Gerhard Wolf: Wortlaut Wortbruch Wortlust

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gerhard Wolf: Wortlaut Wortbruch Wortlust

Wolf-Wortlaut Wortbruch Wortlust

DER STEIN FÄLLT DESTO SCHNELLER UM SO TIEFER
EIN ÜBERBLICK 1986

… ich seh
das Versteinen
im Stein.
(Erich Arendt)

Auf der Suche nach einem Titel, nach Motto und Motiven für Gedichte, die ich in letzter Zeit las, geriet ich wie von ungefähr unter die Steine. Ich hatte das, ich kann Stein und Bein darauf schwören, nicht vorausgesehen. Und ich glaube auch nicht, daß man sich für Situationen und Verhältnisse, die ich durch Gedichte markiert sehe, ein Bild machen kann, daß man ein „in der Natur vorkommendes festes, aus Mineralien bestehendes Material“ (Definition nach Steinitz/Klappenbachs Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Berlin 1966–1977) findet, um mit seiner Bildlogik und hilfreichen Kennzeichnung komplizierter Prozesse, und sei es nur für die Zeitspanne von ein paar Jahren, ding- und sinnfest vor sich zu haben.
Zwar gingen mir gleich die üblichen Redewendungen durch den Kopf, die ich da gebrauchen könnte: daß es Steine des Anstoßes gibt und solche, die man aus dem Weg räumt, um nicht ständig über sie zu stolpern. Einer hat ein Herz aus Stein, dem andern fällt er, glücklicherweise, vom Herzen. Nach der Bibel, Lukas 19,40, können Steine schreien; der werfe (Johannes 8,7) den ersten, dem nicht zum Steinerbarmen zumute ist … Ich will es dabei bewenden lassen und nur noch nachtragen, daß das aus dem Gemeingermanischen stammende Wort Stein (nach Hermann Pauls Deutsches Wörterbuch, 5. Aufl., 1966) ursprünglich nichts anderes bezeichnet als: ein einzelner Körper, unabhängig von seiner materiellen Substanz.
Schon das Wort selbst hat seine Doppelfunktion, einmal als konkreter Gegenstand, zum andern als sinnbildliche Abstraktion. Ihrer Verwandlung im Austausch von Erfahrung und Vorstellung war ich schon in Versen Erich Arendts seit seinen Ägäis-Gedichten begegnet, signifikanten Metaphern wie „Stein-Enge“ – „Wundstein“ – „Versteinen im Stein“.
Jetzt, einmal auf diese Steinspur gestoßen, war ich doch überrascht, in Versen zahlreicher Autoren aus verschiedenen Generationen, über die ich ohnehin sprechen wollte, wieder und wieder auf sie zu treffen:

… ein für allemal
geschlagen zur Heldin des Textes,
gefüllt mit Ohnmacht,
erstarrt, ein Widerstandsstein,
fiel mein Blick neben die Sätze.
Bin ich, was ich tue?
Bin ich, was geschieht?

Die Frage von Elke Erb steht am Beginn jeden Schreibens. „Herzstein“ und „Steinherz“ heißen Gedichte in Sarah Kirschs Gedichtband Katzenleben (1984). Der berühmtberüchtigte Stein, er rollt unaufhaltsam in Günter Kunerts „Sysiphos 82“, und nicht nur in diesem seiner Gedichte; ein anderes beginnt:

Steine wachsen aus der Erde
wo eben noch Brot keimte
Wälder atmeten …

Steine immer mehr…
(„Mutation“)

Thomas Brasch nennt den Tag, an dem er keinen Stein ins Rollen gebracht hat, „Der schöne 27. September“ und gab diesen Titel auch seinem Gedichtband (1980). Heinz Czechowski in Leipzig, beim Nachdenken über die „papierne Existenz“ aller Schreibenden, zitiert die überlieferte Szene:

… Schon Dante empfand ja
In den Steinwürfen der Knaben
Die seine Vertreibung aus Florenz begleiteten,
Daß auch der Wurf eines Wichtes
Gewicht hat…
(„Materie“)

Und Uwe Kolbe benutzt den Stein als Instrument zur Meditation, um in der hektischen Mechanik „der Folge der Zeit“ einen Ruhepunkt zu finden:

Ich nehme ihn in die Hand.
Es fällt mir leicht, solange ich nichts weiß.
Wenn ich von der Energie weiß, wird er schwer…
Wenn ich etwas von der Energie verstehe, kann ich den Stein
begreifen.
Ich hebe ihn wieder an.
Er ist leicht.
Ich habe teil an dem Wunder des Steines und bilde meine Kraft
an seiner Energie.
(„Zen-Vorbereitung“)

Steine, wo wir stehn und gehen, wohin wir blicken. Wir sitzen ja nicht im Glashaus. Nicht auszudenken, sie weiter zu verfolgen in ihren materiellen und ideellen Metamorphosen, den unabsehbaren Aggregatzuständen:
Aus Steinen werden Mauern – ich versage mir dazu alle Argumente. Aus Mauern werden Häuser – welche Folgen und Folgerungen. Nur ein Beispiel:

‚ihr habt mir ein Haus gebaut‘
laßt mich ein andres anfangen,

fordert Wolfgang Hilbig, ganz am Anfang seiner dichterischen Laufbahn, unterwegs in verfallenden, in neuerrichteten steinernen Fabriken, „deren Komplex ganze Straßenzüge einnahm … Er lauschte dem grollen Chor der Maschinen, einem stetigen Dröhnen, das sich unter ihm, unter dem Straßenpflaster erzitternd fortzusetzen schien; es war einem immerwährenden Meereslärm ähnlich…“ (aus: Der Brief); und in phantastischer, polarer Metaphorik nennt Hilbig die ihn umgebende Industrielandschaft „das meer in sachsen“, Element handgreiflichen Daseins und mythischen Ursprungs –

… trennender schmerz in früher wasserzeit

steine schliffen sich hohl
an ihr der sand zerstörter steine
auf dem erhellten grunde ging er ohne schmerzen
(„ursprung und zusammensetzung“)

Mauern, Häuser, Straßen, Architektur, die nur zu leicht, wer wüßte es nicht, wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile zerfallen können. „Unterm Schutt“ Berlins – „Der Himmel ein Stein“, sagt sie, fand Inge Müller nach 1945 ihre Versblöcke, in denen wir unmittelbar an dem seltsamen Vorgang teilhaben, in welchem sich Wirklichkeitsstoff zum Bild, Bild zur Idee, Idee zurück in Wirklichkeit verwandeln.

UNTERM SCHUTT III

Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich
Wir haben das Haus getragen
Der vergessene Hund und ich.
Fragt mich nicht wie
Ich erinnere mich nicht.
Fragt den Hund wie.

Um 1963/64“, schrieb Adolf Endler, „ist für Inge Müller endgültig das Jetzmorgengestern angebrochen, und sie ist wieder die Frau unterm Schutt – man möchte beinah sagen: buchstäblich; und man wagt es und sagt es … Wenn das zur Mode gewordene Lobwort von der ‚Authentizität‘ einer Poesie Sinn hat, dann in diesem so nicht vorher und nicht nachher bei uns eingetretenen Fall.
Ich lese aus den letzten Gedichten von Inge Müller, die erst im letzten Jahr erschienen, zwanzig Jahre nach ihrem Tod, den sie an sich selbst vollzog, aus Gründen, die wahrlich nicht nur bei ihr selbst lagen. In nüchternen Vorahnungen sieht sie voraus, was sie nicht mehr gesehen hat, beunruhigt von dem, was auf sie und uns zukam. …

Gerhard Wolf

 

Mit Dichtern im Gespräch

An Stelle eines Vorworts

Es war zu Anfang der sechziger Jahre. Ich war Lektor eines Verlages und bekam eines Tages das Manuskript eines unbekannten jungen Mannes mit Gedichten, die sich fast in allem von denen unterschieden, die mir bis dahin auf den Schreibtisch gekommen waren. Ihre respektlose Redeweise – Worte zueinandergerückt in drastischen, pathetischen Formationen, deren Perioden sich manchmal galoppierend lustig überschlugen – zog an und stieß zugleich auch ab, weil sie guter Lyrik und geübter Bildlogik zu widersprechen schien. Alltägliche Szenen und ungewöhnliche Vorgänge gerieten spontan und forciert in die Zeilen, landläufige Redensarten ergaben tatsächlich Verse, Phrasen überraschende Metaphern – man war verwundert und ratlos, weil man spürte, daß hier gutgemeinte Verweise auf den Kanon der Dichtung versagten. Als Provokationen wollte der Autor seine Verse verstanden wissen, als solche wurden sie empfunden und dann auch abgekanzelt – das hat sich, wenn ich mich nicht täusche, bei allen seinen Gedichtbänden später wiederholt; Druckgenehmigungen und Veröffentlichungen ließen manchmal auf sich warten und waren umstritten. Verse liefen der Zeit voraus.
Zögernd, deshalb in Briefen mit bestimmter Ironie, suchte ich dem Schreiber beizubringen, nicht weil ich gegen seine Gedichte Grundsätzliches einzuwenden hatte, sondern weil sie mir nicht dem zu entsprechen schienen, was ich, nach meinem schlichten Verständnis, an ihnen vollkommen haben wollte. Er wiederum schien auf Widerspruch aus zu sein und ihn selbstquälerisch zu genießen; er diskutierte selbst mit Leuten, die alles besser wußten, auch in diesem Verhalten hat er kaum nachgelassen.
Wir arbeiteten zusammen an seinem ersten Gedichtband Die Erstmanuskripte, denen er durch rigorose Striche, bravouröse Wort- und Zeilenumstellungen und Transaktionen die gültige Form gab, um seinen wohlwollenden Kritiker zufriedenzustellen und wiederum zu frappieren, habe ich zum Glück noch zur Hand; woher nähme ein Lektor sonst sein Selbstverständnis?
Vielleicht habe ich an den Gedichten Volker Brauns gelernt, daß man dann lebendiger Poesie begegnet, wenn sie einen unerwartet trifft, manchmal zunächst befremdet; auch das hat sich bis zu den Manuskripten von Bert Papenfuß und anderen, die heute noch Bedenken erregen, nicht geändert.
Manche Autoren können und wollen über das Entstehen ihrer Verse nicht reden; andere, wie Georg Maurer oder Erich Arendt, suchten den Dialog und gewährten Einblicke in ihr schöpferisches Verfahren. Aus solcher Praxis sind meine Ansichten und Betrachtungen zu ihrer Dichtung entstanden, persönliche Begegnungen haben sie inspiriert. Wenn sie nur etwas von dieser unmittelbaren Berührung mitteilen, die ihnen vorausging, wäre ich es zufrieden.
Gedichte, auch von Zeitgenossen, erschließen sich nur dem, der sich selbst auf ihre Spur begibt.

Gerhard Wolf, Vorwort, Mai 1987

Inhalt

I   IM ÜBERBLICK

– Offener Ausgang – Notizen zur Lyrik der DDR 1973

– Das Gedicht unterwegs nach Utopia – Notate 1979

– Im deutschen Dichtergarten (1982)

– Der Stein fällt desto schneller um so tiefer – Ein Überblick 1986

II   ANSICHTEN UND PORTRÄTS

– An einem kleinen Nachmittag – Brecht liest Bachmann (1981)

– Skizzen für ein Porträt Erich Arendts (1972–1982)

– Bei der Lektüre von Georg Maurers Gedichten (1972–1976)

– Stephan Hermlin – Kontur eines Dichters (1962)

– Zeugenschaft (1985)

– Der Name des Unhörbaren. Zu Johannes Bobrowski – zwanzig Jahre nach seinem Tod (1987)

– Losgesprochen von der Natur. Zu den Gedichten Hanns Cibulkas (1984)

– Thüringischer Nachmittag – Zu Walter Werners Gedichten (1981)

– Der lebende Vers – Improvisationen aus gegebenem Anlaß. Für Günter Kunert (1978)

– Freier Umgang mit klassischen Formen bei täglichem Hofgeschrei. Zu den Gedichten Karl Mickels (1978)

– Die gebrochene Ode oder: Training des aufrechten Gangs. Zur Lyrik Volker Brauns (1978)

– Wortlaut  Wortbruch  Wortlust. Papenfuß und andere. Zu einem Aspekt neuer Lyrik (1986/87)

 

 

Ich halt’s halt mit der Kunst

– Ein Gespräch mit Gerhard Wolf. –

Karl Deiritz: Lieber Herr Wolf, im Oktober dieses Jahres werden Sie 65. Haben Sie eigentlich ein heiteres Leben gehabt?

Gerhard Wolf: Ich werde ja oft als heiter charakterisiert. Ob ich mich selbst heiter sehe, weiß ich gar nicht. Für heiter würde ich sicher nicht reklamieren. Interessant wäre mir ein besseres Wort, und damit wäre gleich verknüpft meine Beziehung zur Literatur, die mir interessant erscheint. Und die war ja nicht immer heiter.

Deiritz: Ich möchte Ihnen gerne ein Zitat vorlesen, Sie kennen es:

O wie schmerzhaft, wenn man sich nie zeigen kann, wie man wohl möchte, wie ein Kind, ganz gelähmt, nie frei handeln kann und selbst das Große versäumen muß, weil man vorausempfindet, daß man nicht standhalten wird. Versteht ihr das? Der andere müßte alles aus sich selbst kennen, um es zu verstehen. (Aus dem Text „Obduktion“ von 1975)

Wolf: Ja, ja, das ist ein Kleisttext, der stimmt für Kleist. Damit möchte ich mich natürlich nicht identifizieren.

Deiritz: Mir geht es um das Interesse am Biografischen, an Lebensläufen, um das Verstehen und Sich-selbst-Verstehen…

Wolf: Für mich war an dieser Collage eigentlich der Gegensatz von Wissenschaft und Kunst interessant. Näher stand mir danach eine Figur wie Achim von Arnim, dessen Rückzug aus der Politik nach 1810, aus Enttäuschung über die sogenannte nationale Erhebung, Enttäuschung schon vorher über das Verlaufen der Französischen Revolution und diese scheinbare Zuflucht auf dem Land. Das war ja so eine Phase nach der Biermann-Ausbürgerung, wo wir, Christa und ich, auch aufs Land gegangen sind. Da waren mir Dinge sehr nah in dieser Figur, dieser Rückzug aus den Institutionen. Er hatte sich ja zunächst sehr engagiert, er versuchte, eine Zeitschrift zu machen, er versuchte, in die Politik zu gehen, und war eigentlich immer enttäuscht – und dann eben der Rückzug in die Literatur – auch im Vergleich zu Bettina, die sich – nach seinem Tod – wieder neu politisch engagiert. Das hat uns damals an der Romantik sehr angezogen, wie Schicksale, Probleme, Motivationen vorgezeichnet waren. Das hat in der DDR-Literatur eine große Rolle gespielt. Da begannen für uns nationale Widersprüche aufzureißen, Widersprüche im Verhältnis zum revolutionären und nachrevolutionären Geschehen. Das hat in der westdeutschen Literatur fast keine Rolle gespielt, während es hier eine ganze Reihe Autoren gab, die das angezogen hat.1

Deiritz: Es gab auch ein anderes Traditionsbewußtsein…

Wolf: In der offiziellen Kulturpolitik gab es die Anknüpfung an den klassischen Realismus Goethes, der das Romantische als krank bezeichnete.

Deiritz: Deswegen Ihr Hölderlin-Buch…

Wolf: … um gegen diese Art klassischen Realismus anzugehen, den man hier als die Haupttradition betrachtete. Das war einer der Gründe, warum ich mit Günter de Bruyn die Reihe Märkischer Dichtergarten gemacht habe. Wir wollten diese ganz andere Traditionslinie wieder ins Bewußtsein rufen.

Deiritz: Das ist eine sehr schöne Reihe gewesen…

Wolf: Günter de Bruyn hat ja noch einen Band nachgeschoben über den Friedrichshagener Dichterkreis.

Deiritz: Aber Sie hatten diesen Literaturbegriff nicht von Anfang an. Wie hat sich denn Ihre Abwendung vom Lukácsschen Realismusbegriff vollzogen, das war ja nicht nur eine literarische Debatte?

Wolf: Ich glaub’ ich hab ziemliches Zeug geschrieben bis ’62, da war ein Bruch. Der fällt zusammen mit der Entdeckung und Zusammenarbeit mit der ersten Generation aus der DDR, jener jungen Leute, die mir interessant waren. Ich kam zum Mitteldeutschen Verlag, ich weiß gar nicht mehr, wie das begonnen hat, es war in Berlin. Ich bekam die Möglichkeit, eine lyrische Reihe zu machen. Das begann mit solchen Autoren wie Adolf Endler, Reiner Kunze, Günter Kunert, dann die jüngeren Bernd Jentzsch, Sarah und Rainer Kirsch, später Volker Braun, Heinz Czechowski, Karl Mickel natürlich. Es war die Generation, die am Ausgang des Krieges geboren war und jetzt mit einem anderen Ton, mit einem ganz anderen Ansatz, mit ziemlicher Brachialgewalt in die Literatur eindrang. Volker Braun hat gleich als Student mit Gedichten Schwierigkeiten gehabt. Er schrieb ein Gedicht, „Jazz“ hieß das; das Orchester bricht aus den Fesseln der Partitur aus. Es kam die Diskussion auf, daß das Ich sich selbst artikulieren kann, daß man nicht mehr das Wir betonen will, was ja bei Volker Braun immer eine Rolle gespielt hat. Ich hab eine Anthologie gemacht, Bekanntschaft mit uns selbst, eine zweite, Sonnensucher und Astronauten, da ist ein Mann wie Uwe Gressmann drin, der völlig rausfiel aus dem üblichen Bild. Und Biermann ist mit drin. Ich glaub, ich bin der einzige gewesen, der damals Biermann durchgekriegt hat. Die Anthologie ist alphabetisch geordnet, mit einem dieser komischen Kompromisse, die man gemacht hat, weil man gesagt hat, der Biermann wird so angegriffen, mit dem können wir den Band nicht beginnen; da hab ich mit Braun angefangen, Biermann steht an zweiter Stelle. In beiden Anthologien waren die Autoren vertreten, die man später die „Sächsische Dichterschule“ nannte. Das war die erste aus kritischen Impulsen in der DDR heraus wachsende Generation, die sich auch selbst als Kreis verstand. Sehr traditionsbewußte Leute, die sich gegenseitig ihre Texte vorgelesen und sehr viel ästhetisch diskutiert haben, über die Möglichkeiten der Klopstockschen Ode oder die Bedeutung des Sonetts – im Gegensatz zu der Prenzlauer-Berg-Generation, die überhaupt nicht Texte ästhetisch miteinander diskutiert hat.

Deiritz: Die aber kaum ein Bewußtsein von Moderne hatte, kaum an avantgardistische Strömungen angeknüpft hat…

Wolf: Das kam rein durch solche Figuren wie Erich Arendt, durch lateinamerikanische und spanische Autoren, die er übersetzt hat. Von der älteren Generation, die aus der proletarisch-revolutionären Literatur kam, war Arendt der einzige, der noch einmal einen Neuansatz fand, wiederum in Rückbesinnung auf seine expressionistischen Anfänge, die er nie verleugnet hat, im Gegensatz zu Becher, der immer nur damit abgerechnet hat.

Deiritz: Dieser Kreis stand ja in Reibung zur staatsoffiziell definierten Literaturgesellschaft – wie ging das?

Wolf: Der Schriftstellerverband hatte damals überall Arbeitsgemeinschaften junger Autoren. Die Talente kamen aus diesen Kreisen. Aus irgendeinem Grund hat der Schriftstellerverband diese Arbeitskreise abgebrochen, überhaupt aufgegeben…

Deiritz: Warum?

Wolf: … und war – sagen wir ruhig, nach ’76 – überhaupt nicht fähig, sich auf die kommende Generation einzulassen, eine völlige Unfähigkeit, sie zu verstehen. Während man sich mit der Generation von Volker Braun oder Karl Mickel noch heftige Konfrontationen geliefert hatte.

Deiritz: Es gab aber weniger Ausgrenzungen; Veröffentlichungsverbote.

Wolf: Das hat einen Grund: diese Generation wollte natürlich noch einen besseren Sozialismus. Bis ’68 kann man das so sagen, da ist der endgültige Schlußpunkt gewesen. Trotzdem war der Impetus immer noch: diese Art Sozialismus nicht, aber immer anknüpfend an „dieses bessere Land…“, ich erinnere an diese Anthologie aus dem Jahre ’66.2

Deiritz: Insofern war die Macht nicht gefährdet…

Wolf: Aber sie sahen Hölderlin und Klopstock anders als die offizielle Germanistik, das waren heftige Konfrontationen mit der DDR-Germanistik und Gesellschaftswissenschaft, Endler war einer der Heftigsten, der sich überhaupt nicht mit diesen Literaturbeamten befreunden konnte, überhaupt nicht verstanden hat, was da vor sich ging. Es gab schon Leute aus der Germanistik, die Weggefährten wurden, wie Schlenstedt; aber das waren Einzelbeispiele. Ich hab’s manchen übelgenommen, daß sie wider besseres Wissen nicht aus ihrer Beamtenlaufbahn ausgestiegen sind, sondern sich dem Kanon immer unterworfen haben. Ein besseres Spielraumfeld bot sich in der Akademie der Wissenschaften, da gingen dann auch Leute wie Schlenstedt hin…

Deiritz: Wie waren Sie in ’68 verwickelt?

Wolf: In ’68 waren wir mehr verwickelt, als man das weiß und glauben will. Es gibt eine Stellungnahme von Christa zum Einmarsch, wie man das so schön nennt. Die weicht ab, ganz bewußt, von der huldigenden Stellungnahme des Schriftstellerverbandes, die hat sie nicht unterschrieben. Sie hat eine eigene Stellungnahme gemacht, die man heute natürlich nicht als Gegenstimme werten will. Die Staatssicherheit hat sie als Gegenstimme gewertet. Es gab drei, Anna Seghers, Kurt Stern und Christa, die eigene Stellungnahmen abgegeben haben, mit Vernunft argumentieren, aber das nicht begrüßen. Aber wir waren viel mehr tangiert, als man das weiß, die Staatssicherheit hat die wichtigsten Dinge nicht gewußt. Wir waren mit der Prager Bewegung liiert, wir haben geschrieben für Literarni Noviny, waren befreundet mit Franci Faktorová, mit Goldstücker. Wir haben damals zum ersten Mal unsere ganzen Tagebücher und Manuskripte ausgelagert, wir haben wirklich damit gerechnet, daß was passiert. Das ist eine Erklärung dafür, daß Christas Stellungnahme von taktischen Dingen diktiert war. Es gab noch eine zweite Verwicklung durch unsere älteste Tochter, die hatte mit anderen Schülern eine Wandzeitung für den Prager Frühling an der Schule gemacht. Nur weil wir noch als gute Genossen angesehen waren, konnten wir die Schüler retten, denn man hatte ihnen gedroht, das Abiturzeugnis zu verweigern.

Deiritz: Welchen Freiraum hatte die Generation von Braun und Mickel, dieser Dichterkreis?

Wolf: Die haben sich den Freiraum erkämpft. Mickel hat seine Bücher gemacht und Volker Braun, auch Rainer Kirsch; nehmen Sie die Akte Endler3 – da ist am Ende der DDR der andere Strang sichtbar, den ich immer für die eigentliche DDR-Literatur4 gehalten und verteidigt habe gegen das, was sonst aus dieser Generation kam.

Deiritz: Jetzt muß ich trotzdem die Frage stellen: Gab es einen Verrat an der Literatur, lag er womöglich darin, daß man die Frage nach dem „besseren Sozialismus“ ungenügend reflektierte?

Wolf: Ich glaube, diese Auseinandersetzung läuft mit dem Werk dieser Autoren, über die wir gesprochen haben, mit und wurde immer mehr bewußt. Wie fängt Reiner Kunze an, um Gottes willen, ganz dogmatisch, ganz brav Sarah Kirsch, im Rilke-Ton Rainer Kirsch. Aber die Erarbeitung eines eigenen weltanschaulichen und dann poetischen Selbstverständnisses steht in kritischem Verhältnis zur Gesellschaft. Es ist wichtige Literatur, deutsche Literatur dieser Zeit aus diesem Land. Sie setzt sich – wenn Sie schon wollen – mit denen auseinander, die keine gute Kunst gemacht haben oder eben ideologisierte, das hat man immer als den anderen Pol gesehen. Brecht und Becher waren immer auch Pole, die man diskutiert, an denen man sich gerieben hat. Ich erinnere mich an Heiner Müller, der sagte, Bert Brecht mit seiner primitiven gewerkschaftsorientierten Weltanschauung, da haben wir noch gestutzt, aber für ihn waren diese Lehrstücke umgesetzte Gewerkschaftspolitik der Partei.

Deiritz: Die Autoren, die wir bisher verhandelt haben, sind – im wesentlichen – in der DDR geblieben. Wieviel Macht hatten die denn? Hat man sie überschätzt, und sie sich selbst auch?

Wolf: Ich weiß es nicht.

Deiritz: Wieviel Macht hatten Sie?

Wolf: … indem ich eine Menge dieser Bücher durchgesetzt habe. Das waren ja – im Gerangel mit dem Verlag, mit dem Ministerium – ständige Auseinandersetzungen, da könnte man eine Menge lustiger und böser Geschichten erzählen, wo man merkte, an diesem Punkt wird man sich jetzt nicht durchsetzen oder der Autor verzichtet auf dies oder jenes Gedicht, um den ganzen Gedichtband durchzubringen. Oder eben nicht. Das hat’s immer gegeben, und das lag auch an den Autoren selbst. Aus dieser Diskussion, vor allem unter uns, sind auch manchmal interessante Sachen entstanden, nicht nur als politische Kritik. In diesen politischen Auseinandersetzungen ergaben sich auch Aspekte, was man künstlerisch machen müßte.

Deiritz: Kein Verrat an der Kunst?

Wolf: Um auf Ihr Stichwort einzugehen: Es war dauernd der Versuch, sich auseinanderzusetzen, verrate ich als Autor meine Kunst (sagen wir’s mal so personell), wenn ich irgendwo ein Zugeständnis mache. Das hat sich auch sehr gemischt mit ästhetischen Maßstäben. Zum Beispiel hatte ich später Schwierigkeiten, Prenzlauer-Berg-Autoren in einem westdeutschen Lektorat unterzubringen; und warum ist erst ganz spät – bei Rowohlt wohl – ein Bändchen von Mickel erschienen? Einen Markt hat man sich von diesen Dingen nie versprechen können, das waren Geschmacksfragen, ästhetische Fragen. Volker Braun hat auch mit seinen Lektoren beim Suhrkamp Verlag diskutieren müssen, weil er etwas für wichtig hielt und die Lektoren sahen das nicht so. Die Unterscheidung DDR-Literatur haben diese Autoren nicht mehr akzeptiert, sie sagten, es gibt Literatur aus der DDR, das war der richtigere Begriff, um sie nicht als provinziell aus der deutschen Literatur herauszukatapultieren.

Deiritz: War es ein Spiel mit der Macht, das Sie, Autoren, Herausgeber, Lektoren betrieben haben? War es vielleicht ein Spiel, wie es Heiner Müller fasziniert hat oder später Sascha Anderson glaubte treiben zu können?

Wolf: Ich würde es vor allem nicht reduzieren auf Spiel mit der Macht. Das sind so Begriffe, die man jetzt interpolieren will auf die verschiedensten Situationen. Das ist eine andere Zeit gewesen, es war eine andere Generation. Die spätere von Anderson und Papenfuß, die trat ja überhaupt nicht mehr ideologisch an, die wollte auch den Sozialismus nicht mehr verbessern. Zuvor hat man gerungen um einen vernünftigeren oder gerechteren Sozialismus – vom Standpunkt des Marxismus aus gesehen, und wußte, warum man Widerstand leistete. Daß man sich nicht immer durchgesetzt hat, ist eine andere Frage. Ich will ein ulkiges Beispiel erzählen: Es gibt ein Gedicht von Volker Braun, das heißt „Der Empfang“ und schildert, leicht zu entschlüsseln, einen Besuch von Braun bei Hager im Politbüro. Der redet ihm alles aus, seine ganzen Bedenken, seine Argumente, die er vorbringt, schwinden vor den „großen Widersprüchen“, die er nicht sieht… das konnte man ja alles zerreden. Es ist fast satirisch und endet dann so: Als ich raus ging, „schrumpfe ich auf die Größe einer Laus“. Jeder in diesem Ländchen wußte, wer gemeint war. Man sagte: du machst dich so klein wie diese Laus da, das ist unmöglich – und in der ersten Ausgabe ist er dann nicht mehr so klein wie eine Laus, sondern wie eine Maus. In der nächsten Auflage steht wieder Laus. Niemand hat mehr hingeguckt. Das waren solche „Kämpfe“. Als Lektor war ich meist in der Rolle dazwischen. Man hatte das Gefühl, im Moment stößt man auf Dogmatismus, Dummheit, da setzt man sich nicht durch. Dann hat man ein anderes Gedicht gehabt, das einem vielleicht sogar viel wichtiger war, gegen das es keine Einwände gab. Das ging bis in ästhetische Dinge, durch den Widerspruch ist manches sogar besser geworden. Es ging nicht um Macht, man wollte den künstlerisch legitimeren Standpunkt durchsetzen. Und hatte auch Erfolg, wenn man die besseren Argumente zusammenbekam. Ich weiß nicht, ob heute in einer Redaktion so um Gedichte gerungen wird.

Deiritz: Der Literaturbetrieb hier hat doch eher den Hang zur Talkshow.

Wolf: Man war gezwungen – den Zwang, den würd ich ruhig betonen –, sich ganz ernsthaft mit einem Text auseinanderzusetzen, um ihn durchzuloten. Man wußte ja, wenn man was ganz Bestimmtes mit dem Text erreichen will, wird Widerspruch kommen. Auf diesen Widerspruch mußte man sich vorbereiten. Es ist manchmal sogar vorgekommen, daß ich standhafter war als der Autor, wo der Autor gesagt hat, ne, weißte, ich will den Gedichtband haben, das nehmen wir jetzt raus und Schluß. Man hat auch Veränderungen gemacht, die manchmal besser waren als die Ausgangspositionen, sie waren nicht bloß schlauer, sie waren – gegen Verrat an der Kunst – sie waren besser.

Deiritz: Was bedeutet Ihnen der Begriff Verantwortung? Sie hatten ja als Lektor und Herausgeber Verantwortung.

Wolf: Ich hab Funken gefangen, wenn ich sah, da war eine Begabung am Werke, die mich interessiert hat, wo’s gekribbelt hat und ich versucht habe, den Autor auf das hinzulenken, was ich für das Eigentliche dieser Begabung hielt.

Deiritz: Welche Verantwortung hatten Sie gegenüber der Verlagsleitung?

Wolf: Ich war nie fest angestellt, ich war immer Außenlektor, Ich hatte immer einen Autorenkreis. Wir planten einen Titel, und diesen Band mußte ich verteidigen. Ich schrieb meine Gutachten. Man brauchte dann ein Außengutachten, manchmal zwei, wenn’s heikel war. Ich suchte also einen Menschen, von dem man dachte, der wird für den Braun bestimmt Verständnis haben. Denn wenn erst mal ein böses Gutachten auf dem Tisch lag… Dann wurde das eingereicht beim Amt für Literatur, das war später die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, die zum Schluß Höpcke geleitet hat, die hatten selbst wieder Gutachter. Diese Gutachten wurden nebeneinandergelegt, daraus ergaben sich entweder Diskussionen – oder es gab eben keine.

Deiritz: … und Observationen…

Wolf: Das wäre auf einem anderen Gleis gelaufen, von dem wir nichts gewußt hätten. Das findet man jetzt in den Akten, daß die Staatssicherheit sich das selbst noch einmal begutachten ließ.

Deiritz: Was wußte man?

Wolf: Man wußte, jeder Betrieb, jeder Verlag hatte einen hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, der zur Verlagsleitung kam. Und wenn man guckte, kannte man den. Der kam auch ganz offiziell, der kam nicht inoffiziell. Inoffiziell hatte man in dem Verlag sicher auch noch jemand, der da seine Berichte geschrieben hat, von dem wußte man nichts. In Halle wußten wir’s ganz genau, der Leutnant Richter kam, mit dem haben wir Gespräche geführt, auch um mit ihm für uns zu diskutieren.

Deiritz: In der jetzigen Debatte wird die Tätigkeit der Stasi so gehandelt, als sei alles sehr geheim und obskur gewesen.

Wolf: Nehmen wir doch wieder ein Beispiel. Jemand, der jetzt ins Gerede gekommen ist, den Ich verteidigen würde, ist Hans Marquardt vom Reclam Verlag, der jetzt als IM verdächtigt wird. Meines Erachtens hat er bestimmte Dinge vielleicht sogar auf diesem Weg schneller erreicht, zum Beispiel, um Hilbig oder den letzten Band von Sarah Kirsch durchzusetzen, weil er denen klargemacht hat, das schadet uns mehr und mit diesem Holzkopf vom Amt oder ZK kann ich im Moment nicht reden. So kann das auch verlaufen sein. Er hatte seinen offiziellen Stasi-Offizier so wie jeder andere Verlagsleiter, ob der’s nun zugibt heute oder nicht. Wir wissen heute zum Beispiel auch, daß Außer der Reihe – zu der ich ja hinzukam, das war nicht meine Idee –, daß es sogar einen Politbürobeschluß zu dieser Literatur gab. Elmar Faber hat das für sich reklamiert, aber es gab ein höheres Signal, daß diese Manuskripte, die zum Teil schon lange im Verlag lagen mit unseren Befürwortungen, ab 1988 endlich erscheinen konnten. Die Staatssicherheit war der dritte Arm in diesem komischen Regierungsapparat – Parteiebene, staatliche Ebene und eben…

Deiritz: Gab es nie Situationen, an denen Sie selbst verzweifelt sind?

Wolf: Doch. Es sind ganze Projekte gestorben. Ich habe für den Reclam Verlag eine Anthologie westdeutscher Lyrik fertiggemacht, das paßte nicht in die Landschaft. Ich muß sie noch irgendwo liegen haben. Man wollte das generell nicht, vielleicht meinen Blick darauf nicht. Ein paar Jahre später ist eine Anthologie erschienen, wie ich sie nicht gemacht hätte. Aber das waren nicht nur politische Gründe. Ich hab eine große Anthologie Exillyrik gemacht, die immer wieder verschoben, schließlich aufgegeben worden ist, die umfassendste, die es je gegeben hätte. Die ist schließlich auch an meinen eigenen Maßstäben mit gescheitert, weil ich gern bildende Kunst integrieren wollte. Das ist eine Arbeit von Jahren.

Deiritz: Welche Konsequenzen zieht man daraus?

Wolf: Man hat was anderes begonnen. Ich wollte einen schönen Band bei Reclam mit dem Grafiker Altenbourg machen. Ich hab Texte rausgesucht, die zu seinen Sachen paßten, aus der DDR war Bobrowski der einzige, der mir für diese Art von Grafik in Frage zu kommen schien. Aber meine Textauswahl war zu der Zeit nicht am Platze. Das Buch ist daran gescheitert.

Deiritz: Ich muß Sie jetzt einfach mal fragen, woher rührt Ihre besondere Vorliebe für Lyrik?

Wolf: Das ist ganz alt. Ich hab schon im Abitur meine Eins in Deutsch mit Rilke-Gedichten gemacht. Rilke war ’45 ein Riesenmagnet für verschiedene Generationen, ein Ausgangspunkt. Deshalb war mir später von den sozialistischen Lyrikern Fürnberg sehr nah, weil der sich mit Rilke auseinandersetzte und Rilke aufnahm bis in die Details.

Deiritz: Kam Ihnen nie der Gedanke, aufzuhören, auszusteigen – die Frage, in die Bundesrepublik zu gehen, haben Sie sich ja so nie gestellt.

Wolf: Nach ’76 war das ein ständiges Diskussionsthema, was man macht, was man nicht macht. Im Winter 78/79 hatte ich eine Vorlesungsreihe an der Bremer Universität. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich damals ein Angebot bekommen hätte. Geklärt war das Ende der siebziger Jahre mit dem Heraufkommen der neuen Generation – die hat mich gleich sehr interessiert, da sah ich eine Aufgabe…

Deiritz: Was hatte Ihnen diese Generation voraus?

Wolf: Einen völlig anderen Blick auf eine ganz andere Kunsttradition, ein ganz anderes Verständnis vom Gesellschaftlichen. Es ist ja die Generation unserer Kinder, und das überrascht einen natürlich, wenn da ein ganz anderer Blick eingebracht wird, und noch dazu von begabten Leuten. Das hat mich dann so gereizt, daß ich mich damit beschäftigt habe. Papenfuß habe ich früh entdeckt, in einer der Querschnitt-Anthologien, ’78, die alle paar Jahre neue Namen vorstellten. Alles, was an realistischen oder traditionellen Gedichten kam aus dieser Generation, war mir völlig uninteressant. Da war ein völlig anderer Ansatz. Und das geht zurück auf Carlfriedrich Claus, die große Entdeckung der deutschen Kunst im Moment, ein Mann, der aus Schrift und Sprache Grafik entwickelt, mit einem sehr intendiert betonten Kommunismus-Begriff, der mit dem regulären nichts zu tun hatte, sondern weiter zurückgeht auf ganz andere Traditionen. Da wurde mir wieder ein ganz neuer Zugang eröffnet zu einer Richtung, die ich vorher mißachtet, vielleicht sogar angegriffen hatte, die Konkrete Poesie. Das war der Anreiz, den ich bei den jungen Leuten fand, die aus einem ganz anderen Grund und von einem anderen Ursprung her anfingen, sehr naiv, Sprache einfach in Frage zu stellen. Das war schon überraschend. Sie sagten, mit dieser Literatur, die ihr einmal verteidigt habt, können wir nichts mehr anfangen. Sie mußten sich ja abgrenzen. Da hat man einfach geschluckt, daß die eine bestimmte Literatur nicht mehr lasen und nicht mehr mochten und aus Selbstbehauptung gar nicht mehr akzeptieren konnten.

Deiritz: Darum konnte die sogenannte mittlere Generation mit den Prenzlauern nichts anfangen, ich nenne Volker Braun als Beispiel?

Wolf: Doch, doch, Volker Braun ist der einzige, der sich gerieben hat. Er hat sie angegriffen in seinem Rimbaud-Essay, sie aber gleichzeitig vorgestellt im Berliner Ensemble; er wollte Sascha Anderson in den Schriftstellerverband bringen. Aber Volker Braun fühlte auch sein ästhetisches Weltbild zur Disposition gestellt. Bei Fühmann war’s ähnlich, er hatte Zugang zu Hilbig, zu Kolbe, da gab es Anknüpfungspunkte, Hilbig bezieht sich auf den Expressionismus. Aber diese Sprachexperimente waren nicht Fühmanns Feld. Trotzdem, er wollte sie unbedingt durchsetzen, weil er sah, da kommt eine neue Generation. Er hat eine Anthologie machen wollen, sie ist nie erschienen. Jetzt wissen wir, daß sie Staatsangelegenheit war, das ist dieser Wahnsinn, dieses Überwichtignehmen von Literatur.

Deiritz: Mit Heiner Müller zu sprechen: haben diese Autoren versucht, mit ihrer Literatur die Wirklichkeit unmöglich zu machen.

Wolf: … ich kenne aus meiner Generation Schriftsteller, die sich mit Absicht nicht mit ihnen beschäftigt haben – ich möchte keine Namen nennen –, die wollten das nicht auf sich zukommen lassen, sie fühlten sich nur angegriffen. Allerdings, die „Traditionellen“ der gleichen jungen Generation konnten mit ihnen auch nichts anfangen. Papenfuß sagt das ganz lustig: Wir sind Vertreter des underground gegenüber einer Hochkultur. Er zählt so einen Mann wie Rathenow zur Hochkultur. Die hatten, ihre Verlage im Westen, wir hatten die nie, wir waren verwiesen auf uns, auf diesen Untergrund. Und ich war fasziniert von den Dingen, die da entstanden, die mich, wo sie die Kunstgattungen übersprangen, an Expressionismus erinnerten. Da gab es natürlich Verwandtschaften zum amerikanischen underground, die man nicht wahrgenommen hat, die aber generell in dieser Zeit lagen.

Deiritz: Man hat nicht nur eine andere Literatur kennengelernt, man hat auch andere Biografien kennengelernt, gebrochene Menschen, Gabriele Stötzer oder jene Söhne von DDR-Oberen…

Wolf: Es war ein Bruch mit der vorangegangenen Generation, aber sie selbst waren nicht gebrochen. Es war im Gegenteil ihre Selbstbehauptung, die wieder ihre Probleme hat, für sie selbst und für andere; die aus dem Kraftakt, sich von ihrer Eltern-Generation zu lösen, auch wahnsinnig auf sich selbst konzentriert waren. Frauen haben es in diesen Kreisen sehr schwer gehabt. Eine, die aggressive Akzente gesetzt hat, ist Gabriele Kachold-Stötzer gewesen, die auch von den Männern der Szene bekämpft worden ist. Die ist, wenn Sie so wollen, von diesen Konflikten deutlich gezeichnet.

Deiritz: Wie ernst haben Sie das Aussteigen, diesen Abschied von der DDR genommen, in dem doch eigentlich die Implosion der DDR schon vorgezeichnet war?

Wolf: Es ist für mich ein bewußter oder unbewußter Grund gewesen, da zu bleiben, weil ich plötzlich sah, daß da was ganz anderes wächst. Das war für mich die Hoffnung. Die eine Generation spaltete sich, die Hälfte ging weg – und plötzlich entsteht da eine ganz breite Untergrundliteratur. Da hab ich eine Aufgabe gesehen, die mit durchzusetzen, was mir sehr lange nicht gelungen ist.

Deiritz: Hat man sich diese Szene später, nicht in den Anfängen, dann doch zurechtgelobt, außer der Reihe in die Reihe gestellt?

Wolf: Gelobt hat man sie nie. Die Sache ist so entstanden. Fühmann war gescheitert. Elke Erb machte dann die Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung, Anderson hat sich da erst später eingeklinkt. Sie wollte, daß die parallel bei Aufbau und Kiepenheuer & Witsch erscheint, aber als das Buch soweit war, war die Hälfte der Autoren schon im Westen. In der Situation konnte selbst Faber die Anthologie nicht durchsetzen. Faber lud dann diese Leute ein, das muß ’87 gewesen sein, er wollte wieder ein Anthologie, aber die sagten, wir wollen jetzt unsere Bücher haben, Schluß mit Anthologien. Papenfuß’ dreizehntanz lag schon viele Jahre im Verlag, aber das Lektorat hatte keinen Draht zu dieser Literatur. Man holte mich als Herausgeber, als Mittelsmann zwischen den Autoren, Verlag und Zensur. Nun war ’88 die Zensur schon nicht mehr das, was sie mal war – die großen Reden von Hein, de Bruyn, Christas Brief auf dem Schriftstellerkongreß hatten sie vollends ad absurdum geführt. Mit wie wenig Herz das bei Faber gemacht war, zeigt, daß die Reihe bei der Währungsunion sofort fallengelassen wurde.

Deiritz: Zu den Autoren, die Sie in der Reihe veröffentlicht haben, gehört Rainer Schedlinski. Sie haben das Vorwort dazu geschrieben. Haben Sie etwas zu revidieren?

Wolf: Bei beiden, Anderson und Schedlinski, sind schizophrene Züge. Aber ich würde auch beide Fälle auseinanderdividieren. Daß Schedlinski gleichzeitig versucht hat, sich sein ästhetisches Gebäude zu bauen, mit sehr viel verinnerlichtem Strukturalismus – „wir sind alle nur Spieler in diesem Beziehungssystem“ –, und daraus seinen Wahrheitsbegriff zu nehmen versuchte, das ist schon interessant. Man müßte mal genau analysieren, was dieser verinnerlichte Strukturalismus an Negativem bewirkt hat – daß man sich selbst als Rädchen in einem Spiel sah und jeden für dumm erklärt hat, der nicht sieht, daß er in diesem Bezugssystem steht und da nicht mitmacht. Wieweit sich daraus – Verrat an der Kunst – vielleicht doch echte Gedichte für diesen Zustand gewinnen lassen, müßte man sehr genau untersuchen. Ich müßte mich dazu viel eingehender mit Strukturalismus beschäftigen, als ich es je gemacht habe. Böthig ist der einzige, der eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Schedlinski versucht hat, weil er von denselben Bedingungen ausgeht. Bei Anderson ist es komplizierter. Den hab ich nie so sehr als Dichter bewundert. Bei Anderson muß man sehen, der wird immer doppelt, auch als Oppositioneller geführt. Das geht ja auch bei ihm so weit, daß er sich als Oppositionellen sieht – als Berichterstatter. Das ist sehr verrückt.

Deiritz: Strukturelle Welten

Wolf: Jan Faktor grenzt sich da schon mit Absicht sehr ab. Er fragt, wann ist Schedlinski nach Berlin gekommen? Da war der Höhepunkt des „Prenzlauer Berges“ schon vortei. Für Faktor stimmt’s völlig, er hatte noch aus den späten siebziger Jahren den Anschub, die Freundschaft mit Papenfuß, Döring. Das sind auch andere Figuren. Man hat auch den Begriff Prenzlauer Berg im nachhinein ein bißchen drübergestülpt. Man müßte wirklich noch einmal eine wertende Anthologie dieser ,anderen Literatur‘ der letzten fünfzehn Jahre DDR machen, Texte aus allen Genres. Man sähe dann die künstlerische Substanz. Durch die jetzigen Diskussionen wird ja vieles verwischt. Ich hab mir das vorgenommen mit Peter Böthig zusammen. Deshalb fange ich an, die ersten drei Textbände von Papenfuß, die noch gar nicht im Zusammenhang erschienen sind, zu publizieren. Ich bringe in meinem Verlag noch Autoren, die nicht im Mittelpunkt standen, Thomas Günther, den ich auch für bedeutend halte, der aber nicht in dem Anderson-Clan war, also auch nicht die Vermarktungsmöglichkeiten hatte, die sich daraus ergaben. Flanzendörfer ist sehr wichtig, der hat ja das Odium des Gescheiterten, des Scheiterns überhaupt.

Deiritz: Diese Texte, die allesamt auch gesellschaftliche Sprengkraft für die DDR hatten, nicht nur ästhetische Qualität, heute veröffentlicht; stehen sie doch in einem völlig anderen Bezugsfeld…

Wolf: Das ist aber nicht anders, wenn Sie Texte von Jandl aus den sechziger Jahren lesen. Die müssen sich auch behaupten als Texte aus einer anderen Phase. Seine Gültigkeit muß schließlich jeder Text beweisen. Daraus ist meine Janus-Idee geboren, die Anknüpfung an die ganz anderen Traditionen – die Konkrete Poesie. Deshalb mache ich eine Textausgabe von Franz Mon, der auch keinen großen Verlag gefunden hat, mit längst vergriffenen Texten, mit Texten, die nie wahrgenommen worden sind, die nach wie vor ihre Gültigkeit haben, die ihre Brisanz natürlich in den sechziger Jahren hatten, als die Konkrete Poesie gegen den Realismus der westdeutschen Literatur ankämpfte. Ich halte Franz Mon für den wichtigsten Essayisten dieser Richtung. Ich finde ja, daß plötzlich diese Fragestellungen vor allem des Umgangs mit der Sprache an Bedeutung gewinnen, diese Revolte, die letztlich in der Konkreten Poesie steckte.

Deiritz: Wir reden von der künstlerischen Opposition. Sie bedeutete – im Westen – aber nie eine Gefährdung des Systems.

Wolf: Das liegt natürlich an der Art der Geschlossenheit der Systeme. Wenn Sie eine offene Gesellschaft haben, ist das Literaturrevolte am Rande, sie wird nicht relevant für Politik. Im geschlossenen System sind sie automatisch – ob sie wollen oder nicht – ein Politikum. Wenn Sie’s von der Stasi-Seite her sehen, das Politikum. Die Underground-Lyrik der USA hat sicher auch politische Bedeutung, aber doch einen völlig anderen Stellenwert, ist überhaupt nicht relevant. Der Prenzlauer Berg ist deswegen heute nicht erledigt. Papenfuß schreibt weiter, Döring, Faktor schreiben weiter. Nur mit der DDR haben sie nichts mehr zu tun.

Deiritz: Haben sie mit Politik noch etwas zu tun?

Wolf: Na ja, die haben sich selbst damals nicht als politische Dichter verstehen wollen.

Deiritz: Frage: Aber sie wurden politisch genommen, Sie haben sie auch politisch gesehen…

Wolf: Ohne daß ich die Akten kannte, wußte ich, daß es da oben so ankommt. Das Politbüro hatte politische Gründe, warum das nicht gedruckt werden sollte; die künsterischen Gründe eines Lektorats waren: Wir haben ja schon Jandl gedruckt, warum sollen wir noch Papenfuß… Ich bemühe mich jetzt um die Texte eines weiteren Jungen, der auf tragische Weise umgekommen ist, sicher gar nicht politisch motiviert, Michael Rom, der war zuletzt Nachtportier in Westberlin und wurde dort niedergeschossen. Bei Flanzendörfer war das anders, der mußte sich als Asozialer verfolgt fühlen, aber das ist sicher auch nur ein Element, daß der auf den Tod hin gelebt und geschrieben hat. Hätte er in Kreuzberg gelebt, wäre er vermutlich auch so geendet – aber sicher mit anderen Texten.

Deiritz: Weg vom Prenzlauer Berg. Welche Bedeutung hat für Sie jene andere Gruppe junger Autoren, die mit dem Prenzlauer Berg nicht so viel zu tun hatten, die Komödianten Mensching und Wenzel oder Kerstin Hensel oder Durs Grünbein.

Wolf: Die würde der Papenfuß zur sogenannten Hochkultur zählen, zu der er sich nicht zählt. Natürlich schätze ich Kerstin Hensel. Am interessantesten ist für mich so eine Figur wie Durs Grünbein, die dazwischen steht. Das ist für mich der Volker Braun der nächsten Generation, weil eine gewisse pathetische Veranlagung da ist – mit einem Gegenpathos natürlich. Bei dem liegt das Ende dieses Systems schon ganz früh unter den Texten. Der fühlt sich jetzt in New York zu Hause. Das ist schon so eine Figur, die in ihrem ganzen Lebensverständnis weit voraus ist. Bei anderen, Johannes Jansen, der von Anderson nie ernst genommen wurde, muß man sehen, wie das weiterläuft. Das wird spannend, was die ,einbringen‘ aus ihrer Jugendphase, was da noch an Elementen bleibt.

Deiritz: Der Westen verhilft – andererseits – zur Weit- und Weltläufigkeit.

Wolf: Aber ob diese deutsche Kultur die überhaupt zu integrieren versteht? Sehr viele der amerikanischen underground-Autoren haben Rückhalt im Bildungssystem, haben Anlaufpunkte an Colleges, machen workshops, Vorlesungen, verdienen so ihren Lebensunterhalt. Diese Möglichkeit sehe ich hier überhaupt nicht, nur dieses deutsche starre Universitätssystem. Ich weiß gar nicht, wo da Anlaufpunkte sein könnten. Diese Autoren brauchen jetzt viel mehr Geld als früher, die können doch nicht ewig die jungen Bohemiens bleiben, die von der Hand in den Mund leben. Das ist ein echtes Problem.

Deiritz: Und wie geht es Ihnen, Sie haben jetzt Ihren eigenen Verlag, das Publikum hat sich verdoppelt…

Wolf: Wir brauchten 2.000 Käufer, und die findet man jetzt viel schwerer, als ich sie vorher gefunden habe. Vorher hatte Lyrik ein kleines Publikum, jetzt habe ich das große deutsche, aber nicht mehr das kleine – verrückt.

Deiritz: Als was würden Sie sich selbst bezeichnen, als literarischen Anarchisten?

Wolf: Ich verlege gerade einen gestandenen Anarchisten, otl aicher. Ich habe dazu einen Essay von Wilhelm Vossenkuhl, der diesen Begriff Anarchismus endlich einmal auseinandernimmt und untersucht, was bei einem, der gleichzeitig für große Firmen gearbeitet hat, darunter zu verstehen ist. otl aicher liegt mir sehr nah. Ich veröffentliche jetzt seine Essays, sehr politische, wirklich anarchistisch linke Essays, die es fast nicht mehr gibt.

Deiritz: Literatur verlegen, herausgeben, betreuen – das war in der DDR mit Reibung verbunden, mit Widerstand, mit der Sehnsucht, einer bestimmten Literatur Raum zu verschaffen. Welche Sehnsucht bleibt Ihnen im großen Deutschland?

Wolf: Wir können’s an einem festmachen, Carlfriedrich Claus, das war meine Sehnsucht, mit ihm Bücher zu machen. Er ist der letzte Kommunist, der sich dazu bekennt. Mit einem umfassend-utopischen Kommunismusbegriff, der nun wahrlich nichts mit dem zu tun hat, was man in der DDR darunter verstanden hat. Da paßt Schamanismus rein, da paßt Jakob Böhme rein, der Bezug zu Bloch ist da, Paracelsustexte werden adaptiert. Er sagt, ich bleibe Kommunist, damit hatte ich in der DDR meine Schwierigkeiten, damit habe ich heute meine Schwierigkeiten. Wobei die Schwierigkeiten heute darin bestehen, daß er ein berühmter Mann wird und nach oben durchbricht. In einem Gespräch, das wir gerade gemacht haben, stelle ich ihm die Frage: Es ist doch ganz eigenartig, die kulturelle Abteilung des Außenministeriums der Bundesrepublik schickt eine große Ausstellung von dir ins Ausland, da sind so Sachen drin wie „Kommunistische Bewußtheit“, was sagt man denn dazu? „Na ja, man nimmt’s gar nicht wahr.“ Für ihn ist der Begriff Entfremdung heute akuter als früher. Ich geb das Buch heraus und kann mich selbst einschalten mit eigenen Essays. Das ist einer dieser glücklichen Umstände, wo das Verlegerische mit dem Autor und dem Herausgeber zusammenfällt, da bin ich in einer Figur. Ich kann zum ersten Mal etwas machen, was ich vorher nie machen konnte. Ich rechne gar nicht mit einem Massenpublikum, aber ich halt’s halt mit der Kunst. Ich würd es für Verrat an der Kunst halten, wenn ich das nicht machen würde.

Das Gespräch wurde im April 1993 in Berlin geführt.
Aus Karl Deiritz und Hannes Krauss (Hrsg.): Verrat an der Kunst? Rückblick auf die DDR-Literatur, Aufbau Taschenbuch Verlag, 1993

Der Mentor als Mäzen

– Zum Wirken von Gerhard Wolf. –

Unsere Freunde, die Maler haben Christa und Gerhard Wolf 1995 eine Ausstellung der von ihnen gesammelten Kunstwerke genannt, weil sie vor allem Werke mit ihnen befreundeter Künstlerinnen und Künstler zeigen konnten. Peter Böthig, der den Katalog zu dieser Ausstellung herausgegeben hat, verriet in seinem Vorwort, „dass Christa und Gerhard Wolf in den 80er Jahren durch das, was man in der bevormundeten Kultur der DDR ,Mentorenschaft‘ nannte, etliche, vor allem jüngere Künstler unterstützt hatten, die keinen Zugang zu Verlagen, Galerien und staatlichem Kunsthandel hatten“.
„Meine Freunde, die Dichter“ könnte der Arbeitstitel jenes Projekts lauten, das der sehr junge Gerhard Wolf schier aus dem Stand heraus begonnen und – wir sind froh darüber – bis heute nicht abgeschlossen hat.
Wenn Gerhard Wolf im April 1959 im Schriftstellerheim Friedrich Wolf in Petzow während eines Lehrgangs für junge Lyriker anhand von Gedichten der Lehrgangsteilnehmer erklärt, „was ein gutes Gedicht und warum es gut ist“, wenn er Anfang der 60er Jahre als Lektor eines Verlags sich mit dem Manuskript eines jungen und bis dahin unbekannten Dichters herumschlägt, dessen großartiges provokatives Talent er sofort erkennt und den er dazu bewegen kann, „durch rigorose Striche, bravouröse Wort- und Zeilenumstellungen [seinen Gedichten] die gültige Form“ zu geben und dadurch dem Dichter Volker Braun zu dessen erstem Lyrikband verhilft, wenn er drei Jahrzehnte später in seinen Wiener Vorlesungen zur Literatur über die junge Lyrik der DDR spricht und vor allem bei Bert Papenfuß-Gorek bewundert, dass „dem die Sprache, wie er sie täglich hörte und las, nicht mehr selbstverständlich war“, wenn er – im gleichen Zusammenhang 1986/87 – auf die von Sascha Anderson und Elke Erb in Köln 1985 herausgegebene Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung zu sprechen kommt und Stefan Döring, Elke Erb, Michael Wüstefeld, Uwe Kolbe, Jan Faktor und Adolf Endler vorstellt und sie dadurch außerhalb der DDR vielleicht bekannter macht, als sie es in der DDR sein sollten bzw. durften, wenn er sich mit Erich Arendt und Ingeborg Bachmann, mit Stephan Hermlin und Georg Maurer, mit Johannes Bobrowski und Günter Kunert, mit Karl Mickel und immer wieder mit Volker Braun in seinen Essays auseinandersetzt, so leitet ihn stets die Intention, „Umgangsformen“ mit literarischen Texten vorzuführen, „die einem interessierten Leser Vorschläge für Lesarten anbieten“.
Gerhard Wolfs „Vorschläge für Lesarten“ erleichtern es den Lesern, Gedichte verstehen zu lernen, die auf den ersten Blick verstörend gewirkt haben mögen. Und dadurch wiederum schlägt Wolf Verständnisbrücken zwischen Autoren und Lesern. Gerhard Wolf hat das Verdienst, das Rezeptionsniveau seiner Leser gehoben und die von ihm vorgestellten Autoren auch dadurch gefördert zu haben.
Gerhard Wolf war und ist in allem, was er beruflich treibt, ein Literatur- und Autorenförderer – und dies auf eine Weise, die keine Abhängigkeiten schafft. Er wirkt auf eine zurückhaltende und zugleich äußerst zeitgemäße Art mäzenatisch, weil er sein immaterielles Vermögen – wie einst Maecenas sein materielles Vermögen – zur Förderung herausragender Dichtertalente verwendet. Zurückhaltend wirkt Gerhard Wolf, weil er seine permanente Hilfe für Autoren nicht an die große Glocke hängt. Zeitgemäß ist sein mäzenatisches Wirken, weil er die jeweilige kulturpolitische Situation und die entsprechende literarische Infrastruktur bei seiner Fördertätigkeit bedenkt und dadurch die von ihm Geförderten vor gesellschaftlicher Unbill schützt.
Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre hat Gerhard Wolf mit einer Editionsreihe, die in den Wirren der Wende leider allzu wenig zur Kenntnis genommen worden ist, gezeigt, worum es ihm geht, wenn er junge Autoren fördert. Diese Reihe, die Wolf bezeichnenderweise Außer der Reihe genannt hat, führte Autoren aus der DDR zusammen, die sich ausnahmslos außer der Reihe des offiziellen Literaturbetriebs der DDR platziert hatten: Bert Papenfuß-Gorek, Rainer Schedlinski, Stefan Döring, Jan Faktor, Gabriele Kachold, Reinhard Jirgl, Ulrich Preuß, Andreas Koziol, Dieter Kraft, Ines Eck und Peter Brasch. Die experimentelle Lyrik und Prosa dieser Autoren ist kennzeichnend für die literarästhetische Position Gerhard Wolfs. In den 90er Jahren hat sie ihren schönsten Ausdruck im Verlag Janus press gefunden, also in Wolfs eigenem Verlag. In ihm erschienen Bücher von Róža Domašcyna, Jan Faktor, Bert Papenfuß-Gorek, Heike Willingham, Gabriele Stötzer-Kachold, Erich Arendt, Gino Hahnemann, Christa Wolf, Franz Mon, John Barton Epstein und Daniil Charms. Für all diese Autoren stellt die Aufnahme in das Verlagsprogramm der Janus press eine – auch im materiellen Sinn – mäzenatische Leistung des Verlegers Gerhard Wolf dar. Denn der Verleger Wolf versteht sich als Anwalt seiner Autoren.
Dies ist er auch, wenn er als Juror über die Vergabe von Literaturstipendien und von Literaturpreisen zu entscheiden oder wenn er als Mitglied des Berliner Landesausschusses der Deutschen Künstlerhilfe des Bundespräsidenten zur Verbesserung der sozialen Situation von Künstler beizutragen hat.
Gerhard Wolf ist und bleibt ein Mentor seiner Freunde, der Dichter, ohne sie je zu bevormunden, und ist deshalb ihr Mäzen!
Er bevormundet die Dichter nicht, weil für ihn gilt, was der Titel des Almanachs zu seinem 70. Geburtstag leicht ironisch als Wolfs Lebens- und Arbeitsmotto ausgegeben hat: „Die Poesie hat immer recht“. Parodiert dieser Titel liebevoll Louis Fürnbergs Lied „Die Partei hat immer recht“, so bezieht er sich zugleich auf Friederike Kempners „Die Poesie, die Poesie, die Poesie hat immer recht“! Wie in jeder guten Parodie ist auch in dieser das Parodierte bewahrt: Die Poesie hat immer recht! Und was Poesie ist, das sagt uns – hoffentlich noch lange – kein anderer besser als Gerhard Wolf. Weil: er weiß und respektiert, dass seine Freunde, die Dichter, allein es sind, die zu bestimmen haben, was Poesie ist.

Dietger Pforte, neue deutsche literatur, Heft 552, November/Dezember 2003

Zeit für Lyrik

Lieber Gerhard,
das letzte Buch, das von Dir in der DDR erschien, fand ich bei der Suche nach dem ersten Buch, das ich von Dir kenne – Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski von 1971 – und damals wegen Bobrowski auch las. Daneben stand ein Reclam-Band, an den ich mich nicht erinnern konnte, je darin gelesen zu haben, Wortlaut Wortbruch Wortlust. Dialog mit Dichtung, erschienen 1988. Beim Blättern darin las ich mich bald fest, fing nochmal von vorn an und arbeitete mich nach und nach durch den ersten Teil „Im Überblick“. Manche Gedichte waren mir bekannt, viele nicht, aber vor allem war ich fasziniert von dem, was durch Deine Beobachtungen an den Gedichten und ihrer Zeit vor mir entstand: eine fast verdrängte, plötzlich wieder präsente Wirklichkeit, ein unerwarteter Zugang zu einer Zeit, die mehr und mehr verstellt wird durch den Fokus auf immer neues, altes Herrschaftswissen über sie. Brauchte es diesen zeitlichen Abstand, den Umstand einer Zeitenwende dazwischen, um wieder dahinter zu kommen?
Der erste Text des Bandes, Offener Ausgang überschrieben (das war 1972 der Titel eines Gedichtbands von Günter Kunert), war 1973 in Paris in französischer Übersetzung erschienen; nun, fünfzehn Jahre später, im Jahre 1988, erschien er zum ersten Mal in der DDR. Im Nachhinein möchte man meinen, es sei kein Zufall, dass es genau dieser Zeitspanne bedurfte. Sie deckt sich mit derjenigen der DDR-Geschichte, in der sie zu ihrem Ende kommt, mit einem Prozess, der sich zunehmend als Niedergang erweist. Auffällig und bemerkenswert ist, dass sich dies in der Lyrik der Zeit schon von Anfang an andeutet, zuerst noch als Ende mit offenem Ausgang. Lese ich das etwa heute nur hinein? Meine Entdeckung ist: Es war immer schon da.
Was für ein Konzept von Lyrik, Literatur steckte dahinter? „Die Zeitgenossenschaft des Gedichts – so ließe sich in einem Paradoxon behaupten – ist nicht zeitgenössisch. Worin die Zeit kristallisiert, gibt sich häufig während ihres Ablaufs nicht zu erkennen.“ Dieses Zitat von Günter Kunert aus dessen Gedichtband Offener Ausgang stellst Du gleich an den Anfang. Ich verstehe das so: Das Gedicht hat immer einen Zeitvorrat oder einen Zeitüberschuss in sich, der sich nicht schon im Jetzt erschließt. Wenig später zitierst Du auch Volker Braun aus seinem Aufsatz „Wie Poesie“ von 1970:

Die Poesie, die teilhat an der Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften, die wie nichts anderes den Reichtum der gesellschaftlichen Beziehungen in und für den einzelnen produziert, schreibt sich also nicht aus dem Vergangenen her, sondern aus Zukünftigem, das in den wirklichen Beziehungen schon enthalten ist.

Das war kein Konzept, sondern Programm.
Damals, Anfang der siebziger Jahre, öffnet sich offenbar ein Fenster, wenigstens die Chance für einen „offenen Ausgang“. Du schreibst 1973:

Offener ist der Raum für schöpferische Experimente, aber offen ist auch der Ausgang der Sache – wie Lyriker den Spielraum nutzen und welche Voraussetzungen ihnen dafür bleiben.

Dabei ist schon eine Mehrdeutigkeit im Spiel, ein Janusgesicht, wie Du es nennst, nach vorn und nach hinten zugleich schauend. Tatsächlich kommt es in der Zeitspanne zwischen 1973 und 1988 zu einer immer größeren Schließung des Raums. Der „Ausgang der Sache“ steht nun fest, diese Zeitspanne beschreibt ziemlich genau die zweite Hälfte der DDR-Geschichte, den Bogen von der erhofften Öffnung bis zu deren kategorischer Verweigerung. Überraschend für mich spiegelt nun die Lyrik zwischen 1973 und 1988 ein Zeitgeschehen wider, das dem klassischen Verlauf eines Dramas folgt. Da ist die Exposition, der noch offene Ausgang, mit dem Lichtblick durch eine ost-westliche Entspannungspolitik in Deutschland und Europa, die mit Honeckers Machtantritt 1971 auch eine kulturpolitische Öffnung gegenüber Ulbrichts rigider Kulturpolitik vollzog, zugleich – das war die katastrophale Kehrseite – mit der Enteignung der in der DDR verbliebenen Privatwirtschaft. Dann, im Zuge der Biermann-Ausbürgerung und des Protests gegen sie, die zunehmende Abschließung des Landes und Ausschließung vieler wichtiger Köpfe. Die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 wird zum Höhepunkt und Wendepunkt des Dramas, zu seiner Peripetie. Es ist aber viel mehr der Höhepunkt für den gesellschaftlichen Rang einer Literatur, die sich in ihrer Zeit verstand und zum Wortschatz und Sprachgeber in einem allgemeinen politischen Konflikt wurde. Als dieser gegen die Literatur, gegen das freie Wort, gegen den gesellschaftlichen Dialog entschieden wurde, war ihre zunehmende Ausgrenzung besiegelt. Kein Ort. Nirgends, Christas Roman, ist der Schlüsseltext der Zeit. Der Vortrag, den Du unter die Überschrift „Das Gedicht unterwegs nach Utopia. Notate 1979“ stellst, beginnt mit „Wahrnehmen, was hinter den Horizonten verschwindet“, beide Male Günter Kunert zitierend. Dann kommt noch in diesem Zusammenhang Günter Kunerts Satz: „Den Stein endlich rollen lassen, wohin er gehört“ aus dem Gedicht „Sisyphos 82“ mitsamt seiner hellsichtig-finsteren Antwort: Zum „Hauptquartier der Utopie in Berlin Lichtenberg“, Mielkes Schattenreich. So zeichnet sich in diesem Drama die Katastrophe ab, die dritte Periode. Bei Dir steht darüber die Überschrift „Der Stein fällt desto schneller um so tiefer“. Das ist die erste Zeile des Gedichtes „Die Jahre“ von Karl Mickel, das im Zentrum des Vortrages von 1986 steht. Hier formulierst Du ernüchtert, was bleibt, „was Lyrik der DDR seit Beginn kennzeichnet: nüchterne Realitätsnähe, zwischen inneren und äußeren Räumen keine Trennwände; ein sprechendes Ich, das sich zu einem antwortenden oder widersprechenden Wir in Spannung verhält“.
Im Nachhinein sind wir aber nicht immer klüger. Liest man die Gedichte nur vom Ende her, wird sich keine Alternative darin finden. Das Besondere der Lyrik dieser Zeit ist aber die Suche danach, nach dem Ausweg aus einer Geschichte, deren Scheitern, von den Gegnern vorausgesagt, immer schon im Raum stand und mitgedacht wurde. So sind Aufklärung („benennen“) und Aufbegehren immer im Spiel der Poesie. Ihr Sitz im Leben sind die Erwartungen und Enttäuschungen der Zeit, sie spiegeln sich in ihr, als ob oder weil es dieser Kunst wirklich um etwas ging jenseits von Kunst. Du schreibst: „Dass sich Dichter aus der DDR, zwischen solche Antinomien gestellt, bei Strafe ihrer Glaubwürdigkeit dieser Zerreißprobe aussetzen müssen, koste es, was es wolle – es lässt sich an Lyrik, die Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Kunst macht, ablesen. Autoren und Gedichte, unberuhigt, unbeschwichtigt, ungetröstet – unabweisbarer, wie es mir vorkommt, als andere sonst in deutscher Zunge zu schreiben beginnt man hier im Dilemma solchen Zwiespalts, im Bewusstsein solchen Dilemmas.“
Wer die Geschichte der DDR wirklich verstehen will, den Zwiespalt, ihr Dilemma, für den bietet die Literatur ihrer Zeit sich als besondere Quelle authentischer Zeitgenossenschaft an. Sie bewahrt in einzigartiger Weise die Reflexion der Widersprüche auf, die in ihr zu Tage treten. Spannungen und Hoffnungen, Bewegung wie Erstarrung werden so erst fassbar. Was für die Literatur allgemein gilt, gilt für die Lyrik im Besonderen. Sie ist – nicht zuletzt auf Grund Deiner Begleitung und Würdigung – ein besonderer Schlüssel, um ins Innere dessen vorzudringen, was die Zeit und die Menschen bewegte. Im Titel Wortlaut Wortbruch Wortlust kommt der Prozesscharakter poetischen Schaffens zum Ausdruck, vom alltäglichen Wortsinn über dessen Brechungen in der Wirklichkeit bis zur Wortschöpfung und Sinnstiftung. Du schreibst 1973: „Begriffene Wirklichkeit verlangt eine Sprache, die, sollte sie redlich sein, dem Prozeß des Begreifens nachgeht.“ Entsprechend lässt sich in der Lyrik dieser Zeit die geschichtliche Bewegung nachzeichnen und gesellschaftliche Relevanz immer wieder finden.
Karl Mickels Gedicht „Die Jahre“ aus dem Jahr 1984 endet mit der Zeile: „Was bleibet sind die Unannehmlichkeiten.“ Du nanntest das eine Untertreibung:

Es ist das Naturrecht der Poesie, sich gegen die Bedrohungen, aber auch die Einschränkungen des Humanen, von welcher Seite sie kommen mögen, zur Wehr zu setzen: das Unannehmbare zu benennen und ihm Widerstand zu leisten.

Das bleibt – als Anspruch aus jener besonderen Zeit für Lyrik, deren WORTLUST Du zur Sprache brachtest.

Hans Misselwitz aus Friedrich Dieckmann (Hrsg.): Stimmen der Freunde. Gerhard Wolf zum 85. Geburtstag, verlag für berlin-brandenburg, 2014

„Es gab bei uns was Unergründliches“

– Gerhard Wolf war mehr als der Mann seiner berühmten Frau Christa: wagemutiger Verleger, Lektor und Kunstbegeisterter. –

Auf dem Weg zu ihm muss man erst mal an der Maske der Medea vorbei. Die sandfarbene Skulptur und eine Gedenktafel, die auf der Wiese vor dem Haus platziert wurden, sollen an Christa Wolf und ihre Werke erinnern, die sie am Amalienpark in Berlin-Pankow geschrieben hat, wo sie zusammen lebten.
Gerhard Wolf öffnet die Tür, weißes, dünnes Haar, Hemd, Wollpullover, Lesebrille um den Hals. Er bedankt sich für den mitgebrachten Rotwein, der sei gut für den Rehrücken nach Fontane-Art, den müsse man eine Nacht lang mit Gewürzen und Wein einlegen. „Tee oder Kaffee?“ Die kleine Küche geht von dem langen Flur ab. An dessen Wänden hängen Grafiken und Porträts, eines zeigt Thomas Brasch.
Wolf führt durchs Wohnzimmer auf die Veranda. Auf dem Tisch stehen Teller mit Zwiebelmuster, Lebkuchen und Kirschtorte. Die Fensterbänke sind mit Grünpflanzen vollgestellt. Wolf reibt an einem Blatt, „duftet nach Zitronenmelisse“, sagt er. Dann plaudert er von dem Fest zu seinem 90. Geburtstag. Er hatte einen Saal gemietet, 130 Leute kamen, lebenslange Begleiter, Maler, Schriftsteller, Freunde aus aller Welt.

Reise nach Rom
„Unser Freundeskreis war sehr durch das Werk von Christa bestimmt, das überall übersetzt wurde“, sagt Wolf und tut uns Kuchen auf.

Mit manchen waren wir sehr eng befreundet, etwa mit Anita Raja, die ihre Bücher ins Italienische übersetzt hat. In Frankreich war es Alain Lance mit seiner Frau, den wir schon in den 70er Jahren in Paris kennenlernten. Er hat uns mit Meeresfrüchten beköstigt.

Als sie Anita Raja (viele halten sie für die Autorin hinter dem Pseudonym Elena Ferrante) in den 70ern das erste Mal in Rom besucht haben, da fuhren die Verleger vom Verlag Edizioni e/o noch mit den Bücherstapeln hinten im Kofferraum zu den Lesungen, erzählt Wolf. Er und Christa konnten reisen, wenn die Bücher im Westen erschienen, sie machten Bekanntschaften wie etwa im linken Club Voltaire in Frankfurt am Main.

Christa wollte auch Leute kennenlernen, die mich überhaupt nicht interessierten, nach vielen Richtungen hin.

Verewigt hat sie eine der ersten Freundinnen aus ihrer Schulzeit.

Die Christa T. aus ihrer gleichnamigen Erzählung, das war ja eine reale Figur.

Während des Studiums kam die erste Tochter. Da sie beide keine Arbeiterkinder waren, bekamen sie kein Stipendium und einer musste Geld verdienen. Da hat Gerhard Wolf sein Studium abgebrochen und ging zum Rundfunk. Welcher Mann machte das damals schon? Sie sind dann später nach Leipzig gezogen, dort schloss Wolf Freundschaft mit Georg Maurer, dem Professor am Literaturinstitut, der die Dichter der Sächsischen Dichterschule inspiriert hat – Lyriker wie Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch oder Karl Mickel. Er konnte später mit ihnen eine eigene Lyrikreihe beim Mitteldeutschen Verlag aufbauen.

Man hatte zu Autoren nicht nur ein dienstliches Verhältnis, sondern ein engeres. Man musste für sie kämpfen und ihre kritischen Verse durchsetzen. Das habe ich immer versucht.

Als Sohn eines Buchhalters kam Wolf 1928 in Bad Frankenhausen zur Welt, wurde nach dem Krieg als Neulehrer eingesetzt, studierte dann in Jena Germanistik und beschäftigte sich seither mit Literatur. 1951, als das Staatliche Rundfunkkomitee gegründet wurde, musste er nach Berlin, konnte nur übers Wochenende nach Leipzig. „Christa wartete dann schon.“ Sie bekamen eine Wohnung in einer Villa zugewiesen, teilten Küche und Bad mit anderen.

Damals war ja Säuglingspflege kompliziert. Man musste in einer Küche mit andere Leuten zusammen Windeln kochen und es gab keine Babynahrung. Das waren die ersten Jahre nach dem Krieg.

Er habe damals 300 Mark verdient. Sie konnten für wenig Geld eine Wirtschaftshilfe engagieren, hatten immer eine Betreuerin, die sich um die Tochter gekümmert hat und was im Haushalt machte. Viele Schriftstellerinnen haben ja keine Kinder, sagt Wolf.

Aber Christa war gleichzeitig eine tolle Schreiberin und sie wollte auch unbedingt Familie haben.

Er sei ja schon immer ein großer Verehrer von Rilke, sagt Wolf. Beim Leipziger Rundfunk sendete er in den 1950er Jahren mal ein Gedicht von ihm. Der Zensor Heinz Höger sagte:

Ach nee, das ist spätbürgerlicher Kram, das muss bei uns nicht sein, aber wenn ich mich abends erholen will, lese ich natürlich auch Rilke.

Das wurde einem höheren Funktionär mitgeteilt und der sagte:

Wenn er das liest, macht er das, um sich weiterzubilden, oder hat er Genuss dabei?

Fast lächerlich, aber gleichzeitig hatten sie eine große Achtung vor solchen Männern. Es waren die alten Widerstandskämpfer.

Die hatten im KZ gesessen, manche waren als Antifaschisten in der Emigration. Und weil unsere Eltern – so wie mein Vater – kleine Mitläufer waren, suchten wir in ihnen nach den richtigen Vätern. Aber unter ihnen gab es auch sehr gebrochene Gestalten, wie sich später zeigte.

Wolf steht auf, geht in sein Arbeitszimmer. Auf dem Tisch steht die elektronische Schreibmaschine, auf der er früher geschrieben hat, Blätter mit Briefen und Zeichnungen zum Geburtstag liegen da, mehrere Rilke-Bände. An ein Regal ist ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto einer jungen Frau genagelt. „Da ist meine Mutter“, sagt Wolf.

Sie ist gestorben, als ich zehn war. Ich wusste nur, dass sie eine selbstbewusste, gute Frau war. Aber wer sie wirklich war, was sie interessierte oder was sie liebte, das weiß ich nicht. Ich habe meinen Vater gefragt, aber er konnte nicht über sie reden.

Als Christa Wolf 1953 mit dem Studium fertig war, konnte er in Berlin zu Ende studieren. Wichtig war die Freundschaft mit Frieder und Änne Schlotterbeck, alten Genossen.

Er war Kommunist und hatte im Lager gesessen. Seine ganze Familie war ausgerottet worden, Vater, Mutter, Braut. Nach 1945 sind sie in die DDR gekommen. Und dort wurden sie im Zusammenhang mit westlichen Verbindungen ins Gefängnis gebracht. Sie konnten uns all die Widersprüche der Kommunistischen Partei erzählen, das war eine Offenbarung.

Eine der wichtigsten Lebensfreundschaften war die zu Franci Faktorová in Prag. Sie hatte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Auschwitz überlebt. Ihr Sohn Jan Faktor, der Schriftsteller, ist jetzt mit Wolfs Tochter Annette Simon verheiratet.

„Ich muss den Menschen wegen seiner Haltung schätzen, auch seiner gesellschaftlichen“, sagt Wolf, das mache Freundschaft aus.

Bei mir war das sehr oft mit Arbeitsbeziehungen verbunden.

Er hat nach vielen Kämpfen als Lektor eine eigene Buchreihe durchgesetzt, förderte Autoren, an die er glaubte. Er fühlte sich in Dichterseelen hinein und schrieb über sie, Johannes Bobrowski oder Hölderlin. In den 60er Jahren traf er während einer Reise in die Sowjetunion den bedeutenden Dissidenten Lew Kopelew, der begeistert gewesen sei von einer Figur wie Bobrowski.

Der verkannte Malerfreund
In der Mitte des Arbeitsraums steht auf einem Stativ eine Grafik von Carlfriedrich Claus. „Mein Malerfreund“, sagt Wolf leise. „Unsere gemeinsame Beziehung zur Malerei, die kam über mich. Schon 1995 veranstaltete ich eine große Ausstellung: Unsere Freunde, die Maler. Viele, etwa Nuria Quevedo, wurden bei ihren Bildern durch Texte von Christa Wolf angeregt. Nach der Wende kam die Freundschaft zu Günther Uecker hinzu.
Carlfriedrich Claus, der Avantgardist, war in der DDR ein Verkannter. „Er lebte sehr zurückgezogen, nur von starken Zigaretten, von schwarzem Kaffee, von Milch und Haferflocken. Die Vorhänge waren immer zugezogen, in der spartanischen Wohnung wurde nie sauber gemacht. Er war in der DDR als asozial abgestempelt“, erzählt Gerhard Wolf. Er selbst fand ihn einmalig, als er ihn früh kennenlernte, war begeistert von seinen Sprachblättern, einer Mischung aus Grafik und Literatur. Die Wolfs förderten ihn.

Claus ging immer vom Menschen aus. Er hatte Schwierigkeiten, weil er ein richtiger Kommunist war, er entwickelte seine Utopie von Paracelsus, Thomas Müntzer und Ernst Bloch her. Das war verschrien.

Sein Hauptwerk, Sprachblätter auf Transparenzpapier, das von beiden Seiten beschrieben war, trug er immer in einer Aktentasche bei sich.

Er wollte nichts verkaufen, er wollte verstanden werden, sich erklären. Und ich wollte ihn verstehen. Wollte wissen: Warum macht der so was?

Sie haben ihm manchmal Geld gegeben oder Bücher. Aber er sei nie auf die Idee gekommen, die Werke zu sammeln. Es war eine Freundschaft. Ein Wechselverhältnis. Sie hatten beides, zu ihren Freundschaften gehörte das Weltläufige wie die am Rand stehenden Außenseiter.
Claus und die Wolfs schrieben sich über die Jahre etwa 1.000 Briefe. Man müsste daraus ein Buch machen, davon träumte Gerhard Wolf. Vergangenes Jahr, zu seinem 90. Geburtstag, wurde der Traum wahr. Das Buch Nun schauen mich immer mindestens vier Augen an ist erschienen, 224 Spender halfen mit. Als Tochter Tinka Wolf es an einem Dezemberabend in der Galerie am Amalienpark vorstellt, sitzt er mit starken Rückenschmerzen daheim.
Nach dem Mauerfall sind manche Freundschaften zerbrochen, andere Freunde kamen hinzu. Günter Grass zum Beispiel. Er teilte die Kritik an der Wiedervereinigung. Er schrieb mal, er konnte erst nicht richtig umgehen mit Wolfs „leiser Art, sich im Hintergrund zu halten und bei Besuchen allenfalls als Koch zu dominieren“. Später lernte er dessen Eigensinn sehr zu schätzen. Auch wenn andere Freunde von ihm erzählen, wird Wolfs Kunst des „beredten Schweigens“ hervorgehoben, der unauffällige, beiläufige, erstaunliche Mann. Ein Mann der stillen Gesten.
Nach der Wende wurde er mit 61 Jahren Verleger von Janus Press, der Verlag bestand aus drei Leuten. Er hat in zehn Jahren mehr als 60 Bücher und einige große Grafikmappen veröffentlicht. Keine Bestseller.

Ich wollte die Bücher machen, die ich in der DDR nicht machen konnte und die mir jetzt wichtig und wesentlich erschienen.

Es ging, weil Christa Wolfs Bücher sich so gut verkauften. Wie kam er damit klar, dass seine Frau berühmter war, dass er in der öffentlichen Wahrnehmung in ihrem Schatten stand? Sie hatten beide gleich angefangen. „Ach, nein, bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit dieser Frage“, sagt Wolf ein bisschen unwirsch. Er habe doch eigene Sachen geschaffen. Und er sei mit ihrem Werk als Hauptlektor natürlich von Anfang an verbunden gewesen.

Ich wusste immer genau, was sie schreibt. Manchmal habe ich heimlich reingeguckt und gesagt: Jetzt läuft’s. Da war sie zufrieden und konnte weiterarbeiten.

Diese große Nähe zwischen ihnen hat Christa Wolf einmal Symbiose genannt. „Ja, so war das. Wir waren 60 Jahre verheiratet“, sagt Wolf.

Wir haben uns gar nicht so sehr über Literatur unterhalten, sondern über das, was sie macht, was sie schrieb. Wir haben zusammen gelebt, und das Leben war bei ihr ja Schreiben.

Gab es auch etwas, das man nicht über den anderen wusste?

Sicher war da auch was Unergründliches, hoffentlich, bei uns beiden.

Wir gehen ins ehemalige Arbeitszimmer von Christa Wolf, am anderen Ende der Wohnung. Es ist kaum verändert, Bücherwand, Schreibtische, Bilder. Er sitzt jetzt manchmal da, schreibt am Computer.

Es sei schwer, alles zu erfassen, was man gemeinsam erlebt und geschaffen hat, sagt Wolf.

Ich bin natürlich besonders durch vieles, was sie geschrieben hat, so direkt mit ihr verbunden, dass sie mir immer gegenwärtig erscheint.

Maxi Leinkauf, der Freitag, 22.1.2019

 

 

 

MEIN VATER WIRD 85 – EIN TEXTCHEN FÜR GERHARD

Wenn die Nonnen heulen in den Klostern
dann ist Ostern!

Mein Vater ist mein Vater ist mein Vater
Wenn in diesem Wald ein Pilz…
Pilze kennen und
Wenn in dieser Wiese irgendein Kleeblatt…
die, die Glück bringen
findet er.
Bei Rehen immer entgegen dem Wind
Auf Skiern im Thüringer Heimatwald, als blauer Blitz
Ich geh keinen Schritt.
Vorlesen, gemeinsam lesen,
Gedichte verstehen weil Du sie liest
Dieser alte Mann und das Meer,
Was einen erwartet, wenn der Fisch zu groß ist
Lass sie, weinen ist erlaubt.
Ihr Schneegänse – sind doch schöne Tiere
Die Schwester schmeißt die Türen
Ich kann machen was ich will
Aber nicht so spät nach Hause, weil: Mutter macht sich Sorgen
Ach gut, da bist Du ja, und schleicht sich wieder.

Autoren sind Autoren sind Autoren
Verehrt, gefördert, besucht und bekocht.
Manche rollen laut den Berg hinunter.
Andere borgen sich immer Geld.
Eine hat ihren König getötet.
Einige trinken und suchen die Kronkorken auf unserem Teppich.
Eine hat so eine tiefe Stimme am Telefon.
Manche kommen nicht wieder.
Welche wollen die Welt erklären
und dabei Austern schlürfen.
Einer wollte mal meine Schwester heiraten.
Eine wird geliebt.
Maler sind auch nicht schlecht, aber Autoren –
Wenn die Texte gut sind,
darf sogar geweint werden.
Sonst doch eher lieber nicht.

Wann ist Ostern…

Tinka Wolf

 

 

„Ich habe nie Tagebuch geführt wie Christa“. Cornelia Geißler führt ein Interview mit Gerhard Wolf.

 

 

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Cornelia Geißler: Der Dichtergärtner
Berliner Zeitung, 15.10.2018

Fakten und Vermutungen zum Autor + ReclamIMDb + Kalliope
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