Gert Ueding: Zu Elisabeth Borchers Gedicht „Herbst“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Elisabeth Borchers Gedicht „Herbst“ aus Elisabeth Borchers: Wer lebt. –

 

 

 

 

ELISABETH BORCHERS

Herbst

Wie die Kirchtürme zittern im Licht
wir werden es nicht überleben.
Wie wir uns täuschen lassen
vom Licht, das die Türme bewegt.

 

Lautloses Beben

Im Zyklus der poetischen Jahreszeiten kommt dem Herbst eine zwiespältige Rolle zu. Er erscheint mit Rebe und Weinlaub, dem ganzen Füllhorn der Natur, mit Zauberfarben und Erntesegen. Doch ist das nur die eine Seite, die, gleichsam dem Sommer zugeneigt, seine Krone und Erfüllung zeigt. Es gibt auch den anderen lyrischen Prospekt: fallendes Laub, durch das der Herbstwind fährt, die kalten Abendnebel, kahle Stoppelfelder, die absterbende Pflanzenwelt, dazwischen Astern, die todkündenden Lieblingsblumen Ottilies (in den „Wahlverwandtschaften“) und Gottfried Benns.
Das eine ist das Inwendige des andern. Sehr früh, aber unvergeßlich hat mich einst der Naturkundelehrer davon unterrichtet, daß gerade die Früchte mit den schönsten, den gesündesten Farben im Zerfallsprozeß besonders weit fortgeschritten sind, denn er ist verantwortlich für die Verfärbung der Natur. Auf der Jahreszeitenuhr steht der Zeiger dann eigentlich auf Abend, der Zenit ist längst überschritten, ein Wechsel tritt ein. Die Parallele zum Lebensalter liegt nahe und wurde auch immer schon gezogen. Kein Herbstgedicht, das nicht zugleich aufs menschliche Leben zielt und manchmal durch dies hindurch auch auf das späte Weltalter.
Elisabeth Borchers’ Gedicht führt die Jahreszeit nur im Titel, die vertrauten Attribute fehlen sonst, allein das Licht könnte noch aus ihrem Kontext kommen. Ein Seh-Erlebnis in vier Versen: sie berichten vom Anblick zitternder Kirchtürme in jenem besonders klaren und stillen Herbstlicht, das (um es mit Worten Albin Zollingers zu sagen) durch gebrochene Lüfte fällt und daher jenen Eindruck des Zitterns hervorruft, dem beim Zuschauer der jähe Schrecken folgt und die augenblickliche Gewißheit, dieses lautlose Beben nicht zu überleben. Eine apokalyptische Vision, doch gleich darauf die Erleichterung, daß die Erde sich nicht bewegt, die Kirchtürme fest und sicher und wir selber mit beiden Beinen unerschüttert auf dem Erdboden stehen.
Wirklich kein Grund zur Beunruhigung? Wenn der Schein immer die Außenseite von etwas inwendig Verborgenem ist, was hat dann eigentlich für einen Augenblick derart erzittert, daß es nachbebt in der Empfindung? Wofür wird das optische Erlebnis zum Gleichnis, vor dem jede Beruhigung dann als die wirkliche Täuschung erscheinen muß? Manès Sperber berichtete von einem Erlebnis ähnlicher Art. Es geschah in der Provence, einer Landschaft von kräftigen Farben, noch dazu im Städtchen Apt; als er den Fuß aufs Trottoir setzen wollte, fiel er zu Boden:

Ich wußte, daß ich nicht gestolpert war, sondern einen Augenblick lang, in der Tat blitzartig, das Bewußtsein verloren und es wiedererlangt hatte, noch ehe ich auf den Boden fiel… Es war ein Signal…

Von einem solchen Signal handelt auch dieses kleine Gedicht, es kommt hier von außen, löst Erschütterung und Beschwichtigung aus, weil es als mahnendes Zeichen erlebt wird. Ein Herbsterlebnis anderer Art, als wir es sonst in Gedichten mit diesem Titel finden, und möglicherweise deutet der kleine apokalyptische Sprung darin noch auf eine andere, eine tiefere Hoffnungs-Schicht.
Ich komme darauf eines Bildes wegen, das von Caspar David Friedrich stammt; eine Sepiazeichnung, 1803 entstanden und im Besitz der Hamburger Kunsthalle. „Herbst“ heißt ihr Titel, und sie wirkt wie eine allegorische Illustration zu unserem Gedicht. In der linken Bildhälfte zeigt sie eine gewaltige schattige Gebirgslandschaft, rechts vorne einen Obelisken mit Sarkophag, und dazwischen führt ein Weg hinab ins sonnendurchglänzte Tal, wo fern, aber doch deutlich die Kirchtürme und Zinnen der Stadt sichtbar werden. Ein Paar geht Hand in Hand den Weg hinab, gleichsam vor dem Betrachter her, und lenkt dessen Blick durch die grüßende Gebärde auf den prächtigen Anblick weit vorne.
Herbstzeit als Lebenszeit und Weltzeit in eins gefaßt: die Melancholie des Abstiegs von den Gipfeln der Berge, des Niedergangs aus erhabener Höhe, des Verfalls und Welkens – doch dann die zitternden Türme im gleißenden Licht, jenseits von Schatten, Urne und Erniedrigung, der Widerschein des himmlischen Jerusalem, der Vorschein einer neuen Frühlingswelt, so daß der Anblick, der uns beben macht, gerade die Versicherung gegen den Tod bedeutet:

Wie wir uns täuschen lassen
vom Licht, das die Türme bewegt.

Gert Uedingaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988

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