Gertrud Fussenegger: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Briefwechsel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Briefwechsel“ aus Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. –

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Briefwechsel

Wenn die Post nachts käme
und der Mond
schöbe die Kränkungen
unter die Tür:
Sie erschienen wie Engel
in ihren weißen Gewändern
und stünden still im Flur.

 

Leiser Austausch

Sieben Zeilen, zwei Sätze; der zweite Satz wird aus dem ersten entwickelt, durch beide fließt der Irrealis und verbindet sie. Man kann das Gedicht in einem Atem sprechen, vielleicht will es auch so gesprochen sein. Eine leise Art zu bezwingen – immer schon hat Ilse Aichinger so bezwungen, sie hat sich immer in eine (ihre) unbestechliche Sanftmut zurückgezogen. Dort war sie – bei aller Verletzlichkeit – als Autor unverwundbar.
„Sie erschienen wie Engel.“ Hier bleibt das Gedicht stehen, es stellt sich, sozusagen, mit in die Reihe der Engel, als einer von ihnen, in „weißen Gewändern“, undeutlich schimmernd, schemenhaft. So steht der Engelschar „im Flur“. Im Flur, natürlich, dort pflegen wir ja unsere Post in Empfang zu nehmen. Der Flur – ein Raum in unserem Haus, doch ein Raum besonderer Art, ein Raum der Ankunft, des Eintritts, doch auch der Zugang in das Innere des Hauses, der Flur ist weitläufig, entsendet Treppen, ist immer von leichter Zugluft durchweht. Da stehen jetzt die Engel, diese Wesen aus Licht und Flügeln, poetisches Synonym für Sublimation. Woher kommen sie? Der Satz über die Engel zieht, so meine ich, seine Kraft und dichterische Bedeutung aus den ersten vier Zeilen: Wenn der Mond die Post brächte. Ein schöner Einfall! Wurde hier das Horn des Mondes zum Posthorn umgedacht? Ich glaube nicht. Eher ist das stille Herankommen des Boten gemeint, das Rätselhafte seines Auftritts. Er kommt – als Schicksalfigur, als Sachwalter von womöglich Unabwendbarem. Ganz leise kommt er, fast wie ein Dieb. Wen von uns hat das Unheimliche des Vorgangs noch nie berührt, wenn uns ein Brief, ein Telegramm, ja, auch nur eine Reklame unter die Tür gesteckt wurde?
So sehen wir hier die langen schmalen Umschläge wie von Geisterfingern hereingeschoben, die Rückseiten von den schiefen Kreuzen der Verschlüsse gezeichnet: Briefe? Die Dichterin hält sich nicht auf damit, von Briefen zu sprechen, sie spricht von Kränkungen. Welche Behauptung, welche Vorwegnahme! So kommen Kränkungen mit der Post, der stillen Mondpost, wirklich nur Kränkungen? Ist die Dichterin so sicher, daß jede Nachricht nur Enttäuschung bringt, daß keine etwas anderes anzeigt als Verlust?
Lange Leideserfahrung muß bei dieser Identifikation mitgewirkt haben: Aus der nächtlichen Welt raschelt nur Trauerbotschaft über unsere Schwelle. Freilich: gleich setzt neue Verwandlung ein, neuer Austausch. Die Kränkungen fliegen auf, werden zu Engeln, zum Anschein von Engeln, diesen Wesen aus Licht und Flügeln, entkörpert, sublimiert.
So ließe sich der Text einfangen in der Sentenz, daß sich Enttäuschung und Verlust umdeuten läßt in Trost und Segen? Keineswegs. Denn das Gedicht wahrt seine Freiheit im Irrealis. Es entzieht sich jedem Versuch indikativischer Verfestigung. So bleibt es für sich, leichtfüßig bewegt, zwischen Trauer, Hoffnung und Traum.

Gertrud Fusseneggeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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