Gerhard Schmidt-Henkel: Zu Peter Huchels Gedicht „Brandenburg“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Brandenburg“ aus Peter Huchel: Die neunte Stunde. 

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Brandenburg

Ach, wie die Nachtviole lieblich duftet!
Kleist: Prinz von Homburg 

Hinter erloschenen Teeröfen
ging ich im Brandgeruch der Kiefernheide,
dort saß ein Knecht am Holzhauerfeuer,
er blickte nicht auf,
er schränkte die Säge.

Noch immer tanzt abends der rote Ulan
mit Bauerntöchtern auf der Tenne des Nebels,
die Ulanka durchweht
von Mückenschwärmen über dem Moor.

Im Wasserschierling
versunken
die preußische Kalesche.

 

„Ein Traum, was sonst?“

Peter Huchel lebte von 1903 bis 1981. Neben Essays, Aufsätzen, Interviews, Reden und Hörspielen gab er etwa 300 Gedichte zum Druck, „hinterlassungsfähige Gebilde“ im Sinne Gottfried Benns. Die Gedichte füllen sieben schmale Bände. Die neunte Stunde ist der letzte. Dieser Band, wie alle Sammlungen Huchels genau komponiert, ist in sechs Gruppen gegliedert. „Brandenburg“ findet sich in Gruppe III, als fünftes von sieben Gedichten. Sie sprechen, noch einmal, ein letztes Mal, vom „Märkischen Komplex“, von den Kopfweiden, dem Östlichen Fluß, dem Großvater, vom Wintermorgen, vom Fremden im Vertrauten, von den Zigeunern – und von Brandenburg. Sie sprechen mit den unverwechselbaren Mitteln lyrischer Evokation, die Huchel als letzten großen Lyriker seiner Generation erscheinen lassen.
Das Kleist-Motto meint nicht das Brandenburg von Preußens Gloria, sondern das utopisch-traumhafte von Homburgs letzten beiden Auftritten, in denen die Sekunden des Somnambulismus die Kanonenschüsse überdauern und in denen der Traum mit der politischen Wirklichkeit versöhnt erscheint. „Ach, wie die Nachtviole lieblich duftet!“: auch dies ein Traum – es sind Levkojen und Nelken –, „Es scheint, ein Mädchen hat sie hier gepflanzt“. Und zwischen den Heilrufen für den Sieger in der Schlacht von Fehrbellin und dem Schlußappell „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ fragt Homburg: „Nein, sagt! Ist es ein Traum?“, und Kottwitz antwortet:

Ein Traum, was sonst?

Dem Schluß der großen Komödie wird hier der eigentliche, in der Schwebe bleibende Schluß vorangestellt.
Dies alles hat noch immer mit Huchel zu tun. Ludwig Tieck schreibt in der Vorrede zu Kleists Hinterlassenen Schriften:

In diesem großen Sinne ist aber das Werk selbst durchaus ein echt vaterländisches Gedicht, nicht bloß ein deutsches, so sehr es auch allen Deutschen angehört, sondern vorzüglich noch ein brandenburgisches, ohne sich darum auch nur mit einem Zug in das Kleine, Abgeschlossene, Provinzielle zu verlieren. (zit. bei Kleist, S. 707)

Und der Hegel-Schüler Gustav Hotho im Mai 1827, sechzehn Jahre nach Kleists Selbstmord:

[…] ein treuer Bürger des preußischen Staates, ja mit Vorliebe sogar für die heimatliche Provinz ein Brandenburger zu sein, und andererseits sich dennoch aus allen diesen wesentlichen Verhältnissen in den verborgensten Schacht des innersten Gemütes zurückzuziehen und dort sich eine andere fremde Welt in dem Glauben zu bilden, daß diese eigene Welt die bessere und wahrhafte Wirklichkeit sei. (zit. bei Kleist, S. 713)

Huchels letzte Jahre in der DDR, nachdem er 1963 die Redaktion der bis dahin hochgerühmten Zeitschrift Sinn und Form abgeben mußte und bevor er 1971 ein Ausreisevisum bekam, waren zwar nicht bestimmt von einem Rückzug in das innerste Gemüt. Aber sie waren ein zwangsverfügtes inneres Exil, in strenger Isolation, ohne Post, die wenigen Besucher wurden insgeheim registriert. Hans Mayer sagt:

Was man ihm angetan hat, kann nicht verziehen werden. (S. 180)

Die eigene Welt des Gedichtes „Brandenburg“ erscheint typographisch ohne regelmäßigen Strophenbau, dreigegliedert in Blöcken von fünf, fünf und drei Zeilen. Es hat damit, wie im Verzicht auf ein festes Metrum und auf Endreime, die typische Spätform der Lyrik Huchels. In einem andauernden und folgerichtigen Verdichtungsprozeß hat der Autor die vorherrschende Form seiner Anfänge, seiner spezifischen ,Naturlyrik‘ und seiner mittleren Schreibperiode aufgegeben und damit einen auf das Einzelwort konzentrierten Stil gewonnen, der jeder Zeile ihre eigene Wort- und Bildintensität gibt, ihren eigenen Rhythmus, ihre eigenen Betonungs-Sequenzen. Die früher häufig auch bei Huchel anzutreffende Genitiv-Metapher vom Typus „Laken des Mondes“ oder „der Trauer Hunde“ gibt es nur noch einmal in Zeile 8; sonst finden sich Einzelwörter, die zunächst etwas durchaus Konkretes benennen und die erst im Vorgang der lyrischen Erkenntnis ihren Charakter als selbständige Metaphern enthüllen (vgl. Wittmann, S. 187).
Der Teerofen war ein Teil der brandenburgischen Wald- und Moorlandschaft. Er ist als topographischer Begriff bis heute erhalten, z.B. „Albrechts Teerofen“ am Wannsee. In ihm wurde durch trockene Destillation und Verschwelung aus organischen Stoffen Teer gewonnen. Der Brandgeruch der Kiefernheide ist jedem märkischen Wanderer vertraut. Er bildet sich, auch ohne das Holzhauerfeuer, wenn die Sommerhitze die ätherischen Öle der Nadelhölzer freisetzt. Huchels genaues Benennen von Tätigkeit und Werkzeug der Bauern oder Fischer zieht sich durch seine gesamte Lyrik. Dies war in der DDR ein willkommenes, wenn auch untaugliches Motiv, Huchels Lyrik dem sozialistischen Realismus anzunähern, solange die herrschende Literaturdoktrin noch Huchels internationales Ansehen für die DDR-Dichtung vereinnahmte.
In unserem Gedicht „schränkt“ ein Knecht – Ruhepunkt des ersten Zeilenblocks – die Säge, d.h., er biegt die Zähne der Säge abwechselnd nach links und rechts, damit sie besser arbeitet.
Den Ulanen, einen lanzenbewaffneten Reitersoldaten, gab es, nach polnischem Vorbilde, im preußischen Heer seit 1807. Typisch für seine Uniform waren die Ulanka, ein Rock mit zwei Knopfreihen, von der Taille zur Schulter auseinanderstrebend, und die Tschapka, die Mütze.
Der Wasserschierling, ein giftiger, weißblühender Doldenblütler, wächst in oder an ruhigen Gewässern Nord- und Mitteleuropas.
Die Kalesche (ein tschechisches Lehnwort) ist ein leichter, vierrädriger Ein- oder Zweispänner, mit Lehnsessel und Faltverdeck.
Das sind wenig „preußische“ Realien. Schon in früheren Gedichten zitiert Huchel das slawische Element häufig: den polnischen Schnitter und den wendischen Wald in der Sternenreuse oder die wendischen Weidenmütter im Gedicht „Ölbaum und Weide“ (abgedruckt im Merkur 1972). Und dieses slawische Element bietet gerade, von der Frage seiner jeweiligen gesellschaftlichen Integration in Preußen abgesehen, wichtige Anregungen für Huchels naturmagische Vorstellungen, wie sie in den Gedichten in unterschiedlicher Form immer wieder auftauchen, und sie bilden auch einen Bestandteil dessen, was seine Privatmythologie ausmacht. In diesem Zusammenhang ist, immer noch auf der ersten Ebene der im Gedicht mitgeteilten Fakten und Realien, der mit den Bauerntöchtern tanzende Ulan von Bedeutung. Huchel schrieb in einem autobiographischen Essay, „Europa neunzehnhunderttraurig“, für die Literarische Welt vom 2. Januar 1931: 

Peter H., Potsdam, ist als Kind einer Bäuerin und eines Soldaten auf die Welt gekommen. Sein Vater, entstammend einer sächsischen Schäferfamilie, die 1546 bei der Kirchenvisitation in Harbke für einen Altar lehnspflichtig genannt wird und die im 19. Jahrhundert auf dunklem Prozeßweg Haus und Mühle an das gräfliche Stammgut verloren hat, hat als Ulanenwachtmeister im Sommermanöver bei Alt-Langerwisch eine wohlhabende Bauerntochter zur Frau genommen. Die Geburt ihres Sohnes fällt in die Zeit der ersten Flugversuche und der Nutzbarmachung der Elektrizität. Aber er soll mehr den Geruch von Aprilgras, Acker und Kühen einatmen, als den Ruß der aufstrebenden Industrie. Da seine Mutter lungenkrank ins Sanatorium muß, wird das Kind mit vier Jahren zu den Großeltern aufs Land gegeben. Es wird mit frischer Milch und Luft verwöhnt. Denn der Großvater hat Heide, Acker, Wiese. Leider ist er kein Bauer darauf. Er überläßt die Bewirtschaftung seiner Frau, dressiert den Hund, legt sich heimlich eine Bibliothek auf dem Heuboden an und schreibt Verse in ein blaues Heft, die Napoleon und Garibaldi verherrlichen und dem Dorfpastor ans Leder gehen. Er glaubt nicht an Gott; eher an die Macht von Kuhbeschwörungen. So hat er den Knaben bald so weit, daß es sich auch in ihm nur innerlich regt. Er fängt früh damit an, lebensuntüchtig zu denken. Einige Jahre später schreibt auch er in ein blaues Heft. (Zit. bei Gajek, S. 122.) 

Gewiß braucht man diese biographischen Details nicht zu wissen, um das Gedicht zu verstehen. Aber sie liefern dem Verständnis der Privatmythologie Huchels eine festere Basis als die Suche nach literarischen Einflüssen oder Sagenstoffen. Der Vater und der Großvater werden in zwei Gedichten ausdrücklich genannt, in „Letzte Fahrt“ (Die Sternenreuse) und in „Mein Großvater“ (Die neunte Stunde). Die Letzte Fahrt beschreibt den Vater in gehämmerten jambischen, vier- und dreihebigen Vierzeilern mit Endreimen. Die erste und letzte Strophe lauten: 

Mein Vater kam im Weidengrau
und schritt hinab zum See,
das Haar gebleicht vom kalten Tau,
die Hände rauh vom Schnee.

[…] 

Ich lausch dem Hall am Grabgebüsch,
der Tote sitzt am Steg.
In meiner Kanne springt der Fisch.
Ich geh den Binsenweg.

Das Gedicht „Mein Großvater“ ist zwar noch strophisch gegliedert, aber es kann, nach dem Fingerzeig des Titels, sich ganz auf die lakonischen Miniaturen konzentrieren, die den Großvater als zeitlose Erinnerung hervorrufen. Hier lauten die erste und die letzte Strophe: 

Tellereisen legen,
das Aufspüren des Marders bei frischem Schnee,
das Stellen von Reusen im Mittelgraben,
das war sein Metier.

[…] 

Er drehte am Messingring der Lampe.
Die Sonne glomm auf,
der Eichelhäher schrie
und flog in den kalten märkischen Morgen.

,Natur‘ und ,Naturmagie‘ erscheinen hier anders als bei Wilhelm Lehmann und seiner Schule. Es ist kein ,Graserbewispern‘. Wie ein Kommentar zum Großvater-Gedicht mutet an, was Peter Huchel 1974 in einem Gespräch bekannt hat: 

Ich habe versucht, von diesen Naturmetaphern loszukommen […]; aber ich bin dann immer wieder durch das Dickicht der marxistisch erhobenen Zeigefinger gegangen und bin wieder zu einem alten Wort von Augustinus zurückgekehrt: „Haus meines Gedächtnisses, daselbst Himmel und Erde gegenwärtig sind.“ Im Grunde genommen […] war vielleicht das alte Haus meines Großvaters in Langerwisch das Gedächtnis für mich. […] die Natur war für mich nicht mehr die heile, die absolute Natur, sondern es war für mich die vom Menschen veränderte Natur, in der er leben konnte. Die Natur ist für mich etwas sehr Grausames, die Kindheitsidylle wurde sehr schnell zerstört, weil ich bald die Knechte und Mägde, die Zigeuner und die Ziegelstreicher, die polnischen Schnitter kennenlernte: es gab für mich keine heile Natur mehr. Die Natur war für mich Fressen und Gefressenwerden. (Zit, bei Gajek, S. 135f.) 

Auf einer zweiten Verständnisebene zeigen sich nunmehr Bewegungsvorgang, Blickrichtung und Tempuswechsel unseres Gedichts. Huchel beginnt erzählend, im Berichtston? im epischen Präteritum. Nach der Ortsbestimmung „Hinter erloschenen Teeröfen“ suggeriert das Imperfekt „ging ich“ einen andauernden Vor-Gang, bis der Blick auf den Knecht fällt. Doch dieser ,kommuniziert‘ nicht mit dem Berichter, er blickt nicht auf, er arbeitet weiter. Seine Erscheinung schließt die erste Strophe, den ersten Zeilenblock ab.
In der zweiten Strophe steht am Anfang eine Zeitbestimmung: „Noch immer“. Sie fordert das Präsens in der Dauer der Zeitlosigkeit – oder doch in einem andauernden Genrebild des Dorftanzes. Der „rote Ulan“, in der Mittelzeile des gesamten Gedichts, im Zentrum stehend und im Singular (als Gattungsnahme, als Kollektivum, als Generalisierung?) tanzt mit „Bauerntöchtern“. Er tut dies auf der „Tenne des Nebels“, und diese einzige Genitiv-Metapher signalisiert das Unwirkliche, Magische des Vorgangs, der dann, mit den Zeilen 9 und 10, vollends gespenstisch wird. Das „Noch immer“ und die von Mückenschwärmen durchwehte Ulanka evozieren einen märkischen Totentanz, dessen kreiselnde Bewegung andauert, solange der Blick auf ihn gerichtet ist.
Die drei Zeilen des letzten Blocks kommen schließlich ganz ohne Verb aus; der Blick zur Seite wird nach unten gezogen, ruht im stehenden Wasser; das Gedicht ist vollends statisch geworden; das Bild der Kalesche ist starr; der Autor hat sich aus ihm entfernt; wir sehen etwas Niegesehenes. „Das Gedicht trifft, wenn es gelingt, durch bedeutete Dinge auf einen nichtbedeutbaren Zustand“: und:

Wir sprechen nicht etwas aus, nur weil wir es erlebt haben, sondern wir werden erleben, was wir benannt haben. (Höllerer, S. 87)

Die „bedeuteten“, im Vorgang des Gedichts mit einer Deutung versehenen Dinge, die „selbständigen Metaphern“, werden von den Huchel-Interpreten unterschiedlich benannt und definiert. Man hat, im Sinne Ezra Pounds, den Begriff des ,Imagismus‘ vorgeschlagen. Das ist keine Tautologie, weil der Imagismus tatsächlich die Präzisierung und Konzentrierung von poetischem Sinn im Bild fordert, eine von Rhetorik und Emotion freie Zeichensprache, wie sie Huchel in seinem Spätwerk bildet (vgl. Knörrich, S. 200).
Mit unseren Hinweisen auf die zweite Verständnisebene für das Gedicht „Brandenburg“ sind zwar die einzelnen Aussage-Elemente in ihrer Herkunft und ihrer „harten Fügung“ erläutert worden; aber die Vielschichtigkeit des so montierten Textes erschließt sich noch nicht im Sinne einer Evidenz, sofern hier Einsichten vermittelt werden können, an die kein Zweifel rührt. Als Peter Huchel 1932 den Preis der Kolonne, der „Zeitung der jungen Gruppe Dresden“, erhielt, formulierte der Laudator:

Die Worte öffnen sich wie Fächer, und es entfällt ihnen die verlorene Zeit. (zit. bei Schäfer, S. 368)

Gewiß sind auch die in „Brandenburg“ bedeuteten Dinge nicht mehr nur sie selbst, sie nehmen Chiffrencharakter an, werden Zeichen für etwas anderes; sie vermitteln eine geschlossene Bildwelt, in der lyrisches Sprechen als das Setzen von Zeichen zu verstehen ist.
Axel Vieregg (S. 13) differenziert sehr plausibel zwischen der „Chiffre“ als nur systemimmanent erkennbarem „evokativem Äquivalent“ und dem „Zeichen“, das gleichnishaft auf die Chiffrenfunktion zurückweist. Die Beispiele: fürs erste „Unter der Wurzel der Distel wohnt nun die Sprache“: fürs zweite „Wo an der Distel das Ziegenhaar weht“. Im zweiten Fall kann man wohl auch von einer Metapher im bekannten Sinne sprechen. Die erste „Chiffre“ erfährt, auch in ihrem poetologischen Sinn, eine Erläuterung durch folgendes Bild:

Das Wort, ausgesät für die Nacht, treibt fort, wurzelt im Wind. (Auf die politische Verschlüsselungstechnik mancher Chiffren kann hier nur verwiesen werden.)

Das Gedicht „Brandenburg“ bewegt sich mit der neunten Zeile, nach der Metapher „Tenne des Nebels“, auf die entscheidende Chiffre, „die preußische Kalesche“, hin, auf eine „Übersetzung ohne Urtext“, wie der Weggenosse Huchels, Günter Eich, es genannt hat. Der Urtext der Geschichte, Brandenburgs, Preußens und seiner Nachfolgestaaten, verweht im Tanz des Ulans; die preußische Kalesche bleibt im magischen Zustand des Gedichts ein Traumbild, das wir erleben, weil Peter Huchel es benannt hat. 

1

Gerhard Schmidt-Henkel, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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