Gerhard Schulz: Zu Stefan Georges Gedicht „Der Widerchrist“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Stefan Georges Gedicht „Der Widerchrist“ aus Stefan George: Werke in Einzelausgaben. Band 6/7: Der siebente Ring.

 

 

 

 

STEFAN GEORGE

Der Widerchrist

›Dort kommt er vom berge · dort steht er im hain!
Wir sahen es selber · er wandelt in wein
Das wasser und spricht mit den toten.‹

O könntet ihr hören mein lachen bei nacht:
Nun schlug meine stunde · nun füllt sich das garn ·
Nun strömen die fische zum hamen.

Die weisen die toren – toll wälzt sich das volk ·
Entwurzelt die bäume · zerklittert das korn ·
Macht bahn für den zug des Erstandnen.

Kein werk ist des himmels das ich euch nicht tu.
Ein haarbreit nur fehlt · und ihr merkt nicht den trug
Mit euren geschlagenen sinnen.

Ich schaff euch für alles was selten und schwer
Das Leichte · ein ding das wie gold ist aus lehm ·
Wie duft ist und saft ist und würze –

Und was sich der grosse profet nicht getraut:
Die kunst ohne roden und säen und baun
Zu saugen gespeicherte kräfte.

Der Fürst des Geziefers verbreitet sein reich ·
Kein schatz der ihm mangelt · kein glück das ihm weicht…
Zu grund mit dem rest der empörer!

Ihr jauchzet · entzückt von dem teuflischen schein ·
Verprasset was blieb von dem früheren seim
Und fühlt erst die not vor dem ende.

Dann hängt ihr die zunge am trocknenden trog ·
Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof…
Und schrecklich erschallt die posaune.

 

Ein neuer Weltzusammenbruch

Claus von Stauffenberg, einer der Jüngsten und Letzten aus dem Kreis um Stefan George, soll sich besonders durch dieses Gedicht in seinem Widerstand gegen Hitler haben bestärken lassen. Bezüge liegen auf der Hand. Die Macht des Verführers beruht auf dem Triumph des Wahns über die Wahrheit, und die Verführten bringt sie dorthin, wo aller Wahn letztlich hinleitet: zur Ernüchterung und der Nötigung zur Verantwortung vor den Tatsachen. Wie kein zweites mir bekanntes Gedicht lassen sich diese 1907 zuerst gedruckten Verse als Prophetie jener Selbstzerstörung lesen, in die sich die Deutschen 1933, im Jahr von Georges Tod, hineinbegaben. Ein erster Entwurf des Gedichtes trägt den Titel „Nova Apocalypsis“ – Offenbarung eines neuen Weltzusammenbruches.
George hat sich stets gegen die Aufnahme seiner Gedichte in Anthologien gewehrt. Aber dürfte der „Widerchrist“ allein in dem Zusammenhang des auf eine Mythenstiftung ausgehenden Georgeschen Gedichtbuches „Der siebente Ring“ gelesen werden, so entzöge man es allen jenen, die sich von Sprachkunstwerken bewegen lassen, ohne doch auf die Gesamtphilosophie eines Dichters zu subskribieren.
Was George in den Bildern dieses Gedichtes entwickelt, ist ein Verhaltens- und Wirkungsmuster für falsche Propheten, das sich sehr viel genereller aus der Geschichte ableiten läßt und nicht zuletzt aus jenem großen Geschichts- und Geschichtenbuch, das hier zu Georges spezieller Quelle geworden ist: aus der Bibel. Aus ihr stammt die Vorstellung eines Widerchrist überhaupt, des Baal-Sebub oder Fliegengottes, den Goethes Mephisto als Herrn der Ratten und der Mäuse, der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse apostrophierte und den George den Fürsten des Geziefers nennt. Aus der Bibel stammt das Bild des vom Berge herabsteigenden Propheten mit der Aura und Autorität eines von Gott Begnadeten. Biblisch sind Wein- und Erweckungswunder, biblisch die Posaunen des Jüngsten Gerichts und biblisch selbst der Hamen, das Fangnetz für Fische. Seit langem ist die Bibel ein Spracharsenal für gute und schlechte Prophetien, und das Bibelzitat ist ein beliebtes Stilmittel, das erhellen, aber auch manche Rede über Argumente hinwegtransportieren kann. Im Gebrauch des Widerchrist und seines Dichters werden die beiden Verwendungsmöglichkeiten offenbar.
Im reichen Klang seiner Vokale, im gemessenen Schritt der assonierenden Terzinen, in der bedacht archaisierenden Sprache und in den üppigen Metaphern ist Georges Gedicht als Kunstwerk zugleich ein Kunststück und Balanceakt von Ernst und Ironie. Kaum merklich wechseln die Sprecher. Aus dem am Anfang zitierten naiven Staunen des Volkes wächst seine Verblendung hervor, markiert durch jene zwei Losungen, die den Fortschritt der Verführung sichtbar machen: freie Bahn zuerst für den Erstandenen durch die Menge der noch Ungläubigen und danach Tod dem „rest der empörer“, die sich dem Zug nicht angeschlossen haben. Im Vordergrund des Gedichtes freilich steht der Hohn des Verführers selbst, das Bekenntnis seiner zynisch berechneten Versprechungen von gleißend drapierten Nichtigkeiten, und die triumphierende Beschreibung seines Erfolges. Aber es ist schließlich der Dichter, der in der sechsten Strophe den Satz des Verführers ironisch enthüllend zu Ende führt und dann das Wort zu seiner Apokalypse übernimmt. Man mag fragen, was es denn mit dem Seltenen und Schweren auf sich habe, dem der Widerchrist sein Leichtes entgegensetzt, jenes Nichtige in sich selbst, dem er nur im Wie-Vergleich einen Wert zu bestimmen sucht. Der große Prophet Moses fordert seinem Volk sechs Tage Arbeit ab. Daß die tatsächlich erreichten Erleichterungen des menschlichen Lebens im letzten Jahrhundert mit den Parolen des noch Leichteren, Besseren, Reicheren, Bequemeren zugleich Ansatzpunkte zu ständigen, immer neuen gefährlichen Verführungen boten, ist zusammen mit ihnen offenbar geworden.
Stefan Georges Gedicht „Der Widerchrist“ tritt für die meisten heutigen Leser aus dem engen Kontext von persönlichen und politischen Mythen Georges heraus; es ist ihm keine richtungweisende Philosophie zu entnehmen. Es etabliert sich vielmehr als eine Art kritische Instanz gegenüber dem Sophismus und der Gaukelei von Gurus, Propheten, Weltbeglückern und Heilsideologen. Es stellt in seiner ästhetischen Geschlossenheit und Anschaulichkeit eine Erfahrung dar, die der Leser in Beziehung zu seinen eigenen Erfahrungen setzen kann. Man sollte es sich hin und wieder einmal vorsagen.

Gerhard Schulz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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