Gerhard Schulz: Zu Eva Zellers Gedicht „Zu guter Letzt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Eva Zellers Gedicht „Zu guter Letzt“ aus Eva Zeller: Stellprobe. –

 

 

 

 

EVA ZELLER

Zu guter Letzt

Such dir beizeiten ein Bild
das dein letztes sein soll
unseren fliederumzogenen
Garten zum Beispiel die
große grüne Blüte von der
du sagtest sie könne auch
eine getarnte Gottesanbeterin
sein den Briefkasten in dem
die Amsel nistete oder das
Mühlrad vorm Fenster wenn
der Frost es angehalten hat
und die hängenden Eisspeere
den Bach durchbohrten was du
gesehen hast hast du gesehen

Such dir beizeiten ein Bild
das die Unschuld der Augen
wiederherstellen könnte
sonst ist das letzte der
Triangel der vom Bettgalgen
hängt der Kolben in einer
Spritze der blaue Vorhang
rechts und links vom Fenster-
kreuz die Hand der Nacht-
schwester mit dem Schwamm
für die trockenen Lippen

Such dir beizeiten, woran
du dich halten willst sonst
erscheint dir zum Bilde
zu guter Letzt der
verspottete Leib
dem deine Zweifel
mit einem Speer
die Seite geöffnet haben

 

Glauben und wissen

Sorge um das, was nachher kommt, ist seit alters her Angelegenheit der Religionen. Der Glaube an ihre seelsorgende Metaphysik ließ allerdings im gleichen Maße nach, wie derjenige an die Macht der Wissenschaft an Boden gewann. Literatur, einst aus dem kultischen Gebrauch der Religionen hervorgegangen, muß sich zwischen Glauben und Wissen mit Unterhaltung und dem Schönen begnügen, womit man das Gemüt schmückt wie das Zimmer mit ansprechenden Bildern.
Solch innerer Bilderschmuck ist ausdrücklicher Gegenstand dieses Gedichts. Empfohlen wird als Bildquelle die Natur, und zwar eine idyllische Natur in vorindustrieller Welt: Garten und Mühlrad sind die Zeichen dafür, ganz als lebte man in den Zeiten von Eichendorffs Taugenichts.
Aber ein drohendes „Sonst“ stellt dieser Idyllik die kalte Krankenhausatmosphäre der modernen Wissenschaft entgegen. Es ließe sich wohl eine ganze Anthologie zur Poesie der Blicke zusammenbringen. Der alternde Goethe wäre darin vertreten, der mit der fernen Geliebten den Mond als Begegnungsort der Augen verabredete. Auch Nelly Sachs’ „Gebet für den toten“ – den ermordeten – „Bräutigam“ gehörte dazu:

Wenn ich nur wüßte,
Worauf dein letzter Blick ruhte.

Liebe liegt in dieser Frage und ein imaginärer Dialog zwischen der Lebenden und dem Toten. In Eva Zellers Gedicht hingegen gibt es nur einzelne; eine Ratgeberin, Mentorin spricht aus Erfahrung zu einem Du, das jedermann ist. Den letzten Schritt muß man in der Tat allein tun.
Wer von letzten Blicken und mithin auch von letzten Dingen redet, macht sich zugleich Gedanken über etwas, wovon man nichts weiß. Religion und Metaphysik erheben ihr Haupt und treten der Physiologie gegenüber wie die beiden Sphären dieses Gedichts. Die Verweise sind unübersehbar, angefangen mit der „Gottesanbeterin“, einer großen grünen Heuschrecke, die ihre Präsenz hier wohl eher ihrem Namen als ihrer Gattung verdankt. Wir lesen ferner vom „Bettgalgen“ – für die Schächer? –, vom tränkenden Schwamm für den Patienten und, in den „Eisspeeren“ präfiguriert, vom Speere, mit dem die Kriegsknechte dem Großen Toten einst die Seite öffneten, so daß alsbald Blut und Wasser herausging, wie das Johannesevangelium erzählt. Eine säkulare Passion unter den Händen moderner Medizin? Oder vielmehr Gotteslästerung? Transzendenz ist nur im Glauben zu erreichen, nicht im Wissen. Vom Zweifel wird am Ende dieser Verse gesprochen, was in deren Zusammenhang auf eine unsichere Mitte zwischen Glauben und Unglauben deutet. Aber das gerade ist der Ort, den sich Literatur angeeignet hat, seit sie sich aus den Diensten der Religion in die Pflege des Schönen, des Ästhetischen entließ. Es ist das Schöne, das die „Unschuld der Augen“ wiederherstellt, die ihnen durch die wissenschaftliche Erkenntnis samt der ihr anhaftenden Überzeugung von menschlicher Allmacht verlorenging – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das idyllische Angebot der Autorin ist ein privater Vorschlag, den jeder nach seiner Fasson austauschen mag. Daß man sich auf dem Weg in das unentdeckte Land, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt, wie Hamlet meint, mit einem Blick voll Schönem ausrüstet, ist als geistliche Empfehlung ungenügend und als prosaisch-rationale haltlos oder wohl gar banal. Allein im Gedicht läßt sich dergleichen, aufmerksam machend, sagen. Religionsersatz wird Literatur damit keineswegs. Sie ist überhaupt kein Ersatz, sondern tritt in eigenem Recht auf, dem ästhetischen Recht ihrer Bilder.

Gerhard Schulzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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