Gino Hahnemann: Allegorie gegen die vorschnelle Mehrheit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gino Hahnemann: Allegorie gegen die vorschnelle Mehrheit

Hahnemann/Leiberg-Allegorie gegen die vorschnelle Mehrheit

ICH GEHÖRE KEINER GENERATION AN

ich gehöre keiner generation an
ich habe kein gewissen
ich kenne die stadt nur vom pflaster
bin eine ratte
und gehe auf brot

ich hasse
deutschland
deine vergangenheit
das ist ein schlechter anfang
und war noch nie am meer

unterm baldachin an der balustrade
nahe dem kai der geschliffenen messer
heimkehr der söhne
(ein pferd
find ich dich wieder)

kein spiegelbild heimat
ohne die gesichter der andern
ohne illumination aus doppeltem licht
ohne gemarkung elektrisch geladener seide

ein opferreliquiar
aus nordbahnhoftunnel
und kuschelkranker lagune

spiegelscherbe in deiner haut

später heißt es dann immer
venedig venedig

 

 

 

Durch das Auge des Fotografen sind seine Texte Zeremonien

fixierter Erfahrung. Gino Hahnemann, der zur „Generation der 80er“ gehört, ist einer der ersten, der die schwule Erfahrung in die Literatur des Landes (DDR) eingeschrieben hat. Seine fast ausschließliche Präsenz in den Zeitschriften des literarischen ‚Hintergrunds‘, wie „Schaden“ oder „Ariadnefabrik“, weist auf den schwierigen Ort dieses Anspruches wie auf die Selbstverständlichkeit des Agierens in einer autonomen Öffentlichkeit. Der ausgebildete Architekt Gino Hahnemann hat als Bühnenbildner, Fotograf, Filmemacher ( Video und Super 8 ) und Aktionskünstler gearbeitet. Doch Zentrum seiner künstlerischen Artikulation ist der Text, der zugleich Ausgangspunkt und Resultat der multimedialen Arbeit ist. Der Bildkünstler Gino Hahnemann denkt und arbeitet mehrdimensional, körperbetont, visuell. Die Stärken seiner Texte liegen dort, wo sie auf eine unmittelbare Körperlichkeit insistieren, wo sich Begegnungen, Gefühle, die Ambivalenz des Begehrens in einer kühlen Sprache, die sich zuweilen selbst thematisiert, wiederfinden.

Diese Sprache ist voller Energie, spröde, brutal und assoziativ. Gino Hahnemanns Text, die von sich aus Genre – und Körpergrenzen überschreiten, sind nicht kolonisiert im Gattungsmuster. Gedichte können Filme werden, Essays Drehbücher. Dies Verwischen der Grenzziehungen gehört zum Projekt einer sozialen und literarischen Selbstbefreiung.

Peter Böthig, Druckhaus Galrev Programmheft

 

Der jähe Zugriff aufs Innerste

… Auf der „Suche nach Freundschaft“ sind die Gedichte von Gino Hahnemann, der, in Jena geboren und in Berlin-Mitte lebend, bislang nur in „unabhängigen Zeitschriften“ veröffentlichen konnte; Galrev brachte nun einen Band von ihm, mit trefflichen Zeichnungen von Helge Leiberg. Unumwunden sprechen die Texte von gleichgeschlechtlicher Liebessehnsucht: „ach, meine könige, / meine ungezügelten jungen“, verspannen Hölderlin und Kreuzestod mit römischen Bädern, Nachtbus und Balletbesuch, lassen sich von der Illusion treiben: „jeder mensch ist / nur eine ergänzung des anderen“. Hahnemann arbeitet mit vielen Formen, am originellsten wohl mit dem Erzählgedicht, etwa „initialen in italien“.

Alexander von Bormann, Der Tagesspiegel, 8.12.1991

Sorgen, Sehnen, Segen

Warten auf Wunder! Nicht Tag und Nacht. Nicht Jahr um Jahr. Aber tagein, tagaus, nachts. So liebts und hälts Gino Hahnemann. Der dunkelste Typ der Prenzlauer Berg-Szene kommt vom Suchen und Sehnen nicht los. „immer“, sagt er, „feuer wie flamme“.
Auf Glühen und Lodern gefaßt, muß man sich schließlich mit Glimmen und Flimmern zufriedengeben. Die Nachtgesänge des Nachtgängers können Nachtschwärmer unterhalten und Frühzubettgeher nie erreichen. Der Szene-Künstler schillert nicht als Szenestar. Er ist kein Sprecher der Szene. Hahnemann kultiviert keinen Kult. Er kultiviert sich. Ungeniert beginnen seine Gedichte: „ich mußte…, ich bin…, ich gehöre…“ Die Person, das Persönliche, das Profane wird poetisiert. Zum Vorschein kommt ein Haus der Homosexualität. Vor dem stehen die Gedichte wie Gerüste, die Hahnemann mit seinem Hang zum Philosophieren aufstellte. Nicht, um das Haus zu stützen; um es zu schützen, stehen die Gerüste da. Auch eine Allegorie gegen die vorschnelle Mehrheit wie, philosophisch verbrämt, die Sammlung der Gedankengedichte überschrieben ist.
Gesetzt den Fall, Meinung läßt sich doch und dauerhaft machen, auch Hahnemanns Gedichte könnten Meinung machen. Könnten vorschnelle Meinungen der vorschnellen Mehrheit entmachten. Mit Hahnemann meldet sich Minderheit zu Wort. Er rechtfertigt Minderheit nicht mehr. Er formiert Minderheit nicht mehr. Er ghettoisiert die Minderheit nicht mehr. Er denkt und fühlt und handelt nicht minder, weil er nicht in Minderheit macht. Gelassen kann der Lyriker über die Kluft von Mann zu Mann sagen: „kein mann kann auf das werben eines anderen verzichten, deshalb verhöhnt er es.“ Das ist die Sprache des souveränen Schwulen. Der streicht nicht schuldbeladen durch die Straßen. Der trommelt nicht selbstbewußt zur Demo. Der schmiedet nicht aus Sexualität Solidarität. Er ist in seiner sexuellen Selbstverständlichkeit stark, die sein unteilbares Lebensgefühl ausmacht. Das ändert nichts an der Wahrheit, die lautet: „von mir können viele leben / und ich nicht von ihnen.“
Hahnemann huldigt keiner Homosexualität. Er spricht über Sorge, Sehnen, Segen des Homosexuellen. In allen Gedichten ist der Hauch der Heimatlosigkeit. Die ist nun wahrlich nicht nur das Geschick und Schicksal der/des Homosexuellen. Aber wer hat dafür das erforderliche feine Gespür und wer dann die Fähigkeit, es zu formulieren wie Gino Hahnemann in seinen Gedichten? Für sich. Für andere. Immer wartend auf Wunder.

Bernd Heimberger, Neue Zeit, 11.9.1991

Der Band versammelt Gedichte und Stücke

einer rhythmisierten Prosa, die unübersehbar in die Tradition der klassischen Moderne gestellt wurden, also mit jener Unbestimmtheit arbeiten, die Wolfgang Iser vor vielen Jahren als Funktionsmerkmal modernder Dichtung bestimmte. Neben eher einfachen strophischen Formen stehen langzeilige freie Verse und Simultangedichte, deren Partikel wechselseitig auf einander verweisen. Homosexualität ist das dominierende Thema des aus Jena stammenden Autors und des „Ichs“ dieser Texte, das auf der Suche nach Erregungen die Welt durchstreift, „auf kurs“ bleibt, „die hand / in der hose des vordermanns“ („allegorie gegen die vorschnelle mehrheit 8“). Vor allem Stricher und eine nach der Wiedervereinigung mögliche Erweiterung des Lebensraums und das erotisch hochkonnotierte Italien kommen zur Sprache. Ein Italien der schwulen Phantasie, Thomas Mann, Pasolini und Visconti sind allgegenwärtig. Die schönsten Stücke des Bandes – „tod in venedig“, „Lido“, „stazione termini“ – handeln ironisch von der Kluft zwischen diesem Italien und Italien. In „valerio“ posiert das „Ich“ als Baron Gloeden und bittet den Knaben Valerio, sich nackt fotografieren zu lassen. Vallerio will das nur, wenn auch der Fotograf sich auszieht: „ich tue es. / mit prüfendem blick kommt er näher, schnappt sich meine sachen und / verschwindet durch die büsche. / dass in rom nur fotoapparate geklaut werden, kann ich nicht bestätigen.“ Die Perspektiven wechseln, mal redet ein sich an die Knaben verlierendes Ich („ach, meine könige“), mal lässt Hahnemann die Jungen selbst sprechen: „laß dir doch zeit / nimm was du brauchst / hol einen runter / kenn keine scham // akzeptier meinen preis / schaffe dir lust / bezahl auch das taxi / ruf mich wieder an // heute noch / ein major / und einer vom kreis / kulturkabinett // dan such ich mir / was / nach meinem geschmack.“ (allegorie gegen die vorschnelle mehrheit 5“) Auffällig ist Hahnemanns Affinität zu lyrischen Formen, in denen die Wortgestalt in Bedeutungsschichten zerlegt wird, der Zeilenfall semantische Einheiten auflöst (manchmal die Wörter selbst) und sich aus der zerbrechenden Form Bedeutungspartikel lösen, die neu montiert werden: „am märchen brunnen vor dem königs tore / spielen die schwulen gestiefelt / kater brüderchen zu schwester schnnee / wittchen & die sieben zwerge (…) („kein prinz ein märchen“). Die moderne Erfahrung der Homosexualität wird von Hahnemann regelmäßig mit mythischen und historischen Erfahrungen aufgeladen. Ein obsessiv dargestelltes Thema ist der Widerspruch zwischen maßhaltender schwuler Realität und den maßlosen schwulen Wünschen. Im Prosastück „das ghetto ist zu klein für uns beide“ schneidet Hahnemann zwei Handlungsstränge gegeneinander und führt sie schließlich zusammen. Parallel zu einem realistisch erzählten Treffen des Erzählers mit Thomas in der Ostberliner Schoppenstube findet eine in Sex- und Gewaltexzessen kulminierende phantasmagorische Saunaorgie statt, an der Axel ein Freund des Erzählers teilnimmt. Während oben vernünftige Unterhaltungen über den Homosexuellen in der Gesellschaft geführt werden, läuft unten in de Sauna alles nach der Logik des Begehrens ab: „lederne echsen, zusammengewachsene tierische leiber, auf den alten zu. er zittert. der zigeuner löst sich aus der umarmung, dreht die duschen auf. diphenylchlorarsen bis das feuer erlischt. der bleiche junge hebt einen am boden liegenden schlauch, faltet zwei windungen, droht damit dem vater. der flieht auf die verkohlenden sitzreihen. der bleiche junge schlägt seinen vater tot. die holzroste brechen zusammen. der bleiche junge klettert zurück in axels richtung. stößt an ihn, drückt axels schwanz in seinen arsch, zieht ihn mit sich zu boden. die fossilien schlitzen den nabel des alten auf. blut schwimmt zum abfluß. der zigeuner badet darin.“ In Wirklichkeit siegt die Wirklichkeit: „thomas gebe ich nur die hand, bis morgen, sagt er, meine mutter lädt dich zum essen ein. er hat gesiegt.“

Dirck Linck, lexikon homosexuelle belletristik

 

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Gino“.

 

Gino Hahnemann liest eigene Gedichte.

 

Gino HahnemannSeptember September (1986).

 

Gino Hahnemanns letztes Gedicht, gelesen von Barbara Schnitzler am 3.3.2009.

 

Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz. Tagebücher von Gino Hahnemann. Buchvorstellung und Lesung am 3.3.2009 im Literaturforum im Brecht-Haus.

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