sich stützen kann. Die Bändchen erscheinen ebenfalls in englischer Broschur, haben das gleiche Format und bestechen ebenfalls durch ihre endlich wieder einmal zeitgemäße Ausstattung. Die ursprüngliche Verlagsadresse, die Sonnenburger Straße, liegt ebenfalls am Prenzlauer Berg, unweit der Lychener, nur gibt’s jetzt in beiden schon Bäume.
Wieder entsteht ein Hype, und wieder geben sich die gleichen Leute die Klinken in die Hand, nur haben sie jetzt andere Namen und klingeln nun bei Daniela Seel. Wieder werden durch Vorsortiertheit Abkürzungen zu Literaturpreisen geboten und wieder wird der Kritik die Möglichkeit gegeben, auf gesattelte Pferde zu springen, statt sie selber aufzuzäumen. Und wieder wundern sich weder die Verlegerin noch die Verlegten über die Genese dieser überproportionalen Aufmerksamkeit und Adoration, welche tendenziell alle nicht in Berlin oder bei kookbooks verlegten Dichterinnen und Dichter aus dieser Generation zu im Lande verstreuten Randerscheinungen macht, die keinen der kookbook’schen Preisvorteile genießen.

Wohlgemerkt, das sind alles keine Argumente, die dem Verlag kookbooks anzukreiden wären. Überhaupt nicht. Die Verlegerin Daniela Seel hat wenig Ähnlichkeit mit Sascha Anderson, außer vielleicht, dass beide wirklich die Lyrik im Auge hatten oder haben. Eine Stasiaffäre steht nicht zu befürchten, daher auch kein schnelles Ende. Und kookbooks ist sicher mit das Beste, was der Lyrik passieren konnte.

Nun habe ich von den drei Instanzen, die ich eingangs erwähnte, eigentlich nur die Leser vergessen. Aber die sind ja inzwischen vielleicht doch eher Zielgruppe, und wer vielleicht nur eine Kugel hat, trifft eben wieder nur einzelne.

Gerhard Falkner, lyrikkritik.de, 2007

Lemma: „Gerhard Falkner“

– Material zu einem persönlichen Lexikoneintrag (und ein Gruß von den Epheben). –

„mit den söhnen sollen die väter
nicht spaßen, sie wachsen unter
der hand, sie werden, wenn sie
groß sind, funkeln wie messer“
Gerhard Falkner

Gerhard Falkner hat jüngst eine Polemik geschrieben, in der er eine ganze Generation von jüngeren Lyrikern (der ich mittlerweile wieder anzugehören scheine) auf eine sehr weitreichende Abhängigkeit von seinem eigenen Schreiben verpflichtet. Er urteilt über die Generation kollektiv, in kathedraler Anmaßung und in übergriffiger Weise. Und weil ich mich angesprochen fühle, aber nicht für die ganze Generation sprechen will – falls es mir doch einmal aus Versehen! unterlaufen sollte, dann tritt automatisch ein toller Satz von Monika Rinck in Kraft: „Ein Wir allein muß keine Gruppe sein.“ – weil das alles also so ist (und obwohl ich weiß, daß die argumentative Beweiskraft des Exempels in den traditionellen Logiken nicht unbedingt hoch veranschlagt wird) spreche ich hier selbstredend ganz für mich allein …
So, jetzt aber die Reflektorenschilder wieder eingefahren, und auf in den Kampf! – Ja leider, in der Polemik geht es schon vom Wort her selten ohne Kampf ab, auch wenn das irgendwie nervt. Soll ich hier wirklich irgendwas kämpfen? Muß ich mich ernsthaft damit abplagen, mit einem selbstgewählten literarischen Ahnen in Streit zu treten? Wofür soll das gut sein? Wissen wir nicht genug über die traurigen Konsequenzen solcher häßlichen Taten für unser (ohnedies) vom Inzest gezeichnetes Schaffen, über die prospektive Folge der Blindheit, überhaupt den ganzen familiären Ruin? – Und trotzdem gegen die mächtigen Väter ankämpfen? Ich habe mich wirklich gefragt, ob ich das tun soll. Und ob ich es mir antun soll. Denn die Söhne kämpfen in dieser Konstellation immer auch gegen sich selbst. Wäre da nicht noch jenes berühmte Motiv, das auch das vorliegende Unternehmen sicherlich heimlich (mit)steuert. Um es zur Abwechslung mit dem von mir verehrten A. P. Gütersloh zu sagen: Die Söhne werden den Vätern den Stab des Eros entwinden. – Und das müssen sie auch. Offenbar bin ich selbst also mit Falkner noch nicht ganz durch, und muß die Bloomsche Konstante hier noch einmal austherapieren. – Ok. Versuch bitte trotzdem, es als Spiel zu behandeln. Irgendwo, ganz in der Ferne, gibt es dann zum Dank jenen kraftvollen Satz der Liebe: Ich und der Vater sind eins. –
Also gut. Für den vorliegenden Fall ist jetzt zu untersuchen, was eigentlich in Gerhard Falkners Aufsatz mich dazu bringt, diese klassische Vater-Sohn-Konstellation aus dem Geiste des Polemos hier überhaupt zu aktivieren. Nun, entgegen der (wahnhaften) Möglichkeit einer ›reinen‹ Projektion lädt die Polemik Das Gedicht und sein Double durchaus von sich aus zum exemplarischen Austrag eines Generationenkonflikts ein. Denn diesem Text (in dem es natürlich auch um anderes geht, an dem ich mich gar nicht störe) ist für mich eine Art Zeus’sches Szenario eingeschrieben. Und dieses Szenario beginnt gleich am Anfang, mit einer dezidierten Provokation. Der große Dichter Gerhard Falkner installiert sich selbst als Herrscher auf dem Olymp und verpflichtet alle Kinder der Erde (bis auf die Lahmen und Blinden) auf die Herkunft aus seinem Samen: „Die poetischen Verfahren dieser Generation und ihr Ausdrucksglanz beruhen zu einem erheblichen Teil auf von mir in den 80er Jahren bis zu dem Band wemut entwickelten Sprechweisen.“
Wow! – Was für ein Anspruch, was für eine Hybris. Eigentlich ist es wirklich allein dieser Satz, der mich meine Entgegnung hier schreiben läßt: So kann das nicht stehenbleiben. In einem solchen autoritären Akt kollektiv unterworfen zu werden, das haben „wir“ nicht nötig. Und das muß wenigstens einmal auch formuliert werden, sonst bleibt nämlich das andere stehen: und gilt.
Zunächst scheint klar zu sein: Der Satz ist ernst gemeint. Offenbar will Falkner tatsächlich die gesamte nachfolgende Generation genealogisch auf die eigenen, zwischen 1981 und 1989 entwickelten „Sprechweisen“ zurückführen. Vergeblich hält man Ausschau nach einem Anschein von Ironie oder einer Relativierung. Einige Ausnahmen vom „Einfluß“ werden unter dem „Mayröcker-Pastior-Komplex“ zwar konzediert, die ungenannten Vertreter dieses Komplexes aber sogleich als flügellahm diffamiert. – Anschließend wird der besagte spekulative Satz unter Fingierung eines wissenschaftlichen Befundes gleichsam ‚bewiesen‘. Falkner setzt drei der insgesamt vier Fußnoten seines Beitrags (er spendiert sie alle großzügig sich selbst, bzw. seinen Verehrern), hebt durch Zitate seine (in der Szene, für die er schreibt, übrigens hinlänglich bekannten) Verdienste um die Literatur hervor, verweist auf einige Druckerzeugnisse, die seinen Autornamen tragen, eine über ihn erschienene wissenschaftliche Monographie und weitere, seiner Dichtung gewidmete Artikel. – Dann wechselt der Autor von der Ausgießung seines eigenen, gigantischen Einflusses aus drei Gedichtbänden, ins Genre der Inkulpation. Dabei verbinden sich in der Melodie seiner Sätze (jedenfalls für meine Ohren) Selbstgerechtigkeit, Denunziation und tragischer Heroismus zu einer traurigen Weise:
„Die Kugeln dieses ›neuen Tons und neuen Materials‹, die wemut vorlegte, wurden ab Ende der 80er Jahre in ein paar wenigen Fällen direkt, öfter per Karambolage, in den meisten Fällen aber über Bande gespielt und schließlich klammheimlich und gut vermummt in die jeweils eigenen Texte eingelocht. […] Aufgrund meiner vollkommenen Abwesenheit von allen Literaturbordellen, Umschlagplätzen, Hebebühnen und Lyrikbörsen war es mir versagt, meine Anteile zu reklamieren.“
Das also sind wir: eine Generation von Spielern und Dieben, die sich auf Börsen und in den Literaturbordellen herumdrückt und das gewaltige, von Gerhard Falkner allein mühevoll gehobene, und gleich wieder spendierte lyrische Kapital ohne jeden Dank an den Geber (ja, diesen sogar mutwillig verleugnend) verzockt und verpraßt. – Der Vorwurf ist in dieser Form einfach traurig. Lieber Herr Falkner! Sie haben das auf keine Weise nötig. Eine Reihe von Leuten aus dieser Generation, das ist immer wieder zu hören, schätzt Sie wirklich sehr hoch. Sollten Sie Ihrer eigenen Bedeutung so unsicher geworden sein, daß Sie es neuerdings sinnvoll finden, Ihre wahnsinnige Größe unter Beschimpfungen unters Volk zu bringen? – Selbst wenn Sie nur halb soviel von dem Einfluß hätten, den Sie für sich beanspruchen, wie können Sie uns dann im nächsten Schritt vorwerfen, wir hätten Sie ausgeraubt? Mein Gott, wir haben Sie gelesen! Das wollten Sie doch? –
Ja, wir haben Gerhard Falkner gelesen. Wir haben ihn gelesen, und von ihm gelernt, was wir lernen konnten. Nachdem wir ihn gelesen haben, haben wir ihn verdaut und als Nahrung in unsere verzweigten Zellensysteme mit eingespeist, wie andere Autoren auch. Dann haben wir ihn ins Regal gestellt, wo schon ein paar andere standen. Und da steht er also jetzt unter ihnen herum. Bei mir jedenfalls (sagte ich eben schon wieder fünfmal: „wir“?) ist er zuletzt etwas verstaubt. Aber er steht da in meinem lyrischen Schrein in der Gesellschaft der besten. Petrarca und Shakespeare, Novalis und Hölderlin, Rilke und Benn waren schon lange vor ihm da. Auch Valéry und Char, Vallejo und Garcia Lorca. Celan stand schon ewig da. Irgendwann kam für mich Gerhard Falkner dazu, mit starken Impulsen. Aber es kamen auch andere. Zum Beispiel O’Hara. Charles Simic. Auch Ashbery war ein Schock. – Ein großer Schock war für mich vor etwa zwei Jahren Reinhard Priessnitz. (Kommen jetzt noch mehr peinliche Bekenntnisse?) Irgendwann Tranströmer. Ein großer Einfluß. – Die letzte größere Korrektur war für mich, im vergangenen Sommer: Tomaz¹ S¹alamun.
Aber es ist auch egal. Wenn ich meine Liste jetzt nochmal durchlese, kommt sie mir völlig bescheuert vor. Nichts als eine sinnlose Aufzählung von Namen. (Habe ich W.C. Williams und Wallace Stevens schon genannt? Und Hilbig? Christine Lavant? Was ist mit Ted Hughes? – Na klar, Mann. Hughes. Und Jesse Thor? Großer Einfluß!) – Es scheint, die Argumentation gerät an ihre Grenzen. Soll sie. Für die deutschsprachige Szene scheint mir übrigens Falkner seinen Kollegen Thomas Kling ein wenig zu depotenzieren, der sich einflußmäßig sehr wohl auf seiner Höhe bewegen dürfte. Denn wenn ich nicht völlig falsch liege, ist Kling mit ein paar anderen, inklusive der großen österreichischen Fraktion, für einige Protagonisten „ meiner Generation“ schon immer eine gültige Falkner-Alternative gewesen. (Für mich nicht. Ich habe von Kling vor allem Technik gelernt, ansonsten sind in meinen Systemen aus dieser Ecke vor allem Priessnitz, Heißenbüttel und Waterhouse angekommen. Artmann vielleicht.) – Auch die Kugeln dieser Töne und Materialien haben wir in unsere verhurten Spielerseelen mit eingeschmolzen!
So, genug davon. Gibt es nicht noch irgendeine andere Argumentation? Die Aufzählung von fünfzig anderen Einflüssen, Güssen und Einschüssen (mit oder ohne Freud und Harold Bloom) mag immerhin eine (leider, wie sich zeigt: nicht sehr elegante) Möglichkeit sein, sich vor dem versuchten Übergriff Gerhard Falkners auf die eigenen poetischen Ressourcen zu schützen. Eine weitere könnte von der Frage ausgehen, wie Falkner überhaupt zu der überzogenen Einschätzung kommt, wir hingen in „erheblichem“ Maße kollektiv an seinem Tropf? – Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Vielleicht besteht ein Mißverständnis der von ihm vorgetragenen Selbstsicht mit Blick auf die nachfolgende Generation darin, daß er „uns“ immer noch auf einem Standort am Ende der 80er Jahre anzutreffen meint? Bei der Lektüre seines Aufsatzes stoße ich da aber auf das generelle Deutungsproblem, daß letztlich nicht völlig klar wird, als wie groß der Kreis der insgesamt ‚erheblich Beeinflußten‘ eigentlich anzunehmen sei: Von Durs Grünbein bis Björn Kuhligk oder Uljana Wolf ist es schon eine ziemliche Spanne. Und so ein 1975er Jahrgang (außer mir) hat sich ja damals nicht in derselben Lyrikwüste auf die Suche nach den Wasserbrunnen gemacht, wie das in den 80er Jahren vielleicht nötig war. Wir hatten nicht nur Falkner.
Da sitzt er also, der große Zeus, der allgewaltige Herrscher. Eine ganze undankbare Generation von turmhoch eingerüsteten Athenen hat er aus seinem riesigen Schädel entlassen, und dabei (der eigenen Kränkung durch den Chronos offenbar allein auf dem Umweg über seine eigene, despotische Vaterschaft noch gedenkend) eine klassische Vaterkränkung ausgesprochen: Ohne mich würde es euch alle gar nicht geben. – Also sprach er, setzte sich auf einer Wolke zurecht, und fing an, Blitze zu schleudern. Den Rest der Geschichte kennen wir ja. … Am schlimmsten erwischte es die kriechende Spezies der Großkritiker. Einige Treffer setzten ein paar Scheunen des schändlichen Schlangenbetriebs der Literatur in Brand. Unterschiedlich ist es hingegen den vielen, niedlichen Kleinen ergangen, die, seinem Schädel entronnen, nun stolpernd (und bisweilen Banden bildend) sich ihre Wege durchs Gestrüpp bahnen, von Apoll insgesamt eher sparsam beschienen. – Einige kamen in den Genuß seiner manchmal ein wenig zwiespältigen Akklamationen. Einige, die mit Glück ein Blättlein von dem eigentlich ihm allein zugedachten Lorbeer erhaschten, bestrafte er finster mit einem furchtbaren Blitz. Einige andere, eigentlich sogar beliebte Kinder, bekamen auch noch was ab, aber ihnen blieb ja wenigstens noch ihr Spiel mit Schablonen. Einigen der olympischen Kollegen erging es da weitaus schlechter: Ihnen drohte er mit Auslöschung, oder verspottete sie auf garstige Weise. – Unter denen, die nicht einmal seine Kinder waren, fand er schließlich ein verletzliches Wesen, das ihn auf eine verborgene, marsyalische! Weise so sehr verzauberte, daß er gar völlig aus der Fassung geriet, und sein eigenes, heimliches Begehren mit Blitz und Donner ganz zu vernichten versuchte. – Wir hoffen, dass dieses ihm nicht gelang.

André Rudolph, lyrikkitik.de, 2008

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